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Während in Thomas Manns erzählerischem und essayistischem Frühwerk kirchliches Leben und kirchliche Repräsentanten aus entschieden skeptischer Distanz geschildert werden, respektvoll zwar gegenüber den geistigen Lebensformen des Bürgertums, aber doch verlachend gegenüber dem seiner Ansicht nach Veralteten und Überständigen einer ihm nicht mehr glaubhaften Tradition - während also die Institutionen des Christentums ihre Autorität für ihn weitgehend eingebüßt haben, machen sich in den poetologischen Essays Auffassungen geltend, die weitgehend im Rahmen neuromantischer Kunstreligion zu verstehen sind.[14]
Da ist etwa der umfangreiche Versuch über das Theater von 1908. Da bereits 1907 ein Teil daraus unter dem Titel Das Theater als Tempel abgedruckt wurde, wird deutlich, dass es hier im Wesentlichen um den Hohepriester des Tempeltheaters in Bayreuth geht. Das Theater als Tempel: diese Formel bezeichnet den Kern von Richard Wagners Kunstreligion; »sein [des Theaters] Ehrgeiz, ein Tempel zu sein, wird immer wieder erwachen«, schreibt Thomas Mann, »und er ist gut in seinem Wesen gegründet«.[15] Dieses grundlegende »Wesen« des Theaters leitet sich aus seinem Ursprung ab: das Theater will deshalb wieder Tempel werden, weil es in seinem Beginn Tempel war.[16] Weil von Anfang an zu seinem Wesen »Symbolik und Zeremoniell« gehört haben, braucht es in Wagners letztem Musikdrama nur »einen Schritt weiter noch, oder kaum noch einen Schritt, und wir haben die szenische Handlung an dem Punkte, wo sie rituell und Weiheakt wird, wir haben das Theater auf seinem Gipfel - nämlich auf dem Hügel von Bayreuth, wir haben das Schauspiel dort, wo es >Parsifal< heißt .« Da ist »der Kultus in Form von Taufe, Fußwaschung, Abendmahl und Monstranzenthüllung auf die Bühne zurückgekehrt«.[17]
Dem Anschein nach ist also in Bayreuth das Theater nach Jahrtausenden wieder zu seinen Ursprüngen zurückgekehrt, ist die Trennung von Kunst und Religion überwunden. Aber schon die Ironie in Thomas Manns Rhetorik deutet an, dass der Schein trügt: In Bayreuth habe, so schreibt er, das Theater »nach Jahrtausenden zum zweiten Male - wenigstens die Miene eines Nationalaktes und künstlerischen Gottesdienstes angenommen: wobei der Verdacht, daß dieses Bayreuth doch schließlich nur der Ausdruck höchsten Künstlerehrgeizes [.] sei, freilich nicht ganz zu unterdrücken ist«.[18] Zwar sei es Wagner »gelungen, [.] sein Theater zu einer Weihestätte, einem [.] Haus der Mysterien zu machen«,[19] aber letztlich sei das vermeintliche Mysterium doch wieder nur moderne Kunst gewesen, der künstlerische Gottesdienst nur Götzendienst am Künstler. Denn wie geht es zu, wenn die Gemeinde gläubig den Tempel betritt? In dieser Schilderung wird der Essay fast zur Satire:
Und so macht man sich denn auf zur Tempelbude [.]. Man wirft sich in Schwarz, man hat Gesellschaftsfieber. Es trifft sich möglicherweise schlecht, man ist vielleicht müde, verstimmt, ruhebedürftig; aber man hat sechs Tage vorher unter bedeutenden Opfern an Zeit und Bequemlichkeit sein Billett von einem Beamten erstanden und ist gebunden. Man wallfahrtet per Droschke zur Gnadenstelle. Man kämpft den Kampf der Garderobe [.]. Und dann dort oben das Ideal, zu dem man, rasch trunken von Musik, emporstarrt [.].[20]
Der Spott gilt allein der Praxis der »Weihestätte«, nicht der grundsätzlichen Legitimität ihrer Forderung. Im Gegenteil. Das Tempel-Kapitel wird beendet mit einer emphatischen Prophezeiung:
Eine Kunst der Sinnlichkeit und des symbolischen Formelwesens (denn das »Leitmotiv« ist eine Formel, - mehr noch: es ist eine Monstranz, es nimmt eine fast schon religiöse Autorität in Anspruch) führt mit Notwendigkeit ins Zelebrierend-Kirchliche zurück, - ja, ich glaube, daß die heimliche Sehnsucht, der letzte Ehrgeiz alles Theaters der Ritus ist, aus welchem es bei Heiden und Christen hervorgegangen. Kirche und Theater, so weit auch ihre Wege auseinander gegangen sind, so sind sie doch stets durch ein geheimes Band verbunden geblieben; und ein Künstler, der, wie Richard Wagner, gewohnt war, mit Symbolen zu hantieren und Monstranzen emporzuheben, mußte sich schließlich als Bruder des Priesters, ja, selbst als Priester fühlen.[21]
Noch in Leiden und Größe Richard Wagners 1933 werden diese Formulierungen nahezu wörtlich wieder auftauchen. 1907 aber leitet Thomas Mann daraus eine Zukunftsvision ab, die weit über Bayreuth hinausreicht: Es scheine ihm »nicht mehr unmöglich, daß in irgend einer Zukunft, wenn es einmal keine Kirche mehr geben sollte, das Theater allein das symbolische Bedürfnis der Menschheit zu befriedigen haben würde -, daß es die Erbschaft der Kirche antreten und dann allen Ernstes ein Tempel sein könnte«.[22] Wohlgemerkt: in irgendeiner Zukunft.
In der bildungsbürgerlich trivialisierten Gegenwart scheint das weit entfernt. Wo also wäre die kunstreligiöse »Weihestätte« jetzt zu suchen? Die Antwort gibt der große Essay Bilse und ich, der zuerst in einer Zeitung und dann als eigenes Bändchen erscheint - das, mit den Worten Hans Rudolf Vagets, »zentrale Dokument seiner Poetik«.[23] Was als Selbstrechtfertigung gegen juristische und familiäre Anfeindungen nach den Buddenbrooks begann, mündet in Reflexionen über Kunst und Leben und über die Erlösung eines hässlichen Lebens durch die schöne Kunst. Das liegt an den Gewährsmännern Schopenhauer und Nietzsche, denen zufolge der Künstler ein für sich genommen bedeutungsloses Daseinsmaterial zu gestalten, es so zu unterwerfen und die Kunst als Lebenskritik auszuüben habe. Aber es hat auch mit dem von Nietzsche scharfsinnig analysierten Kunstpriester Wagner selber zu tun. Thomas Manns Essay proklamiert nicht nur eine ontologische Überlegenheit des Kunstwerks über das Leben, sondern auch eine neue Variante jener Kunstreligion, um die es bei Wagner und in Nietzsches Wagner-Kritik ging. Eine Zeitlang hat Thomas Mann ernstlich daran gedacht, diesen Essay zusammen mit dem Versuch über das Theater zu veröffentlichen. Denn gemeinsam ist beiden Texten die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Kunst als eines modernen Erlösungsmysteriums. Das Tempeltheater hat sie einstweilen verfehlt - der Roman aber kommt ihr zumindest nahe.
Das zeigt sich in einem close reading, das die scheinbar beiläufigen Metaphern ernst und beim Wort nimmt. Im Verlauf von Bilse und ich nämlich treten immer mehr Begriffe und Bilder in den Vordergrund, die religiöser Sprache entlehnt sind. Jeder dieser für sich genommen scheinbar bloß redensartlich zitierten theologischen Begriffe wird eingeschmolzen in eine produktionsästhetische Reflexion - mit der Folge, dass dabei die Ästhetik eine eigentümlich religiöse Aura erhält. Das sind zunächst die konventionellen Bestimmungen des Dichters als eines schöpferischen alter Deus. Darüber hinaus aber entfaltet und variiert der Text spezifisch christliche Denkfiguren. Indem einige anfangs beiläufig erscheinende Schlüsselwörter leitmotivisch wiederholt und beim Wort genommen werden, rückt schließlich die Gestalt des Dichters selbst metaphorisch in die Position eines leidenden Erlösers ein. So werden die Vorwürfe mangelnder Erfindungsgabe, narzisstischer Gefühlskälte und Rücksichtslosigkeit umgedeutet in Tugenden einer durch Selbstzucht, ja Selbstopfer bewirkten Läuterung, als Heilung einer defizienten Lebenswirklichkeit.
Durch seinen »Odem« vollbringt der Künstler eine »Beseelung« seiner »Geschöpfe« und macht sie »zu seinem Eigentum«, auf das fortan »niemand die Hand legen darf«[24] - so wie der Brudermörder Kain vom Herrn als sein Eigentum gezeichnet wird, damit niemand ihn erschlage. Dabei steigt der Dichter als souveräner Schöpfer hinab in die Sphäre des Stofflichen, und er »identifiziert« sich dort »mit seinen Geschöpfen«, er macht sie sich zu eigen, nimmt sie in sich auf. Damit werden sie ihrerseits verwandelt in das, was er »Emanationen des dichtenden Ich« nennt (so wie die neuplatonische Schöpfungsmystik die geschaffene Welt als Emanation des Schöpfers beschrieb). Diese Verwandlung vollzieht sich nun auch, ja am auffallendsten dann, wenn es sich um »ein widriges und entsetzliches Wesen« handelt. Was damit entsteht, nennt Thomas Mann das »innere Einswerden« von Schöpfer und Geschöpf. Für das widrige Geschöpf bedeutet es eine Erhöhung, für den Schöpfer eine Erniedrigung - oder, mit einem zweiten Schlüsselwort des Essays: »Schmerz«. Der »Schmerz des Erkennens und Gestaltens« macht für den Künstler »jedes Erleben zu einem Erleiden«. Dieses »Leiden« nennt Thomas Mann sein »Martyrium« und dann sogar ausdrücklich: seine »Passion«. Sie ist unumgänglich, man könnte sagen: heilsnotwendig. Denn allein »das Werk, das ein Künstler in Schmerzen tat«, »rechtfertigt« seinen Ehrgeiz. Wäre es bloß im Vorübergehen gesagt, dann wäre das Verb >rechtfertigen< im Sinne von >legitimieren< zu verstehen. In diesem Kontext aber, und durch Kursivdruck hervorgehoben, soll es seinen theologischen Ursprung durchscheinen lassen. In dieser Kunstreligion geht es noch immer um die Rechtfertigung des...
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