Schweitzer Fachinformationen
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1 Zwei Jahre vor ihrem dreißigsten Geburtstag hat Patsy kaum mehr vorzuweisen als den dünnen braunen Umschlag, mit dem sie ihre Augen vor der gleißend hellen Sonne schützt. In dem Umschlag steckt alles, was sie an Dokumenten besitzt, von ihrer Geburtsurkunde bis zum Impfausweis. Und vor allem steckt darin ihr Traum, jener Traum, den fast alle Jamaikaner einer bestimmten sozialen Schicht gemeinsam haben: ein Flugzeug nach Amerika zu besteigen. Um zu fliegen und um ans Ziel zu kommen.
Folglich hat Patsy, als sie zu einem zweiten Gespräch in die US-Botschaft eingeladen wurde, die Gelegenheit ohne zu zögern ergriffen. Ihrer Familie hat sie nichts davon erzählt, sie hat sich nicht einmal gefragt, wie die anderen das finden werden. Sie hat sich in aller Frühe aus dem Haus geschlichen, lange bevor der Duft aus Miss Hyacinths Bäckerei den Morgendunst vertrieb, bevor Mr. Belnavis' Hahn krähte und Ras Norbert seinen Singsang über das Gold anstimmte, das hier angeblich überall vergraben liegt (»Glaubt es, oder glaubt es nicht!«). In ihrem bescheidenen Dreizimmerhäuschen in Pennyfield, einem Arbeiterviertel zwischen einem Hügel und einem Abwasserkanal, hat sie in ihrer schönsten Handschrift eine Nachricht an ihre Tochter geschrieben und neben Mama Gs Singer-Nähmaschine gelegt: Hab einen schönen Tag in der Schule. Vergiss nicht, nach rechts und nach links zu schauen, bevor du über die Straße gehst, und sprich nicht mit Fremden. Richte Miss Gains aus, dass sie das Schulgeld am Monatsende bekommt. Der Tag war noch nicht schwülwarm gewesen, deswegen hatte Patsy sich für einen hellbraunen Tweedblazer und einen olivgrünen Rock aus Polyester entschieden, den ihre beste Freundin Cicely ihr vor Jahren aus Amerika geschickt hatte. Damals, bei der ersten Anprobe, waren beide Stücke zu groß gewesen, aber heute passen sie perfekt. Patsy hatte sie schon Tage vor dem wichtigen Gespräch aus dem Kleiderschrank geholt, damit der Kampfergeruch sich verflüchtigen konnte; sie hat die Sachen noch nie getragen. Sie hatte sich vorgenommen, einen möglichst selbstbewussten Eindruck zu machen, doch als sie an der Half Way Tree Road aus dem Bus stieg, fing sie sofort zu schwitzen an. Sie blieb kurz stehen, blickte auf die lange Straße zurück, über die sie gekommen war, und dachte an ihre Tochter. Als Patsy gegangen war, hatte die Kleine sich auf der Doppelmatratze mit den quietschenden Federn wortlos wieder umgedreht. Beim Ankleiden im Dunkeln hatte Patsy geglaubt, den wissenden, hellwachen Blick ihres Kindes zu spüren. Oder hatte sie es sich nur eingebildet? Patsy zieht sich immer im Dunkeln an, und sie sieht fast nie in den Spiegel, weil sie den eigenen Anblick wenig spektakulär findet: rundes Allerweltsgesicht, breite Nase, volle Lippen, herabgezogene Mundwinkel - sie sähe aus wie ein Kind, das gerade etwas verloren hat, wären da nicht die tiefen Grübchen in ihren Wangen. Von den Männern bekommt sie regelmäßig Komplimente für ihre Augen, denen jedoch die großen Brüste zu oft die Schau stehlen. Sie hat dunkelbraune Haut und strahlend weiße, makellos gerade Zähne. Das Haar glättet sie sich jeden Sonntagabend mit einem heißen Kamm, anschließend frisiert sie es mit etwas Gel zu einem straffen Knoten zurück. Als sie am Morgen Trus Blicke spürte, wollte sie dem Kind im Dunkeln einen Finger an die Lippen legen und ihm alles erklären, aber dann war das gar nicht nötig gewesen. Tru ist einfach eine unruhige Schläferin, sie hat geseufzt und sich gewälzt, als wüsste sie längst von Patsys Verrat. So schuldbeladen und unsicher hat Patsy sich nicht mehr gefühlt, seit sie die Briefe aus Brooklyn in einem abschließbaren Aktenkoffer oben auf dem Kleiderschrank versteckt hat.
Als sie vor der Botschaft in der Warteschlange steht, berührt Patsy immer wieder ihre Halskette mit dem kleinen Anhänger, einem Tigerauge. Der Glücksbringer war ein weiteres Geschenk von Cicely. Hab ich in Chinatown gekauft, jawohl, meine Liebe, so was haben die hier! Da gibt es immer die besten Angebote. Wenn du kommst, gehen wir zusammen hin. Ein flüssiges Gefühl schießt durch Patsys Adern, der Tweed klebt ihr an der Haut. Obwohl sie pünktlich war, zieht die Warteschlange sich jetzt schon am Jamaica Pegasus Hotel vorbei bis zum Knutsford Boulevard. Der helle Junimorgen ist eine fröhliche Party in Blau, Grün und Gelb, die Sonne brennt um sieben Uhr schon heiß, und in der Luft hängt ein Geruch nach Mangos und zertretenen Würmern, schwache Erinnerung an den Regenguss vom Vortag. Hoch am Himmel zieht ein zum Dreieck angeordneter Schwarm aus weißen Vögeln gen Süden, als wäre er auf der Flucht vor der Kälte Nordamerikas.
Patsy hat keine Augen dafür. Sie klemmt sich den großen braunen Umschlag unter den Arm, in ihren Achseln blühen Schweißflecken. Cicely hatte ihr geraten, ein Kostüm zu tragen. Damit die dich ernst nehmen! Als sie da in dem Kostüm in der Sonne steht, kommt ihr die Hitze noch drückender vor, aber sie kann den Blazer unmöglich ausziehen, denn ihre Bluse ist jetzt schon durchgeschwitzt und klebt ihr am Leib wie ein nasses T-Shirt. Sicher fänden die Amerikaner in der Botschaft den Anblick empörend.
Einige Frauen sehen aus wie auf dem Weg zur Ostermesse, sie tragen Hüte und pastellfarbene Kleider mit breitem Schweißstreifen auf dem Rücken, aber die meisten Leute haben sich wie Patsy für konservative Bürokleidung entschieden. Einiges davon wirkt geborgt, anderes neu gekauft, und das meiste ist zu schwer und zu dunkel für die quälende Hitze. Patsy winkt einen Jungen heran, der buntes Wassereis in Plastikbeuteln verkauft. Sie möchte sich abkühlen und ihre Nerven beruhigen. Sie hat keine Ahnung, welche Fragen die Amerikaner ihr stellen werden.
»Swansig Dollah, Miss«, lispelt der Junge. Er hat auch Trillerpfeifen im Angebot, sie baumeln ihm an Schnüren vom Daumen. Die Menschen stehen hier zwar scharenweise an, weil sie die Insel verlassen wollen, trotzdem werden die meisten von ihnen am Abend den Reggae Boyz zujubeln. Es ist das Jahr 1998, die Nationalmannschaft hat es zur Fußball-WM nach Frankreich geschafft, und ganz Jamaika fiebert dem Spiel gegen Argentinien entgegen. Nichts eint die Leute nachhaltiger als ein internationales Sportereignis mit jamaikanischer Teilnahme. In Half Way Tree umarmen sich Fremde auf der Straße, und die Gangster stecken lachend ihre Waffen ein, küssen die Säufer vor den Kneipen auf den Mund und wirbeln sie herum wie Kreisel. Die Jugendlichen haben Töpfe und Suppenkellen aus den Schränken geholt, um ordentlich Lärm zu schlagen, und in Pennyfield haben die Leute schon vergangenen Monat damit angefangen, ihr Kleingeld zusammenzukratzen und in Pete's Bar, wo ein großer Fernseher steht, ihre Wetten abzugeben. Die in der Gegend für ihre Kochkünste berühmte Miss Maxine wird die dickste Henne aus dem Gehege fangen und zur Feier des Tages einen braunen Hühncheneintopf mit weißem Reis kochen, und am Abend wird sie ihr selbst gebrautes Starkbier verkaufen, gut für Frauen mit Kinderwunsch und für kraftlose Männer mit Hoffnung auf einen Sieg.
Patsy mustert das Wassereis und die Trillerpfeifen am Daumen des jungen Straßenhändlers, ein dürrer Junge von höchstens sechzehn Jahren. Er trägt ein Netzunterhemd und knielange Shorts, seine Unterschenkel sind voller Narben. »Zwanzig Dollar für ein Wassereis?«, fragt sie.
»Ja, Miss.«
»Glaubst du, die Leute hier wären reich, bloß weil sie vor der Botschaft stehen?«
Der Junge antwortet nicht. Er kennt den Markt. Als er zum nächsten Kunden weitergehen will, sagt Patsy: »Okay, einmal Orange.«
Der Junge gibt ihr den Beutel, nimmt das Geld entgegen und zählt es mit dem freien Daumen blitzschnell nach. Patsy ist beeindruckt. Ihr Verstand kreist um die Zahlen, sie drückt sich die Zungenspitze von hinten an die Schneidezähne und rechnet mit. In der Schule war Mathe ihr Lieblingsfach - das einzige, in dem sie glänzen konnte. Bis heute gibt es für sie nichts Verlässlicheres als Zahlen. Der Junge will ihr das Wechselgeld geben, aber sie sagt ihm, er solle es behalten. Sie hofft, dass er jeden Penny in seine Zukunft investiert; dass er, statt bis an sein Lebensende Wassereis und Trillerpfeifen zu verkaufen, eine Ausbildung machen und eines Tages in einer Bank arbeiten wird. Oder vielleicht wird er sogar selbst eine gründen. Aber ihr Optimismus verfliegt beim Anblick der Warteschlange, die sich inzwischen bis um die nächste Straßenecke zieht und aus lauter Menschen besteht, die begriffen haben, dass hier in diesem Boden so manche Saat nicht aufgeht. »Danke, Miss«, sagt der Junge und neigt den Kopf wie jemand, der aufgegeben hat.
Patsy denkt an das viele Geld, das sie für den Reisepass und den Visumsantrag ausgeben musste. Vor zwei Jahren wurde ihre Bewerbung kommentarlos abgelehnt. Ihre Bekannten waren der Ansicht, es habe daran gelegen, dass sie auf Jamaika kein Land besitzt. Abgesehen von dem bisschen Geld, das Vincent ihr zusteckt, der verheiratete Geschäftsmann, mit dem sie eine Affäre hat, besitzt sie praktisch nichts, was sie den Amerikanern als Sicherheit anbieten könnte. »Die geben dir eher ein Visum, wenn du was hast, zu dem es sich zurückzukehren lohnt. Ansonsten glauben sie, du wolltest für immer abhauen«, hat Ramona gesagt, die einen Schreibtisch weiter sitzt und die einzige Kollegin ist, mit der Patsy manchmal ihre Mittagspause verbringt. »Am besten ist es, wenn du eine eigene Firma hast«, erklärte Sandria, eine andere Kollegin, die ihre Nase ständig in fremde Angelegenheiten steckt und danach zur Chefin rennt und alles weitererzählt. Miss Clark ist eine Hexe von einer Frau und voller Verachtung für alle, die einen niedrigeren Dienstgrad haben als sie.
Angesichts...
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