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Hannos letzter Morgen begann unspektakulär. Er begann jedoch eine halbe Stunde früher als gewöhnlich, als gegen 5 Uhr draußen auf dem Hof ein Riesenlärm losbrach. Einer der Blecheimer schepperte über das Kopfsteinpflaster, und dann fiel noch irgendetwas um, das etwas weniger Krach machte. Vielleicht eine Mistgabel? Oder ein Besen? Lauter als dieses leise Fallen und sogar lauter als der Blecheimer war das Kreischen der beiden Katzen. Vermutlich waren es zwei. Welche Katzen es waren, konnte Hanno aus dem Bett heraus natürlich nicht sagen. Er konnte sie anhand ihrer Stimmen nicht voneinander unterscheiden. Er konnte sie kaum anhand ihres Aussehens oder ihrer Größe unterscheiden. Nur die Grundtöne fielen ihm auf: schwarz, grau, braun.
Seine Familie besaß etwa ein Dutzend Katzen. Aber auch aus der Nachbarschaft kamen häufig welche herüber auf den Hof, um sich mit den Ackermann-Katzen um Mäuse und um Reviere zu streiten. An diesem Dezembermorgen stritten sie ausgesprochen heftig. Hanno war wach, und das galt garantiert auch für den Rest der Familie: für seine Eltern, für Melanie und für ihre Kinder Ann-Kathrin, Tobias und Ben. Alle schliefen zum Hof hinaus und alle schliefen jahrein, jahraus bei offenem Fenster. Trotz Kälte, Sturm oder Katzenjammer. Echte Bauersleute halt. Man lebte in einem Dreigenerationenhaus und man war abgehärtet.
Um 5.30 Uhr saß Hanno unrasiert, aber angezogen, am Küchentisch und schwieg sich wie üblich erfolgreich durch das kurze Frühstück mit Melanie. Nur ab und zu musste er zustimmend brummen, wenn seine Frau ihn nach Kaffee und Broten für den langen Vormittag auf dem Feld fragte. Es waren ohnehin jeden Morgen die gleichen Fragen. Und auch die gleichen Antworten.
Gerade als Hanno fertig war, schlurfte Heinrich Ackermann in die Küche und nickte seinem Sohn und seiner Schwiegertochter zu. Auch der Senior war am frühen Morgen kein Mann großer Worte. Er setzte sich zu seinem Sohn und fragte: »Südacker?«
Ein weiteres zustimmendes Brummen war die einzige Antwort seines Sohnes.
Der sogenannte Südacker, auf dem Hanno hauptsächlich Zuckerrüben anbaute, war das jüngste Stück Land der Familie Ackermann und es war das erste, das Hanno erworben hatte, nachdem sein Vater ihm den Hof überschrieben hatte. Brachland, das man Anfang der 90er-Jahre günstig kaufen konnte. Günstig vor allem, weil es, nun ja, gewissermaßen historisch vorbelastet war. Bis 1989 teils Niemandsland, teils Grenzstreifen, teils sogar Todesstreifen. Dahinter kam damals nur noch »drüben«, die Ostzone oder Dunkeldeutschland, offiziell die Deutsche Demokratische Republik gleich DDR.
Heute lag dahinter Sachsen-Anhalt. Der erste Ort bei den Anhaltern hieß ausgerechnet »Hessen«. Hanno war nicht oft dort gewesen. So richtig erinnern konnte er sich nur an eine Gelegenheit. Weihnachten 1989 war das ganze Dorf in einer langen Prozession nach Hessen marschiert, bewaffnet mit Blumen, Kuchen, Bananen und guten Wünschen für die neu entdeckten Nachbarn. Im Saal der größten Kneipe in Hessen wurde zur Grenzöffnungsfeier geladen. Die Leute drängten sich hinein. Es gab DDR-Bier, in enorm großen Gläsern und pausenlos. Aus den Lautsprechern erklang Verdi, der Gefangenenchor aus Nabucco. »Flieg, Gedanke. Freiheit, Heimat, Sehnsucht, Gebete.«
Die beiden Bürgermeister tanzten miteinander Walzer. Für Hannos Dorf tanzte damals noch Hans-Werner Behrens. Ein netter Kerl. Jetzt war sein unmittelbarer Nachbar Bürgermeister: Jochen Wettenstedt, ein Bauer, genau wie Behrens. Und wie Hanno.
Weihnachten 1989 war alles noch ein Versprechen. Auf friedliches Nebeneinander. Sogar friedliches Miteinander? Füreinander? Hallo, jetzt aber mal nicht übertreiben! Vor allem ein Versprechen auf Freiheit! Nee, ist klar, Herr Gauck! Die Wiedervereinigung war noch weit weg und erschien auch noch nicht zwingend. Und doch hatte Heinrich Ackermann auf dem Rückweg, als sich die Prozession durch die wolkenverhangene, mäßig kalte Dezembernacht mehr wankend als marschierend die knapp vier Kilometer zurückschleppte, prophezeit: »Junge, denk an meine Worte! Jetzt herrscht hier Euphorie. Aber in ein paar Monaten liegen die von drüben uns auf der Tasche.«
Wahre Worte, vor allem wenn man bedachte, dass all das Geld, das in die fünf neuen Bundesländer fließen sollte, nicht mehr Halt auf dieser Seite des, mittlerweile ehemaligen, Zonenrandgebietes machte. All die Unternehmen, die sich nur dank der Zonenrandhilfe in dieser trostlosen Ecke von Niedersachsen niedergelassen hatten, verschwanden - und mit ihnen die Arbeitsplätze. Natürlich verschwanden viele von ihnen ausgerechnet in die ehemalige DDR. Immer den Fördertöpfen nach.
Es hatte ein paar Jahre gedauert, bis das ehemalige Grenzland überhaupt zum Verkauf angeboten wurde. Zunächst mussten die Besitzverhältnisse aus der Zeit vor 1945 geklärt werden. Es gab aber niemanden, der einen Anspruch geltend machen konnte. Hanno ging davon aus, dass alle von den Russen abgeknallt worden waren. Dann tauchte das nächste Problem auf: Ein paar Spinner wollten das gesamte Grenzgebiet so lassen, wie es zwischen 1961 und 1989 ausgesehen hatte. Eine Art riesiges Freilichtmuseum. Oder Mahnmal. Oder beides.
Schließlich setzten sich jedoch die etwas vernünftigeren Stimmen durch und erhalten blieben letztlich nur ein paar Relikte der Teilung: ein Stück Zaun und der Wachturm. Beides wurde noch immer gepflegt und regelmäßig von Auswärtigen besucht. Es gab auch ein paar Schautafeln, die über die Grenzanlagen informierten. Und über ein Treffen der Ministerpräsidenten von Niedersachsen (damals Christian Wulff) und Sachsen-Anhalt an diesem Ort.
Hanno hatte schließlich einen großen Posten des Brachlands erworben (einen anderen großen Teil hatte Wettenstedt gekauft). Knapp 100 Morgen. Fast so viel, wie die Familie Ackermann vorher an Land besaß, im Norden des Dorfes. Da die 135 Morgen dort nicht zusammenhingen, wurde dieser Teil der Ländereien im Plural bezeichnet: die Nordäcker. Zuckerrüben und alle Arten von Getreide inklusive Futtermais, den Hanno in der Biogasanlage im Nachbardorf ablieferte. Kein Vieh. Keiner der Bauern im Dorf setzte noch auf Vieh, schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Nur Ackerbau, aber ganzjährig.
Und Windkraft. Kurz nach der Jahrtausendwende hatte Hanno zugegriffen, als Bund und Land nur so mit Subventionen um sich geworfen hatten. Als Einziger im Dorf. Die anderen Bauern wollten lieber noch abwarten, ob die Subventionen nicht noch mal erhöht werden würden oder ob es höhere Abnahmegarantien geben würde. Darüber hinaus wollten sie erst sehen, was Wettenstedt machte, der größte Bauer und längst Bürgermeister. Auch Wettenstedt wollte warten. Natürlich hätte er es lieber gesehen, wenn auch die anderen Bauern gewartet hätten. Aber nicht Hanno! Er wollte diese Chance nutzen und tat sich mit ein paar Bauern des Nachbardorfes zusammen. Gemeinsam ließen sie einen kleinen Windpark errichten. Hanno erzeugte seitdem sehr gut bezahlten Strom.
All das hatte Wettenstedt überhaupt nicht gefallen. Es hieß, dass er sogar versucht hatte, Hannos Alleingang zu verhindern. Mithilfe des Gemeinderates. Aber der konnte ihm hier gar nicht helfen, denn die Felder lagen zum größten Teil auf dem Gebiet der Nachbargemeinde, die zugleich zu einem anderen Landkreis gehörte. Da konnte Wettenstedt noch nicht einmal auf die Unterstützung seines Freundes, des Landrats, zählen.
Mittlerweile hatten auch einige der anderen Bauern des Dorfes nachgezogen (einschließlich Wettenstedt, na klar), sodass nun einige Dutzend Windräder rings um das Dorf in den Himmel ragten.
Seit vier Jahren standen sie auch auf dem Südacker. Der Südacker war ohnehin kein Paradestück in Sachen Ertrag. Es war fast unmöglich gewesen, den 40 Jahre lang vernachlässigten Boden wieder einigermaßen fruchtbar zu machen. Dieses Land zu kaufen, das war letztlich mehr ein Prestigeprojekt gewesen. Ein wenig den anderen Bauern im Dorf zeigen, dass man es sich leisten konnte, dass man mit Ackermann Junior rechnen musste. Mehr rechnen musste als mit dem Senior, der sich jahrzehntelang lieber hinten angestellt hatte, wenn es irgendetwas zu verteilen gab. Und der jetzt auch Bauchschmerzen bekam, wenn sein Sohn forscher an die Dinge heranging.
Hanno hatte jedoch das Gefühl, sich durchaus Respekt im Dorf verschafft zu haben. Vielleicht auch Neid hier und da, das blieb ja nie aus. Hinzu kam, dass Hanno der einzige Landwirt mit Universitätsdiplom im Dorf war, der »Herr Diplomagrarwirt«, wie gern gespöttelt wurde.
Aber die Ausgangslage war nun mal so: Sein Vater war Ende der 90er-Jahre der mit Abstand Älteste, der, sagen wir mal, wichtigen Bauern im Dorf. Darum war Heinrich Ackermann auch der erste Landwirt, der den Hof an die nächste Generation weitergegeben hatte. Das hieß im Umkehrschluss: Hanno hatte es nun ausschließlich mit Bauern zu tun, die mindestens 15 Jahre älter waren als er. Die hätten ihm natürlich gern was erzählt. Wie Landwirtschaft denn so funktioniert. Im Allgemeinen. Und speziell hier im Dorf. Nur wollte Hanno nicht gern etwas von ihnen hören. Er war vor 44 Jahren auf einem Bauernhof zur Welt gekommen und hatte die meiste Zeit auch dort verbracht.
Hanno hatte seinen Vater und eine ganze Weile auch seinen Großvater beobachten können, wie sie Landwirtschaft betrieben, und er hatte sich vieles bei ihnen abgeguckt. Er wusste, was sie gut gemacht hatten, und er wusste, auch dank des Studiums, was sie noch besser hätten machen können. Hanno wollte es besser machen.
Vielleicht demnächst mit einer eigenen Biogasanlage? Erste Angebote hatte er bereits eingeholt. Das Problem...
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