Schweitzer Fachinformationen
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Der Mann sitzt mit dem Rücken an einen wuchtigen, heilen Holzbalken gelehnt. Der gesenkte Kopf studiert den Bauch, dem Bauch ist das Geschehen drum herum egal. Der Körper steckt in einem engen schwarzen Unterhemd und modischen Boxershorts. Das karierte Seidenjäckchen steht offen. Es wurde in Schottland gekauft, auf der Brust ist ein Clanzeichen. Der Kilt fehlt. Rinke, ranke Rosen, alles ohne Hosen, auch der Mann. Wie eine Marionette streckt er die Beine aus. Seine Zehen sind rund und weich. Berührte man die zerfurchte rosa Fußsohle mit einer Vogelfeder, bögen die Zehen sich zurück, bis die Gelenke knackten. Der Mann geniert sich; so unvollständig bekleidet. Er blickt zu Boden.
Der Raum, in dem er sich ausgestreckt hat, ist blankgescheuert, überschaubar und halbleer. Der Dachboden, den man hier Loft nennt, gehört zu einem neugebauten Einfamilienhaus; die Metalltreppe eine lange Zunge, über die das Unglück steigt, in den Regalen fläzen sich reihenweise teure Koffer, Reisetaschen und Skistiefel. In schmalen weißen Fächern recken sich Skier und Skistöcke in die Höhe. Gefolgt von Golfschlägern, Sporttaschen und entsprechendem Schuhwerk. Metallene, im Boden verankerte Wäscheständer strecken ihre zackigen Arme vor. Auf ihnen trocknet keine Wäsche; die Familie schaltet im Keller den Trockner an. Der Kopf des Mannes ist grau, mit dichtem Haar. Ein akkurater Bürstenschnitt. Seine Marionettenbeine sind muskulös, die Bizepse gestählt, ein breiter und männlicher Rücken.
Der gepflegte Körper betrügt sich selbst.
Der Mann ist nicht mehr jung. Obwohl er jedes Wochenende schwimmen geht, um die Sünden der Arbeitswoche abzuwaschen. Schwungvoll die Arme ausholen, einatmen, untertauchen. Er spült den Stress ab, löst die zudringlichen Jahre auf. Er muss nicht arbeiten, aber er arbeitet. Er arbeitet gern, weil er nicht muss.
Auf dem Dachboden herrscht reges Treiben. Ein Polizeiermittler hockt sich neben den Mann, als wollte er die nackten Fußsohlen mit einer Vogelfeder oder einem Grashalm kitzeln. Oder dem Körper leise die Leviten lesen.
Der Mann reagiert nicht. Er schweigt, sagt keinen Ton. Durch den einsamen Herbstabend fliegt eine Schwalbe, mit regengetrübten Augen verirrt sie sich auf den Dachboden. Die Männer freuen sich über die Zerstreuung; ihr dunkles Gelächter erschreckt die Schwalbe. Sie stößt mit dem Kopf gegen die Wände, kreist panisch unter der Decke, bis sie es durch die Dachluke endlich in die Freiheit nach draußen schafft. Im Schnabel eine blassviolette Kirschblüte. Doch zu dieser Jahreszeit macht eine Schwalbe garantiert noch keinen Frühling, und der Fadenwurm hat seinen Platz nur in den Kirschblüten.
Der Ermittler watschelt im Entengang zur linken Schläfe des Mannes. Dabei beult sich die Hose an seinen Knien aus. Der Sitzende hat die Augen niedergeschlagen, beobachtet die eigene Brust, der Ermittler konzentriert sich dagegen auf den Hals des Mannes. Gespannt sieht er einem jungen Gerichtsmediziner bei der Arbeit zu. Der Gerichtsmediziner legt den Körper in Boxershorts und Seidenjäckchen vorsichtig auf den Boden und tastet ihn erneut ab. Der Mann lässt es zu. Um seinen Hals liegt eine weiße Schlinge. Jemand hat seinen Körper abgesetzt und mit weißem Strick festgebunden, damit er nicht wegrennt. Wie einen Hund an seine Hütte. Neben dem Balken streckt ein umgestürzter Teakholzstuhl mit gebogenem Ziergitter alle viere von sich. Stellt die provokativ gespreizten Beine zur Schau. Drei weitere Stühle mit hoher, vergitterter Lehne halten Wache an der Wand. In Erwartung von Zuschauern und ihren Hintern, die sich auf sie plumpsen lassen, um das Marionettentheater anzuschauen. Acht haargenau gleiche Teakstühle werfen sich im Erdgeschoss am ausziehbaren Küchentisch in die Brust. Keiner der Stühle hegt den geringsten Zweifel, dass es Selbstmord war.
Es war Selbstmord.
Die Männer packen ihr Zeug zusammen.
Im Vergleich zu dem Körper auf dem Boden ist der Ermittler jung; siebenunddreißig Jahre alt. Seine Arbeit macht ihm Spaß, obwohl er arbeiten muss. Er ist eifrig und hat einen wachen Verstand; obwohl er gerne wüsste, wo dessen Grenzen sind. Sein Körper schwankt, der Ermittler watschelt um die Leiche, umrundet den Kopf. Zögerlich, wie ein Blinder, tastet er das Gesicht ab, prägt sich die Haut ein, die Falten. Unentschlossenheit frisst Zeit; die zwei Kerben am Hals des Mannes verwirren ihn, das Gedächtnis gräbt nach Details aus dem Fachseminar über Selbstmord und Mord durch Strangulation. Eine Rille verläuft schräg. Die ist in Ordnung. Daneben aber, kaum sichtbar, noch eine andere. Und die verläuft gerade. Er zeigt sie dem Gerichtsmediziner. Der winkt ab, ganz sicher Selbstmord, Mann, was soll der Unsinn, hör schon auf.
Der Ermittler steht auf. In seinen Knien knackt es. Er wirbelt Staub auf und eine Schwalbenfeder. Sie legt sich auf die vollen Lippen des Toten. Der Ermittler blickt durch das offene Dachfenster in den Regen. Auf den Telegraphendrähten hinter dem Garten rotten sich Noten zusammen, Schwalbenkörper. Mehr als einen Steinwurf entfernt. Aber ist jetzt die Zeit, Steine zu werfen?
Ja.
Der Ermittler steigt die Metalltreppe in den ersten Stock hinunter. Eine breite, verglaste Terrasse mit Blick über die Stadt. Auf einem flauschigen Teppich mit Spielzeugmotiven sitzt ein Dreikäsehoch. Fährt mit seiner kleinen Lok die in den Teppich eingewebten Gleise nach. Die junge Frau auf dem schwarzen Ledersofa mit Metallarmlehnen hat aufgehört zu weinen. Die Wand ihr gegenüber ein Kunstwerk aus Hunderten von ovalen Tränen, sie wirft tausendfach ihr Spiegelbild zurück, das goldene, hochgesteckte Haar, die niedliche gerümpfte Nase. Leise antwortet sie auf die Fragen der erfahrenen Polizistin, die mit einer Hand die Worte der Frau notiert, mit der anderen am schmalen Handgelenk den rasenden Puls fühlt. Den tränendurchweichten Körper und den am Balken festgezurrten trennen mehr als dreißig Jahre Altersunterschied. Sie sei gerade vom herbstlichen Meer zurückgekehrt. Ja, heute, am Samstagnachmittag. Sie habe die leeren Koffer auf den Boden gebracht, ihrem Mann sei Ordnung wichtig. Routine und Ritual, Liebling, sage er immer . habe er immer gesagt, das sei die Losung des Tages, sonst zerbröckele das Leben, werde leer.
Er sollte gar nicht hier sein, krächzt die verweinte Stimme. Am Freitagabend habe er in die Berge fahren wollen, er klettere zwar nicht mehr so leidenschaftlich wie früher, aber er fahre immer noch Ski und gehe im Sommer und im Herbst mit Freunden wandern. Nein, krank war er nicht . er habe eine ausgezeichnete Kondition . gehabt, trotz seiner fast siebzig Jahre. Der Witwe schießen neue Tränen in die Augen.
Der Ermittler unterbricht die beiden Frauen. Reicht der weinenden ein Taschentuch. Der Witwe sind die Papiertaschentücher ausgegangen. Das Taschentuch des Ermittlers ist aus Stoff mit einem altmodisch gestickten Monogramm. Die Polizistin geht weg. Der Ermittler feuert eine neue Fragensalve ab. Über das Antlitz der Witwe huscht beleidigte Verwunderung. Das habe sie doch bereits erklärt, sie habe die leeren Koffer auf den Dachboden gebracht. Nein, sie wisse nicht, warum er es gemacht habe. Nein, gestritten hätten sie sich nicht. Es sei ihm sogar besonders gut gegangen, nachdem alle Anklagepunkte gegen ihn fallengelassen wurden.
Die Witwe packt den Ermittler an der Hand. Wie eine ungeduldige Kurtisane zieht sie ihn hinter sich her ins Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch liegt ein Blatt Papier. Der Ermittler sammelt die hingekritzelten Worte mit den Augen ein: Kontaktlinsen, Sonnenbrille, Sonnencreme, Lippenpflege, elastische Bandage, Notizen Kap. 88, Medikamente. Die Witwe wippt triumphierend auf den Fußballen vor und zurück. Der Ermittler nimmt das Wippen wahr. Die Umrisse des Busens, die erahnte Erhebung der Brustwarzen, die schmale Taille, die runden Hüften. Ein großzügiges Doppelbett mit weißen, pausbackigen Satinkissen zwinkert ihm zu. Der lange, pfirsichfarben lackierte Fingernagel der Frau tippt aufs Papier, hackt nach Wörtern, pickt sie auf. Er habe immer Listen gemacht, bevor er wegfuhr, wenn er sich auf etwas freute. Wenn ihm etwas wichtig gewesen sei und er es eilig hatte, habe er mit der Hand geschrieben, das sei nicht häufig vorgekommen. Warum hätte er eine Liste für die Letzte Reise machen sollen, wozu wäre die denn gut gewesen? Ich kann nicht wissen, wo der Verstorbene hinwollte und warum, und ich weiß auch nicht, welche Listen für die Letzte Reise geschrieben werden und wozu die gut sind, erwidert der Ermittler kühl. Die Frau gibt nicht nach. Warum habe er dann nicht wenigstens ein paar Zeilen für sie geschrieben? Die jungen Witwenaugen füllen sich mit Glanz. Das Wasser läuft über. Zu ihren Füßen ein dreijähriger Knirps mit Dampflok in der Hand. Er weint nicht, sondern starrt nur vor sich hin. Nein, Feinde habe er keine gehabt. Vor einiger Zeit habe ihn diese Lappalie mit den ehemaligen Sekretärinnen verstört. Aber das sei doch alles nur Unsinn gewesen. Sie hätten ihn angeschwärzt, weil er sie angeblich in der Firma belästigt habe, eine habe ihn sogar wegen Vergewaltigung angezeigt.
Der Ermittler fühlt sich im Schlafzimmer nicht wohl. Er geht in den Nebenraum, ins Arbeitszimmer des Mannes. Die Witwe und der Junge trippeln brav hinterher. Auch im Arbeitszimmer eine Glaswand. Regentropfen laufen daran hinunter. Ein Leben im Aquarium, denkt der Ermittler. Auf den Telegraphendrähten gruppieren sich Schwalbenkörper um, im Rhythmus der Regentropfen entsteht ein neues Musikstück.
In der Ecke der dunkelbraunen Schreibtischplatte aus...
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