2. Die Quellen
Inhaltsverzeichnis Unser Wissen von der Geschichte Jesu ist begrenzt. Eine Begrenzung ist es schon, daß wir die Urteile der Gegner nicht unmittelbar vernehmen: denn von nichtchristlichen Zeugnissen über Jesus ist uns nur weniges erhalten, und dieses wenige ist interessant, fügt aber dem Bilde, das wir aus christlichen Quellen gewinnen, nichts Wesentliches hinzu (siehe unten Nr. 1). Unter den christlichen Quellen stehen die Evangelien des Neuen Testaments im Vordergrund; von den außerbiblischen christlichen Nachrichten über Jesus haben wir nur Bruchstücke. Die Evangelien der Bibel aber sind nicht literarische Schriften, deren Verfasser auf Grund von Erfahrung und Erkundung das Wirken Jesu selbständig darstellen. Sie sind weder modernen noch antiken Biographien zu vergleichen; und darin liegt eine weitere Einschränkung unseres Wissens (Nr. 2). Sie haben viele Fragen, deren Beantwortung wir von einem geschichtlichen Lebensbilde Jesu erwarten würden, überhaupt nicht behandelt. Das Johannes-Evangelium ist zwar eine selbständige Leistung, hat es aber nicht in erster Linie auf die Vermittlung geschichtlicher Kunde abgesehen. Die drei anderen Evangelien aber sind Sammlungen von Überlieferung - und zwar im wesentlichen der gleichen Überlieferung, nur in verschiedener Ausformung, Anordnung und Rahmung. Diese Überlieferung enthält Worte Jesu und Geschichten von ihm. Und dabei wird eine dritte Begrenzung unseres Wissens bemerkbar. Sie liegt darin, daß hier nicht fortlaufende Geschichte berichtet wird, sondern einzelne Geschichten erzählt werden - und dies in der Weise des Volkes, des frommen Volkes, das Taten Gottes bewundern und nicht sich menschliche Zusammenhänge überlegen will (Nr. 3). Es liegt dieser Erzählungsweise fern, kritische Fragen aufzuwerfen und zu untersuchen, ob und warum dies hätte geschehen oder jenes hätte gesagt werden können. Unser sicheres Wissen von der Geschichte Jesu beruht also auf dem, was die ersten Gemeinden von dem Leben ihres Meisters überlieferten, und ist begrenzt durch die Eigenart dieser Überlieferung.
1. Die nichtchristlichen Zeugnisse von Jesus sollen trotzdem hier genannt werden, weil immer einmal die Frage auftaucht, ob sie nicht anderen und besseren Bericht von Jesus gäben als die Evangelien. Das mit Recht berühmteste unter ihnen steht in den Annalen des Tacitus (XV 44), die nach 110 entstanden sind; hier wird erzählt, wie Nero sich zu der Beschuldigung verhält, die ihm selber den Brand zur Last legt: "um nun dem Gerücht ein Ende zu bereiten, wußte Nero Schuldige zu erfinden und mit den härtesten Strafen zu bedenken; es waren die ohnehin wegen allerlei Schändlichkeiten verhaßten Leute, die beim gemeinen Volk Chrestianer hießen. Der Name hängt zusammen mit einem ,Christus", den der Prokurator Pontius Pilatus unter der Herrschaft des Tiberius hatte hinrichten lassen. Trotz solcher augenblicklichen Schwächung kam der verderbliche Aberglaube wieder auf, und nicht nur in Judäa, wo diese Plage entstanden war, sondern auch in Rom, wo alles, was schimpflich und schändlich ist, aus der ganzen Welt zusammenströmt und gern gepflegt wird". Was in diesen Worten nicht Kritik (an den Christen und an der Stadt Rom) ist, sondern geschichtliche Mitteilung, das konnte Tacitus wohl von jedem römischen Christen ums Jahr 100 erfahren. Wir brauchen also nicht nach besonderen Quellen zu suchen; sehr gut könnten sie auch nicht gewesen sein, da Tacitus den Namen Jesus gar nicht kennt und Christus offenbar für einen Eigennamen hält. Den Namen verändert das Volk, wenn es die Anhänger des jüdischen Propheten als Chrestianer bezeichnet; dieses durch den bekannten Namen Chrestus nahegelegte Mißverständnis ist auch sonst bezeugt. Wenn wir es als verbreitet annehmen, können wir auch bei einem anderen römischen Historiker eine Erwähnung Jesu finden. Sueto-nius erzählt in seinem etwas später als die Annalen des Tacitus geschriebenen Werk "Über das Leben der Kaiser" (V 25, 4), daß Claudius "die Juden, die auf Veranlassung des Chrestus beständig Unruhen erregten, aus Rom auswies". Wenn diese Nachricht etwas mit dem Christentum zu tun hat, so handelt sie von Unruhen, die durch das Eindringen des Christentums in die römische Judenschaft verursacht wurden. Sueton hätte dann in diesem Zusammenhang den Namen Christus vernommen, ihn als Chrestus gedeutet und als Bezeichnung eines römischen Juden mißverstanden.
Auch aus jüdischen Quellen ist nicht viel zu gewinnen. Der jüdische Geschichtsschreiber dieser Zeit, Josephus, erwähnt in seinem "Altertümer" genannten Werk (XX 9, 1) die Steinigung des "Bruders Jesu, des sogenannten Christus, Jakobus war sein Name". Das ist nicht auffallend. Josephus, der in Rom um 90 schrieb, mußte wissen, daß man den Heiland der Christen "Christos" nannte, als ob dies ein Eigenname wäre; für ihn als Juden war es aber die Übersetzung des Titels "Messias" und mußte darum mit dem entwertenden Zusatz "sogenannt" versehen werden. Gerade wenn man diese vorsichtige Haltung des Josephus versteht, kann man ihm die Worte nicht zuschreiben, die an anderer Stelle des gleichen Werkes (XVIII 3, 3) das Auftreten Jesu beschreiben. Denn dort heißt es u. a.: "dieser war der Messias" (griech. ,Christos') und "am dritten Tage erschien er ihnen wieder lebend, was ja samt vielem anderen Wunderbaren die göttlichen Propheten von ihm gesagt hatten". Liest man vollends am Anfang dieser Stelle "Jesus, ein weiser Mann, wenn man ihn überhaupt einen Mann nennen darf", so kann kaum zweifelhaft sein, daß hier ein christlicher Einschub vorliegt oder mindestens eine christliche Überarbeitung. Ob es sich um das eine oder das andere handele, wird immer wieder gefragt. Die Entscheidung ist aber für unsere Betrachtung ohne Belang; denn selbst wenn wir genau wüßten, daß Josephus an dieser Stelle auch im ursprünglichen Text von Jesus gesprochen habe, könnten wir doch den Wortlaut nicht rekonstruieren; wir kennen nur Josephus-Handschriften, die den vollen christlich klingenden Text enthalten. Es gibt übrigens noch eine slawische Übersetzung des anderen Geschichtswerkes des Josephus, des "Jüdischen Krieges", die an einigen Stellen Jesus erwähnt. Da aber die wichtigste Stelle von jenem christlichen Zeugnis in den "Altertümern" abhängig zu sein scheint, ist auch hier keine alte geschichtliche Kunde zu gewinnen. Endlich ist noch des großen, in Jahrhunderten entstandenen jüdischen Überlieferungswerkes, des Talmud, zu gedenken, der ein paar Anspielungen auf Jeschu ha-Noçri und seine Schüler enthält (z. B. er sei am Rüsttag des Passa gehängt worden, Babylon. Talmud, Traktat Sanhedrin 43a). Aber da es sich hier nur um letzte Nachklänge von Geschichtlichem, und sogar auch um Verwechslungen und Verzerrungen handelt, kommt der Talmud als Quelle für das Leben Jesu nicht in Betracht.
2. Wir sind also auf die christlichen Zeugnisse über Jesus angewiesen. Nun hat es zweifellos mehr Berichte von Jesu Worten und Taten gegeben als im Neuen Testament enthalten sind. Der Evangelist Lukas, der das Johannes-Evangelium noch nicht kannte, redet von "vielen" Vorgängern und meint damit doch nicht nur Matthäus und Markus. Und bis in die jüngste Zeit hinein werden immer neue Bruchstücke entdeckt, die Sammlungen von Worten Jesu oder Erzählungen aus seinem Leben enthalten. Auch werden in Schriften der Kirchenväter Titel anderer Evangelien und Zitate aus ihnen angeführt (in deutscher Übersetzung bei Hennecke-Schneemelcher, Neutest. Apokryphen I, 3. Aufl., 1959). Aber was diese "apokryphen" Texte von Jesu Leben erzählen, widerspricht häufig den feststellbaren Verhältnissen des Landes Palästina; zum Teil erscheint es auch als Deutung oder Ausarbeitung des Inhalts unserer biblischen Evangelien. Was die erwähnten Zeugnisse an Worten Jesu mitteilen, ist wertvoller. Wir finden da gelegentlich ein Wort, das nach Form und Inhalt den biblischen Sprüchen Jesu an die Seite gestellt werden darf. Wir finden vor allem Parallelen zu diesen Sprüchen, die zeigen, daß die Worte Jesu in verschiedenen Formen umliefen; der Vergleich ermöglicht es uns bisweilen, die älteste Form und den ursprünglichen Sinn eines Spruches festzustellen.
Wenn das außerbiblische Material unsere geschichtliche Kenntnis von Jesus auch nur selten unmittelbar bereichert, so gewährt es uns doch einen Einblick in die Geschichte der Überlieferung. Deren wesentlichste Zeugen freilich sind und bleiben, auch angesichts aller neuen Funde, die drei ältesten Evangelien des Neuen Testaments, nach Matthäus, Markus und Lukas genannt. Was sie enthalten, ist im wesentlichen Tradition gleicher Art, d. h. es sind Geschichten aus Jesu Leben, Gleichnisse, die er erzählt hat, Sprüche und Spruchgruppen, in denen er sein Evangelium predigte, und am Schluß die Passions- und Ostergeschichte. Und häufig ist nicht nur die allgemeine Art dieselbe, sondern es ist auch der Text der einzelnen Stücke in den verschiedenen Evangelien eng verwandt, so daß sich die Unterschiede als Abwandlungen desselben Typs verstehen lassen. Dies zu veranschaulichen, kann man die Texte jener drei Evangelien in drei Spalten nebeneinander setzen; man erhält dann eine Zusammenschau oder Synopse, und dementsprechend redet man von diesen Evangelien als den synoptischen und von ihren Verfassern als den Synoptikern. Die Verwandtschaft zwischen ihnen erklärt sich also zunächst daraus, daß sie alle drei die gleiche in den Gemeinden - schriftlich oder mündlich - aufbewahrte Tradition vom Leben und Sterben Jesu sammeln, ordnen und in die Form einer zusammenhängenden Darstellung bringen wollten. Sie taten das in verschiedener Weise, aber ohne die Absicht, etwas Neues, Eigenes zu schaffen; sie waren also mehr Redaktoren als Autoren. Aber...