Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Was Alice am meisten daran bedauerte, kein echter Mensch mehr zu sein, war der Umstand, dass sie nicht mehr weinen konnte. Mehr als ein Jahr war nun vergangen, seit Alice einem Biter mit Hasenohren in ein Loch im Erdboden gefolgt war und damit Ereignisse auslöste, die ihr Leben und das aller anderen im Totenland grundlegend veränderte. Ereignisse, die zur Errichtung einer völlig neuen Ansiedlung geführt hatten, einer Siedlung, wie sie die Welt seit den Tagen des Ausbruchs nicht mehr gesehen hatte. Tausende Menschen waren aus dem Totenland in das ehemalige Delhi geströmt, um dort in einer großen Gemeinschaft zusammenzuleben. Einer Gemeinschaft, in der es Gesetze, Sicherheit und für jedermann ein Dach über dem Kopf gab. Eine Gemeinschaft, in der man nicht jede Nacht in Angst vor marodierenden Bitern oder der Roten Garde zubringen musste. Eine Gemeinschaft, die mittlerweile einfach nur als das Wunderland bekannt war.
Die Kosten für ihren Sieg waren hoch gewesen. Tausende waren im Kampf gegen die Rote Garde im Totenland umgekommen, und hunderte weitere bei den Luftschlägen, die gestartet wurden, als man Alice gefangen nahm. Und auch Alice hatte einen hohen Preis bezahlen müssen. Sie hatte ihre gesamte Familie verloren und ihre Identität dazu. Sie war nicht länger das aufgeweckte fünfzehnjährige Mädchen, das ihr Vater abgöttisch liebte. Sie war jetzt die Königin des Wunderlandes, jemand, zu dem die Menschen mit Ehrfurcht und Angst aufsahen. Als halber Biter würde sie sich nie wieder an Essen erfreuen, denn sie benötigte keine Nahrung mehr. Sie würde nie wieder von ihrer Familie träumen, denn Biter träumten nicht, und wenn sie an all das zurückdachte, was sie verloren hatte, konnte sie nicht einmal mehr weinen, um ihren Schmerz zu lindern, denn auch das war einem Biter fremd.
Für ihre Gegner war Alice eine ernst zu nehmende Gegnerin geworden, mit dem Training und den kampferprobten Instinkten der besten menschlichen Soldaten, aber auch mit der scheinbar unerschöpflichen Ausdauer und Unempfindlichkeit gegenüber einem Großteil an Verletzungen - mit Ausnahme eines direkten Kopfschusses - für den ihre Biterhälfte gesorgt hatte. Für ihre menschlichen Gefolgsleute stellte sie so etwas wie einen Messias dar; jemand, der sie aus dem Totenland gerettet und ihnen die Hoffnung zurückgegeben hatte, wieder wie zivilisierte Menschen leben zu können. Für die Biter, die ihr folgten, war sie die Anführerin ihres Rudels, der sie sich mit tierischem Instinkt und Unterwürfigkeit beugten.
Doch für sie selbst war sie noch immer Alice Gladwell, Tochter und Schwester einer ermordeten Familie. Sie hatte sich an der Roten Garde gerächt, und was als persönliche Vendetta begann, war zu etwas viel Größerem geworden. Alice hatte sich nie selbst als Anführerin gesehen, doch sie wusste, dass nun mehr als zehntausend Menschen im Wunderland von ihr abhängig waren. Ganz gleich, ob sie die Last einer Führungsrolle jemals tragen wollte oder nicht - nun war ihr dieses Amt zugefallen, und sie war entschlossen, die Menschen, die sich auf sie verließen, nicht im Stich zu lassen.
Das meiste ihres noch jungen Lebens hatte sie mit Kämpfen verbracht und ihre Ausbildung bestand aus wenig mehr als zu lernen, wie man kämpft und im Totenland überlebt, doch heute würde Alice etwas tun, das sie noch nie zuvor getan hatte. Sie würde die erste Schule des Wunderlandes einweihen.
Ein Raunen ging durch die Menge der mehr als tausend versammelten Menschen, als sie das behelfsmäßige Podium betrat. Arjun, ihr Vertrauter und treuer Berater, hatte diesen Ort mit dem für ihn typischen Sinn für Humor ausgewählt. Die Schule befand sich dort, wo früher einmal der Zoo Delhis gewesen war.
»Bewohner des Wunderlandes, ich danke euch, dass ihr gekommen seid. Ich selbst habe nur wenig Bildung genossen, außer dem, was für ein Überleben im Totenland notwendig war, doch jetzt werden unsere Kinder wieder das lernen, was ihnen vor dem Ausbruch gelehrt worden war, und eines Tages werden sie es sein, die unsere Welt nach diesem Vorbild wieder aufbauen werden.«
Tosender Applaus brandete auf, doch als Alice von ihrem Podium heruntertrat, fühlte sie sich ein wenig leer. Sie wusste kaum etwas über das Leben vor dem Ausbruch, und obwohl sie stolz war auf das, was sie zusammen erreicht hatten, fragte sie sich, ob sie im Wunderland wirklich noch gebraucht wurde. Sie hatte keine Ahnung, wie man eine Stadt mit all ihren Zänkereien um Wasservorräte oder romantische Affären leitete. Sie sehnte sich nach der Kameraderie in ihrer alten Siedlung, wo jeder jeden gekannt hatte, und nicht nach der Anonymität des städtischen Lebens in Delhi; jener Stadt, deren Zentrum früher einmal die Regierung eines Landes beherbergt hatte und in dem sich nun die Menschen in ihre Appartements zurückzogen.
Sie sah ein junges Paar, das sich an den Händen hielt, und wendete ihren Blick ab. Das war eine weitere Erfahrung, die sie nie teilen würde. Sie war jung und menschlich genug, um zu bedauern, nie das Gefühl von Liebe erfahren zu haben, aber sie war auch Biter genug, um diese Gefühle nicht zu spüren. Ihr Aussehen tat dann noch sein Übriges.
Als sie in ihr Zimmer in jenem Bauwerk im Herzen Delhis zurückkehrte, welches früher einmal das Rote Fort gewesen war, holte Arjun sie ein.
»Alice, wir haben diese Woche wieder Patrouillen in den Norden des Wunderlandes ausgesandt, aber die Menschen fangen an, sich über die Patrouillen zu beschweren. Sie sagen, dass sich seit Monaten keine Rotgardisten mehr gezeigt haben.«
Alice sah ihn an und musste mit Bestürzung feststellen, dass selbst er bei ihrem Anblick leicht zusammenzuckte. Ihr schelmisches Lächeln und ihre leuchtenden Augen waren längst verschwunden und von einem ausdruckslosen, gelblichen Schimmer und einer Haut ersetzt worden, die zu verwesen schien und einen fauligen Geruch verströmte. Sie wandte sich von ihm ab, um seinen Gesichtsausdruck nicht länger ertragen zu müssen.
»Arjun, die Leute werden fett und träge. Sie vergessen, dass diese Sicherheit mit Blut erkämpft wurde und dass der Kampf vor ihren Appartements noch immer tobt und uns eines Tages wieder ereilen wird.«
Arjun war ihrer Meinung, das wusste sie, aber sie wusste auch, welcher Druck auf ihm lastete. Über den Krieg zu reden galt nicht länger als besonders beliebt. Nach ihren lähmenden Verlusten im Kampf hatte die Rote Garde die Kontrolle über das Totenland im Norden Indiens so gut wie verloren. Hin und wieder tauchte ein Kampfjet hoch oben am Himmel auf, doch sie hielten stets großen Abstand, wohl wissend, dass das Wunderland über eine starke Luftabwehr verfügte, die von erfahrenen ehemaligen Soldaten von ZEUS bedient wurden, einer Söldnerarmee, die im Auftrag des Zentralkomitees gestanden hatte, bis sie eines Tages meuterten und man die Rote Garde vom chinesischen Festland einbestellte.
Wie so oft in diesen Tagen schwang sich Alice auf ihr Motorrad und fuhr allein hinaus, durch das ausgetrocknete Flussbett des Yamuna und bis zu dem Waldgebiet, welches nun den Bitern vorbehalten war. Irgendwer hatte einmal angemerkt, dass es an die Tierreservate aus der Zeit vor dem Ausbruch erinnerte, und Alice hatte gespürt, wie sie dieser Kommentar verletzte. War sie bereits so sehr ein Biter, dass sie sich mit ihnen verbundener fühlte als mit den Menschen? Sie fuhr weiter und ihr blondes Haar wehte hinter ihr her. Das war eine Sache an ihrem Körper, die sich nicht verändert hatte, nachdem sie zu dem Hybriden wurde, der sie nun war.
Unterdessen war die Sonne untergegangen und Dunkelheit legte sich über die Wälder. Alice erspähte ein paar ihr wohl vertrauter Umrisse. Der, der ihr am nächsten war, trug Hasenohren auf dem Kopf, hatte einen eigentümlichen, schlurfenden Gang und sein linker Arm war unterhalb des Ellbogens von einer Granate der Roten Garde abgerissen worden. Der andere war ein schwergewichtiger Biter mit einem Hut. Wenn Alice die Anführerin des Rudels darstellte, waren Hasenohr und der Hutmacher ihre Adjutanten. Nach ihrer Transformation war ihr bewusst geworden, dass die Biter zwar nicht in einer menschlichen Form miteinander kommunizieren konnten, sich aber wie Tiere verständigten und über eine starke Rudelmentalität verfügten. Den Krieg im Totenland zu beenden bedeutete nicht nur, die Rote Garde solange zu bekämpfen, bis die Auseinandersetzungen zum Erliegen kamen, sondern auch einen Weg zu finden, wie Biter und Menschen zumindest miteinander auskommen, wenn nicht sogar zusammenarbeiten konnten. Um das zu erreichen, war sie Führerin des Rudels geworden. Nun befehligte sie eine Armee von tausenden Bitern, die vor ihr aus dem dunklen Wald auftauchten und niederknieten.
Alice hielt in ihrer linken Hand ein altes, verkohltes Buch. Es war das letzte Buch des Totenlandes und das erste Mal war sie ihm in einer Untergrundbasis begegnet, wo es sich im Besitz der Königin der Biter befunden hatte. Das Buch hieß »Alice im Wunderland«. Die Königin war der Überzeugung gewesen, dass es eine Prophezeiung enthielt, die Welt zu erneuern, und das Alice dazu bestimmt war, diese Prophezeiung zu erfüllen. Nun, da Alice an ihrer Fähigkeit zu lesen gefeilt hatte, verstand sie die zufälligen Übereinstimmungen, welche die Königin dazu gebracht hatten, an diese Prophezeiung und Alices Rolle darin zu glauben. Alice hatte keine Ahnung, ob an dieser angeblichen Prophezeiung wirklich etwas dran war, aber zwei Dinge wusste sie genau: Zum einen war dies vielleicht das einzige und letzte Buch im Totenland, zumindest bis sich jemand hinsetzte und ein neues schrieb, und das machte es zu einem kostbaren Gegenstand, den es zu bewahren galt. Und zum anderen flößte dieses Buch den...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.