Schweitzer Fachinformationen
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Diese verfluchte Stunde zwischen drei und vier Uhr! Die Augen brannten.
Die Müdigkeit juckte am ganzen Körper. Und vier lange Stunden lagen noch vor ihm, bis die Ablösung kommen würde. Bernd stellte seinen Feldstecher auf das Fensterbrett und betrachtete sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Übernächtigt sah er aus, die blonden Haare standen fettig ab. Er schüttelte sich. Als er sich umdrehte, sah er, dass Unterleutnant Beyer schon wieder schlief. Eigentlich müsste er ihn wecken. Doch Beyer war EK1 , so wie Bernd würde er in drei Monaten nach Hause gehen. Auch Beyer hasste den Dienst an der Grenze. Waren sie alleine auf dem Turm, klagte er an manchen Tagen, dass er sich für so lange verpflichtet hatte. Nur wegen des Studiums sei das geschehen, und nun könne er im Oktober nicht einmal seine gewählte Studienrichtung einschlagen.
Bernd holte aus seiner Drillichhose das Bandmaß heraus, ließ es hoch und runter schnippen. Noch einundneunzig Tage, dann würde er wieder zu Hause sein. Und was hatte er davon? Nichts! Gaby hatte vor einem Jahr mit ihm Schluss gemacht. Seitdem hatte er nie wieder ein Mädchen gehabt. Wollte sich nicht unnütz belasten, sagte er zu den Freunden. Doch an manchen Tagen, wenn wieder keine Post für ihn da war oder er die Freude auf den Gesichtern der anderen sah, wenn sie nach Hause fuhren und wussten, dass ihre Mädchen auf sie warteten, fehlte ihm eine Freundin.
Unterleutnant Beyer räusperte sich im Schlaf. Seine feuerroten dicken Haare standen wie Unkraut von seinem Kopf ab. In der Kompanie lästerten sie über ihn, denn nie bekam er seine Haare gebändigt, und sein Gesicht verfärbte sich bei jeder Notlüge tiefrot. Bernd stand mit ihm gerne Dienst auf der Führungsstelle. Denn Ire, wie sie ihn nannten - er betonte immer, wieder irische Vorfahren zu haben - war ein ruhiger Typ, der keinen Stress machte wie die anderen Zugführer und Unteroffiziere, die sofort Alarm auslösten, wenn der Spurstreifen einmal nicht ordentlich geeggt worden war.
Bernd kühlte seine Stirn am Fensterglas. Die Dämmerung brach herein und ließ die Grenzanlagen undeutlich hervortreten. Vor ihm lag der Schutzstreifen. Vor zwei Wochen war der Roggen geerntet worden. So konnte er deutlich den drei Meter hohen Metallgitterzaun in der Morgendämmerung erkennen. Der KFZ-Sperrgraben war nicht zu sehen, doch der Kolonnenweg zeichnete sich wie ein helles Band ab. Hier oben von der Führungsstelle ging der Blick weit in das Land hinein. Nach drüben. Noch immer beschlich ihn ein seltsames Gefühl, wenn er mit dem Fernglas das Gebiet westlich der Grenze streifte. Er fühlte sich eingeengt, spürte manchmal eine Art Sehnsucht, einmal auf der anderen Seite zu sein. Er würde wiederkommen, wollte dort nur einmal den Boden berühren, der doch genauso aussah wie hier. Das Verbotene reizte so sehr. Natürlich hatte er mit niemandem darüber gesprochen. Bernd war klar, dass überall Spitzel zwischen ihnen saßen. Er griff nach dem Fernglas, fokussierte und beobachtete das nahe und doch so ferne Land. Es sah genauso wie hier aus: Wiesen, kleinere Ackerflächen, die von einem Landweg durchschnitten wurden. Unweit des Zaunes befand sich auf der Westseite ein hölzerner Beobachtungsturm, der manchmal von Schulklassen oder Rentnern angesteuert wurde. Mit Ferngläsern starrten sie dann herüber. Wenn Bernd gerade Postendienst hatte und Streife ging, fühlte er sich wie ein Tier im Zoo. Zum Glück waren diese Streifengänge seltener geworden, und er stand nun als EK öfter auf der Leitstelle seinen Dienst.
Inzwischen war die Sonne im Osten hinter den Bäumen aufgegangen. Nebelschwaden standen in den Senken der Wiese.
Der Tag würde schön werden. Plötzlich spürte Bernd die verbrauchte Nachtluft. Schwer stand sie im Raum, roch nach Schweiß und machte müde. Er klappte das Fenster an, atmete tief durch. Gleich sechs. Noch zwei Stunden, dann würde die nächste Wache aufziehen.
Der Ire schnarchte laut auf, räusperte sich. Bernd grinste, wollte ihn wecken. Doch er ließ ihn dann in Ruhe. Er kramte in seiner Beintasche und holte einen dünnen Band heraus. Es war Plenzdorfs " Die neuen Leiden des jungen W.". Natürlich durfte er nicht im Dienst lesen, sondern sollte allzeit wachsam sein, wie Oberleutnant Heinze, ihr Politoffizier, immer wieder betonte. Gerade seine Schicht war zur erhöhten Gefechtsbereitschaft vergattert worden, denn wieder einmal sollte ein Sowjetsoldat desertiert sein. Bernd hatte nur müde gelächelt, denn in zu auffallender Regelmäßigkeit kam dies vor. Niemand glaubte mehr dieses Märchen, vielleicht die Neuen. Aber er?
Bernd liebte das Buch. Wie Edgar Wibeau wollte er sein: Frei, alles wegwerfen. Kein Dienstplan, der sein Leben einteilte, keine Befehle. Einfach loslaufen, ohne Ziel, den Erdboden unter den nackten Füßen spüren, den schweren Duft des Waldbodens atmen, das Wasser eines Bergsees trinken. Frei sein! Und ungebunden! Er liebte dieses Buch schon lange, denn grenzenlos frei wollte er schon immer sein. Junge Pioniere, FDJ, GST. Immer war er bedrängt worden, hatte nie frei entscheiden können, hatte sich uniformieren müssen. Ob Pioniertuch, Blauhemd, GST-Kluft. Nun, an der Grenze, war dies am schlimmsten.
Seine Gedanken kamen beim Lesen langsam zur Ruhe. Er hatte den dünnen Band schon oft gelesen. Die einfachen, doch so stimmigen Sätze waren wie Medizin für ihn. Fast süchtig war er nach dem Text.
Die Zeit glitt ruhig dahin. Kein Anruf vom Stab. Hauptmann Markwart, ihr Kontrolloffizier, hatte wohl wieder seinen Morgenkater, denn heute war Donnerstag, und Mittwochabend war der obligatorische Skatabend mit den Offizieren des Stabes.
Unterleutnant Beyer schnarchte. Bernd las; und mehr einem Reflex folgend sah er auf und stutzte. Im frühen Licht der Sonne, zwischen Nebelschwaden, fuhr jemand mit einem Fahrrad auf dem Landweg drüben, auf der anderen Seite. Bernd griff nach dem Glas. Es war ein Mädchen, vielleicht auch eine junge Frau, ihre blonden, langen Haare wehten. Sie hatte nur ein Shirt an und kurze Hosen, obwohl der Morgen noch kühl war. Bernd versuchte ihr Gesicht zu erkennen. Doch die junge Frau war schon zu weit entfernt, er ...
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