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Eine literarische Liebeserklärung an den Radsport
»Ich denke über die Faszination nach, die dieser Sport auf mich ausübt, darüber, warum diese Nomaden, die mit ihren Beinen sprechen, mir so am Herzen liegen. Der Radsport ist insofern ungewöhnlich, als er ein Mannschaftssport für Einzelkämpfer ist. Ein Sport für Exzentriker und Abweichler. Jedes Rennen endet mit einem Gewinner und Hunderten von Verlierern. Das ist etwas ganz anderes als beim Handball oder Fußball, wo man in der einen Woche gewinnt und in der nächsten verliert oder gar unentschieden spielt. Der Radsport ist wie eine unglückliche, unerwiderte Liebe, Rennen für Rennen, Saison um Saison. Er ist der Club der hoffnungslosen Romantiker.«
Bereits seit Kindertagen ist der dänische Schriftsteller und Filmregisseur Daniel Dencik ein glühender Anhänger des Radrennsports. In diesem Buch beschreibt er anhand einer Ausgabe der Tour de France, einer Straßenweltmeisterschaft und des traditionellen Saisonabschluss-Klassikers, der Lombardei-Rundfahrt, was die unwiderstehliche Anziehungskraft seines Lieblingssports ausmacht.
Mit feiner Beobachtungsgabe und Gespür für poetische Metaphern gelingt Daniel Dencik ein wunderbar geschriebenes Sportbuch, das zum Nachdenken anregt. Elegant stellt er Bezüge zwischen Radrennen und dem Werk großer Autoren wie Dante, Baudelaire und Edgar Allan Poe her. Er begleitet gefeierte und gefallene Radsporthelden und erzählt zu Herzen gehende Geschichten vom Leben im Peloton. Das Resultat ist eine literarische Liebeserklärung an einen oft unverstandenen Sport, der seinen Reiz maßgeblich daraus bezieht, dass man als Zuschauer nicht alles sieht.
Während der ersten Hälfte der Tour de France lassen wir die Tage oft auf einem Waldweg mit einem Lagerfeuer ausklingen. Ich folge dem Rennen in einem Toyota HiAce zusammen mit Jonatan Mose, einem Freund, der auch mein Chauffeur ist, obwohl er keinen Führerschein hat - zumindest nicht offiziell, wie er sagt. Irgendeine Bußgeldgeschichte, die sich in eine unglückliche Richtung entwickelt hat. Er kümmert sich um das Praktische, was gar nicht mal so wenig ist, wie sich schnell herausstellt. Selbst bin ich schlecht in allem, was mit Dingen zu tun hat, um es kompliziert auszudrücken. Mein junger Chauffeur kommentierte meine Inkompetenz vor kurzem mit diesen Worten: Was kannst du eigentlich? Darüber dachte ich dann ein wenig nach, während er in einem flachen Waldstück anhielt, wo wir die Nacht verbringen konnten. Mose hat zahlreiche Talente und ist auf fast alles vorbereitet. Aus Kalifornien hat er einen aufladbaren Verdampfer mitgebracht, dessen medizinisches Cannabisöl nach Crème Brûlée schmeckt und für denkwürdige Abende sorgt.
Irgendwo in La France profonde, La France rurale - dem tiefen, ländlichen Frankreich, das Pferden und Ruinen vorbehalten ist und wo fast niemand lebt - rollen wir unsere Matratzen aus. Jonatan richtet unter unseren aufgehängten Rennrädern die Betten her. Da klingelt mein Handy. Ein paar Züge von dem medizinischen Cannabis hatten wir schon. Michael Rasmussen ist dran. Vor ein paar Tagen habe ich ihm eines meiner Bücher gegeben. Er sah einsam aus, wie er da so ganz allein nach der Etappe bei den Mannschaftsbussen stand. Er folgt der Tour de France auf Kosten der Zeitung Ekstra Bladet. Zu seinen Aufgaben gehört, die Etappen auf dem Rad zu erkunden, bevor das Peloton vorbeikommt. Vor kurzem hatten wir überlegt, dass wir mal einen Streckenabschnitt zusammen abfahren könnten. Ich erkundigte mich bei Rolf Sørensen, der meinte, der Col d'Aspin sei ein Berg, den ich bewältigen könnte.
»Gut, dass du anrufst«, sage ich. »Ich habe ein altes Rennrad, bin einigermaßen in Form. Natürlich nicht so gut wie du. Wie sieht es aus, komme ich mit, wenn du morgen den Aspin hochfährst?«
»Nein.«
»Okay. Ähm. Nur weil wir doch neulich darüber gesprochen haben.«
Michael Rasmussen schweigt. Es fängt an, ein wenig unbehaglich zu werden. Ich hätte vorsichtiger mit dem Cannabisdampf umgehen sollen, fällt mir jetzt auf.
»Aber Rolf meinte, das geht«, sage ich wie ein Idiot.
Dann merke ich, dass ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt habe.
»Ich meinte nicht, ob ich mit dir mithalten kann. Ich meinte, ob ich mich dir anschließen kann.«
»Klug zu fragen ist schwieriger, als klug zu antworten«, sagt Michael Rasmussen.
Wir lachen beide. Ich befinde mich in einer unerwarteten und ein wenig bizarren Situation. Auf irgendeinem Feld in Frankreich mitten in einem Lachanfall, zusammen mit der fremden Stimme. Es ist peinlich und witzig zugleich. Ich kenne ihn gar nicht, aber er lacht auch lange und herzhaft am anderen Ende der Leitung. Wir verabreden uns für den nächsten Tag auf der Autobahn Richtung Süden, La Pyrénéenne.
Neun Jahre, nachdem man ihn im Gelben Trikot aus dem Rennen geworfen hat, ist Michael Rasmussen zurück bei der Tour de France. Als ich den allseits beliebten Kommentatoren Jørgen Leth und Rolf Sørensen erzählte, dass Michael Rasmussen mich zum Radfahren eingeladen habe, schlugen sie vor, ich solle ihn fragen, wie er an die Akkreditierung gekommen sei. Sie hätten sich darüber gewundert, aber ihn aus Gründen der Diskretion nicht selbst gefragt. Denn wer entgegen aller Wahrscheinlichkeit und mit kaum jemandes Segen am Rand des Rennens umherstreift, ist unerwünscht, ein Geächteter, eine Persona non grata.
Halten jetzt an der Mautstelle in Toulouse
Wir hätten fast verschlafen. Die Dämpfe sorgten für einen tiefen Schlaf im Sommerwald, aber Jonatan lässt sein Handy den ganzen Morgen nicht aus den Augen.
Halten jetzt beim Aire de Volveste
Shell-Tankstelle bei km 257
Auf der Autobahnraststätte holen wir den schwarzen Wagen von Ekstra Bladet endlich ein. Michael Rasmussen frühstückt im Café der Tankstelle.
»Habt ihr im Auto geschlafen?«, fragt er neugierig.
»Ja.«
»So seht ihr auch aus.«
Michael Rasmussen ist dünn, wirklich ungeheuer dünn. Der Mann muss immer noch nah an seinem Wettkampfgewicht dran sein. Er hat einen flackernden, aber intelligenten Blick. Möwenaugen, würde Samuel Beckett sagen. Mit seinem Baguette und Espresso macht er einen kantigen Eindruck. Das sieht gut aus. Jonatan und ich putzen uns auf dem Klo die Zähne. Dann schlagen wir in der Bäckerei zu. »Fröhliche Naturfreunde« nennt Michael Rasmussen uns. Doch nach mehreren Tagen im tiefen Wald können frischer Kaffee und Croissants ganz schön reinhauen. Ich erinnere mich an die Frage über die Akkreditierung und erlaube mir die dreiste Bemerkung, dass er recht einsam wirkt, wenn er im Pressezentrum umhergeistert.
»Wenn wir neun Leute im Team waren, habe ich immer alleine übernachtet. Weil ich als Erster die Hand gehoben habe. Das nehme ich dann gleich für drei Wochen, okay? Ein Tour-Team besteht aus neun Fahrern, also gibt es ein Einzelzimmer. Wenn daraus aber eine Geschichte werden soll, schreibt man am besten: Michael Rasmussen bekam das Einzelzimmer, weil niemand mit ihm zusammenwohnen wollte. Somit ist meine Wahrheit zu einer Fußnote in meinem Leben geworden, einer Fußnote in der Erzählung darüber, wer ich war und bin. Vielleicht hast du recht damit, dass ich jetzt allein umherwandle. Ich bin kein Journalist, der durch die Gegend rennt und alles aufnimmt. Ich beobachte. Bleibe für mich. Ich muss meinen Platz finden, die Leute müssen sich wieder an meinen Anblick gewöhnen. Daran, dass ich wieder herumspuke, sozusagen. Langfristig glaube ich aber, dass ich den Fahrern guttue. Ich hoffe, die Tatsache, dass ich mich jetzt zeige, ist ein Schritt auf dem Weg, sich hier wieder etablieren zu können. In einer Position, für die ich meiner Meinung nach gut geeignet bin. Ich wäre ein guter Sportdirektor, wenn man mich lassen würde. Mein Herz ist hier verankert.«
»Wie hast du deine Akkreditierung bekommen?«
»Wie du deine?«
»Ich habe einen Antrag gestellt.«
»Das war bei mir nicht anders.«
»Renndirektor Prudhomme war dir in seiner kategorischen Ablehnung seit deinem Ausschluss ja sonst nicht gerade positiv gesinnt, finde ich.«
»Manchmal hat Verachtung offenbar auch ein Verfallsdatum. Natürlich kann es anschließend bitter werden. Aber es kann genauso gut einfach aufhören.«
Der Col d'Aspin nimmt in der Geschichte der Tour de France einen prominenten Platz ein. Außerdem ist er Teil der Erzählung über Michael Rasmussen. Im Laufe der Jahrzehnte ist der Berg zweiundsiebzig Mal überquert worden. 2004 lag Mickael Rasmussen - wie sein Name damals aus irgendeinem Grund buchstabiert wurde - allein an der Spitze, als die Tour über den hohen Bergpass in den Pyrenäen führte. An einem regnerischen Tag kam der dünne Däne als Erster über die Passhöhe, mit Lance Armstrong an seinen Fersen. Dänen und Franzosen haben ein Händchen dafür, Skandale in den Hinterhöfen des anderen zu verursachen. Louis-Ferdinand Céline, Paul Gauguin und Lars von Trier sind drei Ehrenmitglieder im französisch-dänischen Feindschaftsbündnis.
Auf dem Weg in die Pyrenäen bleiben wir dem schwarzen Auto dicht auf den Fersen. Am Fuß des Col d'Aspin plätschert ein Fluss, an dem wir uns zur Auffahrt bereitmachen. Jonatan löst mein Fahrrad von den Ketten im Lieferwagen. Ich halte nichts davon, wenn Hobbysportler sich wie Radrennfahrer anziehen, weshalb ich weder Fahrradkleidung, Fahrradschuhe noch einen Helm mitgebracht habe. Michael Rasmussen ist davon nicht besonders beeindruckt und schüttelt nur den Kopf. Ich erkläre ihm, was ein Mamil ist. Ein Middle-Aged Man in Lycra. Gewisse Männer in mittlerem Alter leiden unter einem falschen Selbstbild. Das sind als Gewinner verkleidete Verlierer, argumentiere ich, das maskuline und misslungene Pendant zu einer Milf. Michael Rasmussen ist jedoch eindeutig jemand, der gelernt hat, wie wenig die Meinung anderer wert ist. Er lächelt nachsichtig, während er sich für die Leser des Ekstra Bladet eine GoPro um die Brust schnallt. So werden die Skandalfahrer typischerweise verstoßen - voriges Jahr musste Lance Armstrong sein Dasein einige Etappen vor dem Peloton fristen, von seiner eigenen Vergangenheit an den Rand gedrängt.
In einer Bar am Fuß des Berges trinken wir einen Espresso, ehe wir auf der Toilette das letzte Gewicht loswerden. Er lässt mich vorfahren, während...
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