Schweitzer Fachinformationen
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Sarah Marten eilte durch den strömenden Regen. Der Bus war ihr vor der Nase abgefahren, und sie hatte keine Geduld gehabt, auf den nächsten zu warten. Das war ein Fehler gewesen. Bereits nach einer Minute war sie klatschnass. Sie wich entgegenkommenden Leuten aus, stapfte über das notdürftig geteerte Teilstück einer Baustelle. Eine Windbö hatte ihr den Schirm umgeknickt. Sarah versuchte, ihn im Laufen wieder in die richtige Form zu biegen, doch es war zwecklos. Ein Metallstäbchen brach, der Stoff riss. Verärgert stopfte sie den Knirps in die Manteltasche. Auf den letzten Metern legte sie einen Spurt ein und wurde buchstäblich vom Wind auf den Parkplatz der Autowerkstatt geweht.
Ihr reparierter Nissan stand zwischen einem Geländewagen und einem hohen Zaun. Sarah quetschte sich in den schmalen Spalt und schloss die Fahrertür auf. Als sie einsteigen wollte, verkeilte sich der Griff des Schirms im Maschendraht. Ungeduldig zerrte sie daran. Die Manteltasche riss. Sarah ließ den Schirm im Zaun stecken, zwängte sich auf den Fahrersitz und zog die Tür zu.
In zehn Minuten musste sie im Lindengarten sein. Das Wohnheim lag am anderen Ende der Stadt, niemals würde sie es rechtzeitig schaffen. Dass sie spät dran war, hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Normalerweise empfing sie am Samstagmorgen keine Patienten, doch ihr Exmann hatte so lange gedrängt, bis sie eingewilligt hatte. Seit sechs Jahren waren sie geschieden, und noch immer endeten die meisten Auseinandersetzungen damit, dass Sarah klein beigab. Wie sollte sie ihren Patienten zu Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen verhelfen, wenn sie noch nicht einmal ihre eigenen Muster durchbrechen konnte?
Sie schüttelte die Tropfen aus ihrem Haar und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze. Wenn die Wohngruppe schloss, bevor sie im Heim ankam, würde man Rebekka in einer anderen Gruppe unterbringen, das war nicht weiter schlimm. Vermutlich würde man die zusätzlichen Stunden nicht einmal berechnen.
Rebekka hat kein Zeitgefühl, hörte Sarah die Leiterin des Lindengartens sagen. Aber stimmte das wirklich? Dass ihre Schwester nicht verstand, wozu eine Uhr gut war, bedeutete nicht, dass sie die Verspätung nicht bemerkte. Rebekka hatte ein Gespür für Ereignisse, die sich wiederholten. Sarah dachte daran, wie ihre Mutter den Rollstuhl ans Fenster geschoben hatte, wenn sie aus der Schule kam. Schon von Weitem hatte Sarah die gekrümmte Gestalt hinter der Scheibe erkannt. Wenn sie die Stufen zur Haustür hochstieg, veränderte sich Rebekkas Haltung. Ihr Kopf, der immer leicht schräg nach unten hing, hob sich wie eine Blüte, die sich der Sonne entgegenstreckte.
Sarah startete den Motor, fuhr aus dem Parkplatz und reihte sich in die Kolonne auf der Hauptstraße ein. Wo wollten all die Menschen hin? Samstagmorgen, und der Verkehr war fast so dicht wie an einem Arbeitstag.
Im Schritttempo kroch sie Richtung Stadtmitte. Einfamilienhäuser machten Wohnblocks Platz, statt Gärten gab es schmale Rasenstreifen, dann nur noch Asphalt. Sie kam an einem neuen Supermarkt vorbei, im Schaufenster glitzerte bereits Weihnachtsschmuck. Ein Lieferwagen vor ihr setzte den Blinker, um in eine Tiefgarage einzubiegen. Der Nissan zitterte leicht, als spürte er den Drang, dem Vordermann nach rechts zu folgen. Sarah nahm den Fuß vom Gas. Der Wind fegte braune Blätter über die Frontscheibe, einige blieben am Scheibenwischer kleben. Die Straße führte steil den Hang hinab, in der Ferne war die Europabrücke zu erkennen. Der Verkehr war jetzt weniger dicht, Fußgänger gab es kaum. Sarah fuhr auf eine grüne Ampel zu, da wechselte das Licht auf Gelb. Sie trat auf die Bremse.
Erneut zog der Wagen nach rechts, diesmal stärker. Mit beiden Händen umklammerte Sarah das Lenkrad. Eine böse Ahnung beschlich sie. Als sie anfuhr, ließ sie das Fenster herunter. Tatsächlich hörte sie ein Geräusch, das nur von einem kaputten Reifen stammen konnte. Sie bog in die nächste Seitenstraße ein.
Den Nagel entdeckte sie sofort. Einen Moment blieb sie im Regen stehen und starrte auf den silbernen Punkt. Auch das noch. Sie setzte sich in den Wagen und holte ihr Handy hervor, um die Nummer des Lindengartens zu wählen. Das Display blieb schwarz.
Ungläubig starrte Sarah auf das Telefon. Wie war das möglich? Seit jeher bestand ihr Leben aus festen Abläufen, vorgegeben durch Rebekkas Bedürfnisse, später durch jene ihres Sohnes und ihrer Patienten. Jeden Abend schloss sie das Telefon ans Ladegerät an.
Resigniert ließ sie das Gerät in die Tasche zurückfallen und öffnete den Kofferraum. Sie breitete das Werkzeug aus und machte sich im strömenden Regen an die Arbeit. Die Reifen sahen erstaunlich neu aus. Sie hatte sich noch überlegt, sie diesen Winter zu ersetzen, jetzt war sie froh, dass sie sich dagegen entschieden hatte.
Die letzte Mutter klemmte. Sarah stemmte ihr ganzes Gewicht gegen den Schraubenschlüssel, doch es nützte nichts. Sie schlug mit dem Handballen gegen das Werkzeug. Als die Radmutter nachgab, verlor Sarah das Gleichgewicht. Ihre Knie schlugen auf den harten Boden, ihre Schulter prallte gegen die Karosserie. Der Schraubenschlüssel fiel mit einem Scheppern auf den Asphalt.
Sarahs Finger schmerzten vor Kälte. Die Versuchung, in den Wagen zu kriechen und einfach die Augen zu schließen, war groß. Sie riss sich zusammen. Das hatte sie früh gelernt. Ihre Eltern hatten ihre ganze Aufmerksamkeit auf Rebekka gerichtet, für Sarahs vergleichsweise kleinen Probleme war wenig Raum geblieben.
Sie griff nach dem Wagenheber.
Eine halbe Stunde später war das neue Rad montiert, Sarah triefend nass, das Werkzeug verstaut. Mit klammen Händen startete sie den Motor und drehte die Heizung auf. Sie fragte sich, was noch schieflaufen konnte, erreichte den Lindengarten aber ohne weiteren Zwischenfall.
Der Empfang des Wohnheims war am Wochenende nicht besetzt. Sarah eilte am geschlossenen Kabäuschen vorbei, winkte einem Bewohner, der wie immer neben dem Philodendron am Eingang saß. Ihre Sohlen quietschten auf dem grünen Linoleum, von ihrem Mantel tropfte Wasser. Seit neun Jahren ging sie jeden Samstag diesen Weg, kannte das Gebäude so gut wie das Arbeiterhaus, in dem sie aufgewachsen war und nun mit ihrem Sohn lebte.
Wie erwartet war die Wohngruppe in der dritten Etage bereits geschlossen. Trotzdem ging Sarah zu Rebekkas Zimmer. Bevor sie nach ihrer Schwester suchte, wollte sie sich vergewissern, dass alles gepackt war. Letzte Woche hatte die Praktikantin die Katheterbeutel vergessen, einmal sogar das Anticholinergikum, das Rebekka regelmäßig einnahm.
Sarah stieß die Tür auf. Das vertraute Gemisch von Kamillenshampoo, Desinfektionsmittel und Arnika-Massageöl schlug ihr entgegen. Der Geruch hing im verlassenen Zimmer wie ein Geist. Plötzlich hatte sie ein Bild vor Augen, das sie beunruhigte. Sie sah, wie sie den Schrank leer räumte und Kleidungsstücke aussortierte, die Rebekka nie mehr tragen würde. Die Vorstellung, ihre Schwester zu verlieren, war schmerzhaft, starr blickte Sarah auf das Foto, das über dem Bett hing. Zwei Paar grüne Augen, die in die Kamera schauten. Gerade Nasen, geschwungene Augenbrauen, Wangengrübchen. Hier hörte die Ähnlichkeit auf. Während Rebekkas Zopf in der Sonne glänzte wie Flachs, leuchteten Sarahs Locken im Licht orangerot. Rebekkas zierliche Gestalt verschwand fast im Rollstuhl, Sarah hingegen sah mit ihren langen Armen und Beinen aus wie eines der überdimensionierten Strichmännchen, die ihr Sohn als Kind gezeichnet hatte. Im Hintergrund spiegelten sich die Berge auf der Oberfläche eines Sees. Sie war zweiundzwanzig gewesen, als das Foto aufgenommen wurde, Rebekka sechsundzwanzig. Ihre letzten Ferien zu viert. Ein Jahr später starb ihr Vater.
Schon wieder dachte Sarah an den Tod. Sie schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihr? Es ist die ungewohnte Leere, sagte sie sich. Der fehlende Rollstuhl, die Stille, die über der Wohngruppe liegt. Rasch ging sie zum Schrank und öffnete die Tür. Ihr Blick fiel auf eine Sporttasche. Sie kniete sich hin, öffnete den Reißverschluss. Eine Wollmütze, Handschuhe, ein Katheterbeutel, Reservekleider, ein Necessaire. Alles, was Rebekka fürs Wochenende brauchte. Warum stand die Tasche im Schrank? Sie sollte am Rollstuhl hängen.
Sarah verließ das Zimmer und ging nach unten. Als sie die Wohngruppe auf der zweiten Etage erreichte, hörte sie Stimmen. Aus dem Essraum drang das Klappern von Geschirr. Vesna, die schon seit sechzehn Jahren im Lindengarten arbeitete, kam ihr mit einem Servierwagen entgegen.
»Sarah!« Vesna starrte sie an. »Du siehst aus, als wärst du hergeschwommen.«
Unwillkürlich fasste sich Sarah an den Kopf. Die Haarspange, mit der sie ihre Locken zu zähmen versuchte, war weg. Der Regen hatte ihre Frisur in ein Durcheinander verwandelt. Garfield unter Strom, sagte ihr Sohn in solchen Momenten.
»Reifenpanne«, erklärte Sarah.
Vesna schüttelte mitleidig den Kopf. »Und jetzt auch noch etwas vergessen?«
»Vergessen?«, wiederholte Sarah.
»Ich dachte, du wärst noch mal zurückgekehrt. Stimmt etwas nicht?«
Sarah öffnete den Mund, es dauerte aber einen Augenblick, bis die Worte kamen. »Ich bin erst jetzt angekommen. Ist Rebekka nicht bei euch?«
Vesna runzelte die Stirn. »Nein, warum?«
»Oben in der Gruppe 3 ist niemand mehr, ich dachte . bist du...
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