Ohne Worte .
Die Schule hat für mich in meiner Vergangenheit immer einen besonderen Platz eingenommen und ist auch einer der Gründe, warum ich irgendwann den Weg zur Musik gefunden habe. Ich kann mich noch an vieles erinnern und habe noch die Umgebung meiner Grundschule und viele Momente als Bildfragment vor meinem geistigen Auge.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich eine glückliche Kindheit hatte und es mir im Grunde an nichts fehlte. Ich hatte viele Freunde und liebevolle Eltern, die ihr Leben danach planten, dass wir Kinder glücklich und zufrieden waren. Ich kann mich noch genau an meine Einschulung erinnern und habe auch noch einige Namen von damals in meinem Kopf. Sie springen regelrecht vor meinem geistigen Auge herum und ich sehe auch die dazu passenden Gesichter meiner damaligen Klassenkameraden. Die Schule hatte mir immer Spaß gemacht. Zumindest am Anfang war es noch so. Ich bin immer gerne hingegangen und habe mich auch nie sonderlich dagegen gewehrt.
So war es in den ersten Jahren in der Grundschule, in denen alles recht normal verlief. Ich habe keine außergewöhnlichen Erinnerungen an diese Zeit. Ich glaube allerdings, dass in meiner Grundschulzeit etwas passiert ist, was aus heutiger Sicht der Ursprung dessen ist, dass mein Weg irgendwann einmal dazu führte, ein Instrument zu erlernen.
Ich weiß genau, dass ich an irgendeinem Tag von der Schule nach Hause gekommen bin und kaum noch gesprochen habe. Ich beschränkte mich nur noch auf knappe Sätze und war ängstlich und zurückhaltend. Ich konnte nicht ertragen, wenn mich andere ansahen und mir Fragen stellten oder mit mir reden wollten. Ich habe darauf immer nach unten geschaut und nicht geantwortet.
Wann das genau anfing, weiß ich heute nicht mehr. Und auch den Grund dafür kenne ich bis heute nicht. Allerdings änderte sich mein Leben ab diesem Moment grundlegend. Gerade was das Schulische und den Umgang mit anderen Menschen anging. Ich zog mich zur damaligen Zeit immer mehr von meiner Umgebung zurück. Von da an gingen meine schulischen Leistungen in den Keller. Gerade was die mündliche Mitarbeit betrifft. Sie existierte bei mir praktisch nicht mehr, da ich nichts mehr sagte. Ich konnte die Blicke der anderen einfach nicht ertragen und die Angst, etwas falsch zu machen, wuchs in mir von Tag zu Tag.
Ich glaube, meine Eltern mussten sich damals ganze Arien von Eventualitäten anhören, warum ich nicht mehr sprach. Ich weiß noch genau, wie man mich zu unzähligen Psychologen brachte und alle Hebel in Bewegung setzte, meine Sprachblockade wieder zu lösen und mir Selbstbewusstsein einzuflößen. Meine Mutter klebte mir kleine Zettel in meine Tasche, auf Bücher und einfach auf alles, was mich umgab. Auf denen stand dann »Du schaffst das« oder »Hab keine Angst«. Diese Botschaften halfen mir damals sehr. Ich wusste, dass ich nicht alleine war. Allerdings lösten sie das Problem nicht.
Meine Eltern zweifelten zur damaligen Zeit naturgemäß auch an sich selbst und suchten einfach nach einem Grund oder einer Lösung. Was ich damals darüber dachte, kann ich heute nicht mehr ergründen. Ich suchte mir einfach Hobbys und sonstige Dinge, bei denen ich nicht sprechen musste.
Der Sport war das Erste, was ich damals für mich in dieser Situation entdeckte. Dabei brauchte ich nicht zu reden und ich merkte schnell, dass ich genau so sein kann wie andere und bekam durch gute Leistungen Respekt und Aufmerksamkeit der anderen Kinder und auch der Lehrer. Ebenso begann ich zu zeichnen. Ich verbrachte Nachmittage damit, einfach Figuren und Karikaturen zu zeichnen. Im Grunde habe ich Dinge gemacht, bei denen ich nicht sprechen musste und mich niemand ansah. Damit war ich zu dieser Zeit glücklich.
Außerhalb der Schule machte ich es nicht anders. Ich verbrachte unzählige Nachmittage alleine zu Hause und beschäftigte mich mit meinen Zeichnungen. Zudem entdeckte ich die Freude am Tischtennisspielen. Mein Vater betrieb den Sport damals im Verein und somit meldete er mich dann dort auch an. Freunde hatte ich in dieser Zeit nicht viele. Im Grunde nur einen einzigen, der mich so akzeptierte, wie ich eben war.
Die darauffolgenden Jahre lernte ich damit zu leben, wie ich bin. Im Grunde war ich ein stilles Kind und meine Zurückhaltung und das wenige Sprechen und die Angst, anderen in die Augen zu schauen, wurde für mich zur Normalität. Wenn ich diese Zeilen hier schreibe, bin ich selbst über meine Ansicht, so etwas als normal zu empfinden, fast geschockt. Aber damals war es so. Ich denke, ich habe mich einfach damit arrangiert, wie die Dinge waren. Irgendwann ist man auch einfach zu müde, immer wieder Gründe zu suchen, warum die Dinge so sind, wie sie eben sind, oder sich zu ändern, damit andere einen als normal ansehen.
Aus heutiger Sicht kann ich es nur so erklären. Ich kannte es einfach nicht anders und trotz der gegebenen Umstände war ich ein glückliches Kind. Ich hatte meine Hobbys und einen sehr guten Freund, der mich so akzeptierte, wie ich war.
Es ist ja nun nicht so, dass ein Mensch, der stottert, nicht weiß, was er eigentlich gerne sagen würde. Ganz im Gegenteil! Je mehr sich diese Schwäche in meinem Leben breitmachte, desto stärker war ich darauf bedacht, mir im Vorfeld ganz genau zu überlegen, was ich gerne zum Ausdruck bringen würde. Während Kinder in meinem Alter vermutlich einfach drauflosgeplappert hätten, versuchte ich im Laufe der Zeit, geradezu planmäßig vorzugehen, um dann erneut wieder an einem Wort oder einer Silbe scheitern zu müssen.
Das Schlimmste, was einem Stotterer in solchen Momenten dann passieren kann, ist der gut gemeinte Versuch des Gegenübers, das besagte Wort vorzusagen. Diese Menschen wissen nicht, dass Stotterer keine Souffleure brauchen. Diese unbedachten Hilfestellungen waren vielmehr demütigend und führten dazu, dass man es sich künftig mehrfach überlegte, ob man überhaupt etwas sagen wollte.
Auch einige Lehrer an meiner Schule gingen nicht so behutsam mit meiner Störung um, wie man es sich hätte wünschen dürfen. Viel zu oft quittierten sie meine Sprechprobleme mit Ungeduld, waren womöglich auch der Ansicht, dass mein Stottern auf fehlendes Wissen hindeuten könnte - und wandten sich entnervt einem anderen Schüler zu. Ein verheerender Kreislauf.
Auch bei mir zu Hause versuchte man nun, etwas gegen meine Sprechstörung zu unternehmen. Meine Eltern waren zu der Ansicht gelangt, ich könnte durch regelmäßiges Vorlesen mehr Sicherheit beim Sprechen bekommen. Aber genau das Gegenteil traf zu: Während ich bis dahin mein Elternhaus als eine Oase empfunden hatte, in der es weder Druck noch Strenge oder Strapazen gab, war ich von einem Tag auf den anderen auch hier gezwungen, Leistungen abzurufen, zu denen ich jedoch ganz offensichtlich nicht imstande war.
Die Konsequenz war erschreckend, aber letztlich klar nachvollziehbar: Ich bin fortan nicht mehr gerne nach Hause gekommen!
Was bis zum heutigen Tag niemand restlos zu erklären vermag, ist die Tatsache, dass ich in all diesen Jahren zu ganz bestimmten Zeiten keine Sprechprobleme hatte. Und das war stets im Urlaub. Ein Junge, der Tag für Tag stottert, spricht mit einem Mal flüssig und ohne Probleme - aber eben nur für ein paar Tage oder Wochen. Sobald die Schulferien begonnen hatten und wir mit der gesamten Familie in den Urlaub gefahren waren, hörte mein Stottern schlagartig auf. Es war, als ob mich der Schulalltag aus seiner Zwangsjacke entlassen hatte. Und mit dieser Freiheit, die leider immer nur von kurzer Dauer war, lösten sich all meine Probleme und Blockaden. Bis zum nächsten Schultag .
Die Kompensation, die ich im Sport gesucht hatte, schien die perfekte Lösung zu sein. Wer beim Fußball als Erster in die Mannschaft gewählt wurde, musste keinen Spott fürchten. Auch nicht, wenn er stotterte. So schlicht waren die kindlichen Gesellschaftshierarchien nun mal gestrickt. Meine Strategie war erstaunlich gut aufgegangen und so hatte sich sehr früh schon ein Leitmotiv entwickelt, was mich im Grunde bis heute stark beeinflusst und auch geprägt hat: Du musst einfach besser sein als die, die dich auslachen!
Gleichwohl war mein Leben in diesen Jahren von meiner Sprechstörung geprägt. Ich musste zu Logopäden, in Sprechtherapiegruppen, wo ich manchmal das Gefühl hatte, dass es der liebe Gott noch gut mit mir gemeint hatte, waren dort doch Kinder dabei, die es deutlich ärger erwischt hatte. Mittags, nach der Schule, geriet ich regelmäßig mit meiner Mutter in Streit, weil ich nicht vorlesen wollte, und der Druck, der mich zum Stottern gebracht hatte, wurde im Grunde immer größer.
Ich sehe mich noch ganz deutlich an unserem Küchentisch sitzen. Das Übungsbuch lag aufgeschlagen vor mir und meine Mutter war wohl kurz einkaufen gegangen. Meine Verzweiflung war derart groß, dass ich mir damals als kleiner Junge tatsächlich überlegt hatte, wie es wohl wäre, wenn ich mich in diesem Augenblick mit einem Messer verletzen würde. Die Antwort war verlockend: Ich müsste nicht mehr lesen .
Aber ich tat es nicht. Ich litt still und stumm weiter und fand mich damit ab.
Auch im Sport - meiner Ersatzsprache gewissermaßen - taten sich erste Risse auf. Während mein Bruder in jenen Tagen sehr vielversprechend im Verein Tischtennis spielte, stellten sich bei mir die Erfolge in dieser Sportart entweder gar nicht oder nur sehr schleppend ein. Ich trainierte wie besessen...