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Eine Revue
Ich bin zu Tode betrübt . Und nur du, meine Tochter, kannst es nachfühlen und mich verstehen. Denn heute Abend hat man deinen geachteten und angesehenen Vater im Zirkus antreffen können, doch nicht als Clown unter Clowns, auch nicht als Zuschauer auf den Zuschauerbänken, sondern auf den schmalen, gewundenen Treppen, die gleich einem finsteren Labyrinth zu den Garderoben führen. Mit einem Bouquet der letzten Blumen aus seinem Garten, mit seinem letzten Geld und mit dem, was ihm noch an Liebe geblieben ist, ist dein Vater zu einem kleinen Zimmer hingegangen und leise, scheu und mit zitterndem Herzen hat er angeklopft und gelauscht:
»Darf man eintreten?«
»Komm herein!«, war von innen zu hören.
Dein Vater trat hinein zu der Zirkusreiterin, die schon im hautfarbenen Trikot auf ihren Auftritt wartete. Sie hielt eine Peitsche in der Hand und ließ sie gegen ihre Reitstiefel knallen. Dabei betrachtete sie mich und meine Geschenke - mich selbst, wie jemand Überflüssigen und Lästigen. Mein Bouquet nahm sie und sagte, dass es für den Kopf ihres Pferdes schön wäre, meine Süßigkeiten kaute sie mit vollem Mund, von meiner Liebe aber wollte sie nichts hören und unablässig schlug sie mit der Peitsche gegen ihre Stiefel.
»Lili .«, sagte ich leise und verlegen. Ihre Augen sahen mich bedauernd an und schon die Haltung ihres Körpers war abweisend. Ich spürte, dass sie mich nie in ihre Nähe lassen würde, niemals und in keinem Fall.
Da öffnete sich die Tür und aus einer anderen Garderobe kam ein Artist herein. Es war ein Athlet mit riesenhaften Füßen und Waden, mit einer Brust, breit wie zwei Ambosse, und mit Orden behängt. Seine Arme und Beine waren nackt, der Kopf glich einem Fass und das Gesicht einem Mond. Er sah mich vor Lili stehen und fragte sie: »Wer ist das?« Und Lili antwortete ihm mit vollem Mund: »Das ist ein Gelehrter aus der Stadt, er ist ein berühmter Mann und einer meiner Verehrer . Haha .«
Sie zeigte ihm meine Geschenke, mein Bouquet und alles, was ich ihr gebracht hatte, und er betrachtete eins nach dem andern, auch mich, Tochter, deinen Vater.
In seinem Blick stand Hohn; in seinen Augen war ich ein lächerlicher Niemand. Er tat so, als wäre er böse auf Lili. Zum Spaß ging sie darauf ein, gab vor, sich vor ihm zu fürchten und ihn für meinen Besuch um Verzeihung zu bitten. Der Athlet verzieh ihr, mir aber nicht. Er kam auf mich zu, zog mir den Hut über die Ohren, nahm Lili die Peitsche aus der Hand, ließ sie neben mir auf den Boden knallen und rief: »Hinaus, verschwinde! Ich will deine gelehrten Knochen hier nicht mehr sehen!«
Und ich ging hinaus und zurück durch das finstere Labyrinth gewundener Gänge, auf denen es nach Pferden, Stall und Zirkus roch. Das war meine Belohnung für den Abend, für die Geschenke und die Liebe zu Lili.
Als ich heimgekommen war, mich umzogen und in meinen Sessel gesetzt hatte, klopfte ein Schüler an meine Tür und fragte mich sehr respektvoll und überaus höflich:
»Darf man eintreten, Lehrer?«
»Komm herein«, antwortete ich.
Er trat ein und setzte sich mit großer Ehrerbietung zu mir. Ich führte ein Gespräch mit ihm, keines über Dinge, die ich seiner Meinung nach mit ihm hätte besprechen sollen, sondern über etwas anderes, etwas, das uns beide nicht betraf, über Liebe .
Verwundert richtete der Schüler seine Augen auf mich und hörte mir nur aus Respekt zu, ohne meine Rede zu unterbrechen. Ich erhitzte mich und redete, wie gesagt, über Liebe, wozu sie verführt, wie sie die Köpfe verdreht, wie sie verrückt macht und auf welche kindischen und gefährlichen Wege und Abwege sie die Menschen führt. »Und doch«, schränkte ich ein, »wie bitter auch immer ihre Frucht sein mag, so ist doch der glücklich, der von ihr genießen kann .«
Und der Schüler starrte mich an, hörte mir weiter zu und meinte, ich würde ein Gleichnis erzählen, es auslegen und dann zu meinem eigentlichen Thema, zu dem, was uns beide interessierte, übergehen.
Aber ich sprach weiter, jetzt davon, wie Liebe zuweilen schlecht belohnt, zurückgestoßen und verlacht wird und wie weh es dem Abgewiesenen tut, wenn er mit Taschen voll guter Dinge kommt und ihm seine Gaben ins Gesicht geworfen werden. Man steht da und lacht ihn aus, während der Abgewiesene erniedrigt auf dem Boden kriecht und seine Sachen wieder aufliest.
Der Schüler hörte mich zu Ende an und schien interessiert. Er wollte mir etwas Tröstliches sagen und bemerkte, so als ob er einverstanden wäre und mir zustimmen wollte:
»Nun ja, so etwas kommt tatsächlich vor und gewiss sind diejenigen, die einen Menschen so zurückweisen, nicht wert, dass man sich um sie bemüht.«
»So denke er«, erwiderte ich, »so denke er, der Schüler, also und damit sollten sich die Abgewiesenen wohl trösten . Nur, was ist, wenn sie sich nicht trösten können, wenn sie weiter lieben und wieder abgewiesen werden?«
Und der Schüler antwortete mir in seiner Unbefangenheit:
»In diesem Fall sind auch die Abgewiesenen nicht viel wert. Wenn sie nicht stolz genug sind, um auf ihre unwürdige Geliebte herabsehen zu können, verdienen sie nichts Besseres.«
Arglos wie er war, ließ sich mein Schüler nicht überzeugen und beharrte auf seiner Meinung. Aber im Grunde war ihm mein ganzes Gerede gleichgültig und nur aus Scheu und Höflichkeit führte er das Gespräch fort. Wie ich ihm ansah, wartete er nur darauf, dass ich möglichst schnell zum Ende und auf das Thema zu sprechen käme, das ihn eigentlich interessierte und weswegen er zu mir gekommen war. Aber davon sprach ich nicht. Ich hielt weiterhin an meinem Thema fest, erhitzte mich noch mehr, sprang aus meinem Sessel auf und ging im Zimmer hin und her. Ich sprach von Wert und Unwert der Liebe, verteidigte erregt meinen Standpunkt und redete wie zu mir selbst:
»Was bedeutet denn Wert und was hat das Wort >Wert< überhaupt mit Liebe zu tun? Legen wir der Liebe nicht alle Werte zu Füßen? Beschenken wir sie nicht mit allem, was wir nur vermögen? Stellen wir denn Rechnungen auf und führen wir etwa Kontobücher über die Liebe?«
Der Schüler wollte mir antworten, nur, wie gesagt, im Grunde interessierte ihn die ganze Sache doch nicht. Die ganze Zeit über war in seinen Augen eine einzige Frage zu lesen: Was meint Ihr, Lehrer, warum sagt Ihr das? Gewiss habt Ihr doch etwas ganz anderes im Sinn .
Aber ich meinte damit sonst gar nichts und dachte in diesem Augenblick an nichts anderes. Doch die erlittene Beleidigung lag mir auf dem Herzen und brannte in meinem Innern. Die Geschichte mit dem Zirkus und was mir dort geschehen war stand mir vor Augen und vor allem Lili. Ich sah sie in verschiedenen Posen, einmal auf ihrem Pferd beim Reiten, einmal, wie sie zwischen ihren Clowns und Artisten sitzt, sie in der Mitte und alle anderen umringen sie. Ihre Lippen sind verführerisch, ihr Mund ist aufreizend, und die Artisten packen sie, heben sie hoch und für einen Kuss von ihr würde ein jeder von ihnen Hab und Gut, Leib und Leben opfern.
Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber ich muss meinen Schüler hinausbegleitet haben. Und über andere Dinge, über Dinge, die ihn interessierten, sprach ich nicht mehr mit ihm. Ich wollte nur, dass er ginge, und ich erinnere mich nicht einmal, ob er mir eine gute Nacht wünschte oder nicht. Und ich blieb allein zurück.
An diesem Abend konnte ich mich mit überhaupt nichts mehr beschäftigen, auch nicht mit meiner Arbeit, und kaum hatte ich eins meiner Bücher aufgeschlagen, legte ich es wieder beiseite, mit einem zweiten war es dasselbe und so ging es weiter. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren und keinen Gedanken zu Ende verfolgen.
Und plötzlich vergaß ich, wo ich war, vergaß meine Stellung und die Gesellschaft, zu der ich gehörte. Mit einem Mal sah ich mich selber als Artisten in einem hautfarbenen Trikot, mit einer Peitsche in der Hand, wie ein Zirkusreiter, und sah eine große Manege vor mir. Man bringt mir ein schönes Pferd und ich steige auf. Vor mir läuft ein noch schöneres, es trägt Lili. Mit einem Bein steht sie auf seinem Rücken, das zweite hat sie in die Luft gestreckt. Sie fliegt und ich fliege ihr nach. Vor meinen Augen verschwimmt das dichtgedrängte Zirkuspublikum, wir reiten immer im Kreis, vor uns die vielen Menschen, ihre Augen, ihre Begeisterung. Jede Bewegung von Lili verschlägt dem Publikum den Atem, jedes >Hopp, hopp<, jeder Laut von ihr ruft Jubel und Entzücken hervor und auch ich bin begeistert. Ich reite hinter ihr her und auch ich stelle mich auf den Rücken meines Pferdes, sie ist vor mir in ihrem leichten Kleid und mit ihrem Körper, leicht wie Luft...
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