Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Mittagsmörder
Er überfällt Banken und Geschäfte, immer zur gleichen Zeit. Die Menschen fürchten ihn, denn er tötet, ohne zu zögern. Er muss dafür büßen, länger als jeder andere
von FELIX HUTT
Nach neunundvierzig Jahren, acht Monaten und fünfundzwanzig Tagen im Gefängnis darf Klaus G. gehen. Es ist der 26. Februar 2015, acht Uhr morgens. Reif liegt auf den Feldern um die JVA Straubing. G. ist vierundsiebzig Jahre alt, er hat weiße Haare, hört schlecht und braucht eine Brille. Mit dem jungen Mann, der die einhundert Meter unter zwölf Sekunden sprinten konnte, hat er nichts mehr gemein. Mit dem Mörder will er nichts mehr gemein haben.
»Ich habe für meine Schuld bezahlt«, sagt er, »aber dreißig Jahre Knast hätten auch gereicht.«
Kein Häftling in Deutschland saß länger ununterbrochen ein und kam frei. Wenn G. von seinem Rekord erzählt, klingt er stolz. Es ist das erste Mal, dass er mit einem Journalisten über sein Leben redet. Er will es erklären, aber ihm fehlt die Fähigkeit, sich distanziert zu betrachten, zu reflektieren. G. brachte Anfang der 60er-Jahre in und nahe Nürnberg fünf Menschen bei Überfällen um. Einen weiteren Doppelmord gestand er, widerrief das Geständnis aber. Er beging seine Taten mittags. Die Jagd nach dem Mittagsmörder beschäftigte Ermittler der Kriminalpolizei Nürnberg, des Bundeskriminalamts in Wiesbaden und von Interpol. Die Menschen in Franken lebten über mehrere Jahre in Angst vor dem nächsten Überfall. Der Mittagsmörder zögerte nicht. Er schoss sofort und traf. »Der Fall des Klaus G. imponiert insofern, als er kriminologisch als Serienmörder einzuordnen ist, der aber ungewöhnlicherweise nicht sexuell motiviert war, sondern die Taten jeweils im Rahmen von Raubüberfällen beging«, schrieb Hans-Ludwig Kröber, ehemaliger Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Berliner Charité, vor fünf Jahren in einem Gutachten über G.
Als G. an dem Donnerstagmorgen im Februar 2015 seine Zelle verlässt, denkt er nicht an das, was er das letzte halbe Jahrhundert verpasst hat. An die Familie, die er nicht gegründet hat. An Armstrongs Mondlandung, Deutschlands Fußballweltmeisterschaften, den Mauerfall. An die Weihnachten, an denen keine Post kam. An die verlorenen Sommer, die er, der Naturfreund, hinter dem vergitterten Fenster von Zelle 69 auf Station A2 im zweiten Stock von Haus 1 betrachten musste. G. denkt: »Ätsch! Jetzt geht nichts mehr, ihr Bazis, ich bin gleich weg.«
G. hat in den Tagen zuvor sein Leben in zehn Umzugskartons verstaut. Er hat die Sophia Loren und seine Ölgemälde vom Rhein von der Wand genommen. Er hat seine Sportschuhe eingepackt, seine Violine, die Aktenordner, den Umschlag mit den Fotos. G. hinterlässt seine Zelle, 3,80 Meter lang, 2,90 Meter breit, wie er sie vorgefunden hat. Leer.
Er bekommt an der Gefängniskasse sein Überbrückungsgeld ausgezahlt, 1300 Euro, verabschiedet sich von der Abteilungsleiterin und der schwarzhaarigen Sozialarbeiterin mit dem südländischen Aussehen. G. schaut lieber blonde Frauen an, aber die ist nett. Im Hof wartet der Leiter des Heims, in dem G. von nun an leben wird. Sie packen die Kartons in den Kombi. G. steigt ein, winkt kurz, dann verlassen sie durch das Südtor die JVA Straubing. »Was in diesen Augenblicken in mir vorging, das kann ich gar nicht berichten«, sagt er. Niemand wartet auf ihn. Seine Eltern sind tot, sein Bruder will nichts von ihm wissen. G.s erster Wunsch in Freiheit: »Ich möchte eine Sinalco trinken.«
Konrad Adenauer ist Bundeskanzler und der Kassettenrekorder noch nicht erfunden, als Klaus G. seine zweite Bank überfallen will. Er ist zweiundzwanzig Jahre alt und wohnt bei seiner Mutter in Hersbruck bei Nürnberg. Bei seinem ersten Überfall am 13. Juli 1961 auf die Sparkasse in Leinburg hat er 3280 Mark erbeutet. Niemand ist zu Schaden gekommen. G. hat sich von dem Geld einen VW Käfer gekauft. Der Banküberfall erscheint ihm eine leichte Form des Gelderwerbs zu sein. »Von Anfang an hat mir vorgeschwebt, die Leute zu berauben, aber nicht am laufenden Band zu töten«, sagt G.
Er fährt am 10. September 1962 gegen zehn Uhr mit seinem grauen VW Käfer, Kennzeichen IN-M 258, nach Ottensoos, ein Dorf, zehn Kilometer von Hersbruck entfernt. Für seine Überfälle wählt er Sparkassen in kleinen Orten östlich von Nürnberg, nicht weiter als eine halbe Stunde von Hersbruck. Er frühstückt mit seiner Mutter, isst mit ihr zu Abend und mordet zu Mittag. Er kennt die Wälder und Feldwege. Rast mit seinem Moped oft durchs Gehölz, macht Schießübungen, wo ihn niemand sehen und hören kann.
Er steigt am Bahnhof auf ein Motorrad, das er für den Überfall gestohlen hat. Er ist froh, dass es nicht regnet. In einem Wald montiert er ein falsches Kennzeichen. Er zieht seinen Lumberjack aus, eine olivfarbene Windbluse und darüber eine braune Jacke an. Nach einer halben Stunde erreicht er Ochenbruck.
Er hat die Sparkasse in Ochenbruck ausgekundschaftet, die Fluchtroute geplant. Wenn ihn die Polizei verfolgen sollte, will er in den Wald, wohin sie mit ihren Autos nicht kann. G. trägt in einem Brusthalfter eine Walther PPK, in seiner Aktentasche eine Walther P38. Er wartet vor dem Möbelgeschäft nebenan, bis er sicher ist, dass keine Kunden in der Bank sind. G. betritt gegen 12 Uhr den Schalterraum. Er legt dem Bankangestellten Erich H. einen Geldschein zum Wechseln auf den Tresen. Als der sich umdreht, um das Wechselgeld zu holen, zieht G. seine Waffe: »Treten Sie zurück, wehren Sie sich nicht!«, ruft er. Angeblich gehorcht H. nicht. G. schießt dreimal auf ihn. H. stirbt an einem Herz-, einem Kopf- und einem Bauchdurchschuss. G. steckt die 3060 Mark, die auf dem Zahltisch liegen, in seine Aktentasche und verschwindet. Außer ihm gibt es keine Zeugen. G. beschreibt den Mord so:
Er zögerte kurz, und dann erschien auf einmal ein hinterhältiges Lächeln auf seinem Gesicht. Gleichzeitig langte er mit seiner rechten Hand zu einem Fach des Schaltertischs. Für mich nicht einsehbar. Ich vermutete, dass er dort eine Pistole liegen habe und sie ergreifen würde. In diesem Moment war ich total verunsichert. Wenn ich bei ihm tatsächlich eine Pistole sehen würde, war es bei dem Anblick bereits zu spät für mich. Im selben Augenblick würde bereits auf mich geschossen werden. Ich zögerte nicht länger und gab auf mein Gegenüber aus zwei Metern einen Schuss ab. Ich traf. Aber vor lauter Nervosität drückte ich ein weiteres Mal ab, und auch dieses Geschoss traf. Ich sah, wie die beiden Schüsse dem Mann wehtaten, der aber nicht zusammenbrach. Dass ich einen dritten Schuss abgab, bekam ich gar nicht mit. Auf einmal brach der Sparkassenangestellte zusammen. Der Vorfall tat mir leid. Aber andererseits vermochte ich diesen Mann nicht zu verstehen. Was soll man den Leuten denn noch vor die Nase halten, damit sie klein beigeben?
Im Mai 2015, zwei Monate nach seiner Entlassung, beginnt Klaus G. seine Biografie zu schreiben (aus jenem Manuskript stammen die kursiven Einschübe in diesem Text). Er fühlt sich wohl in dem Heim in Oberbayern, einer christlichen Einrichtung, die ehemalige Straftäter und Menschen beherbergt, die allein nicht klarkommen. Er ist hier nicht der Mittagsmörder, sondern der Klausi, der mit der vierjährigen Tochter einer Mitbewohnerin spielt. Abends schaut er Volksmusiksendungen, am liebsten mag er Uta Bresan und Maxi Arland. »>Tatort< gucke ich nie, das ist mir zu unrealistisch. Dass sich da zwei gegenüberstehen, die Pistolen aufeinander richten und reden, das gibt es nicht. Im echten Leben gewinnt der, der zuerst schießt«, sagt G. Vom Balkon seines fünfzehn Quadratmeter großen Zimmers kann er die Berge sehen. Im Winter bewundert er die Schneefelder, nachts den Großen Wagen. Im Gefängnis wurden die Zellenfenster mit gelbem Licht bestrahlt, wenn es dunkel wurde, damit die Wärter sehen konnten, wenn ein Häftling an den Gittern sägte. Die Sterne hat G. vermisst. Er schreibt jeden Tag eine Seite auf seiner Schreibmaschine, einer Triumph Gabriele 35, die ihm seine Mutter vor zwölf Jahren ins Gefängnis gebracht hat. Nach einer Seite ist er erschöpft. Er heftet die Blätter in einen blauen Herlitz-Ordner. Im Dezember 2015, kurz vor Weihnachten, ist er fertig. »Meine Verbrechen und die Haft - Klaus G.« schreibt er auf den Umschlag, mit Bleistift, damit er den Titel noch ausradieren und ändern kann.
Auf den 120 Seiten des Manuskripts rechtfertigt, aber entschuldigt er sich nicht. Er will sich in die Gesellschaft reintegrieren, aber argumentiert sich ins Abseits. G. beschreibt nach einem halben Jahrhundert seine Taten ohne Empathie. Er schildert seine Morde als logische Folge von missglückten Abläufen, die nicht anders zu bewältigen waren als mit der Knarre. »Ich treffe noch heute eine Streichholzschachtel auf zwanzig Meter«, rühmt sich G. und fordert im nächsten Satz Vergebung. In den Begegnungen mit ihm muss man die Irrationalität seiner Aussagen und seines Wesens hinnehmen. Widerspruch schätzt der Widersprüchliche nicht besonders.
G. sieht sich nicht als Mörder. Die Morde sind ihm passiert. Sein Leben passiert ihm. Hätte ihm die Mutter die Beziehung mit dem ersten Mädchen nicht kaputtgemacht, weil es ihr nicht gebildet genug schien. Hätte sie ihn doch Revierförster werden lassen. Hätten sich die bösen Mächte nicht gegen ihn verschworen - dann hätte er nie eine kriminelle Karriere beginnen müssen. G. gibt die Verantwortung für sein Leben an die Umstände ab, die nicht schlechter sind als für...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.