KAPITEL 1
»Endlich!« Der Stoßseufzer entwich der Brust ihrer Tochter, als die Brunnerin das Geburtszimmer betrat. Es stank nach Blut, Urin und Kot und dem süßlichen Duft des Fruchtwassers. Die Alte sog den Geruch ein, der sie beinahe ein ganzes Leben hindurch begleitet hatte. Es roch nach Tod. Ein rascher Blick auf die Gebärende zeigte ihr, dass sie nicht lange zögern durfte. Das Kind musste auf diese Welt, tot oder lebendig. In beiden Fällen konnte sie für das Leben der Mutter nur mehr beten.
»Zeig mir das Wasser«, herrschte sie Johanna an, die vor der groben Art ihrer Mutter zurückwich. Als sie ihr die Schüssel mit dem Fruchtwasser zeigte, tauchte Anna Gabriela den Zipfel eines weißen Tuches hinein, faltete es auf und hielt es gegen eine Kerze. Neben Blutschlieren zeigte das Tuch eine grünliche Färbung.
Das Fruchtwasser der Gebärenden war verdorben. Die schwarze Galle hatte bereits die Gebärmutter überschwemmt. Die Brunnerin gab für das Kind keinen Pfifferling mehr. Ohne den Gedanken laut auszusprechen, drehte sie sich zu ihrer Tochter um und zuckte mit den Schultern. Dann krempelte sie ihre Ärmel bis über die Ellenbogen hoch, schmierte ihre Arme mit Rindertalg ein und trat ans Bett.
»Artztin, hört Ihr mich?«
Die junge Frau öffnete die Augen. Ihr Gesicht war wie ausgeschwemmt. Es enthielt keine Konturen mehr, sondern nur noch die Spuren einer grenzenlosen Erschöpfung und eine Blässe zum Tode hin. Sie lächelte, als sie die Brunnerin vor sich sah.
»Brunnerin! Wehmutter!«, flüsterte die Artztin leise. »Holt mir das Kind. Es soll leben - und lasst mich verderben. Ich kann nicht mehr.«
»Es wird etwas wehtun«, entgegnete die Brunnerin energisch. »Und vom Sterben haben wir noch nicht gesprochen. Alles zu seiner Zeit. Ich habe Euch eine Rose mitgebracht. Für Euer Mädchen.«
Die Hände der Brunnerin glitten währenddessen den prallen Leib entlang. Die Artztin bäumte sich unter einer Wehe, warf den Kopf hin und her, hatte aber keine Kraft mehr zu schreien. Ein lang gezogenes Wimmern füllte den Raum. Geschickt griff die Alte zu, drückte, tastete, bohrte ihre Finger zwischen Gebärmutter und Leib. Zuletzt stieß sie ihre Hand in das Geschlecht der Artztin, um den Geburtsfortgang zu überprüfen. Was sie spürte, ließ sie erschrecken. Als die Schmerzen nachließen und die Artztin schnell und heftig nach Luft schnappte, forderte die Alte einen Strick. Ihre Tochter nickte und griff in einen Sack, der in unmittelbarer Nähe des Bettes lag. Ein kurzes Hanfseil kam zum Vorschein, speckig und dunkel, weil es bei unzähligen Geburten Dienst getan hatte. Langsam schmierte Johanna das Seil mit Rindertalg ein.
»Wir werden dein Kind holen, Artztin«, sagte Anna Gabriela so zuversichtlich, dass der werdenden Mutter ein Lächeln über die Lippen lief, ohne dass sie die Augen öffnete. »Es hat sich eine eigene Art gesucht, in diese Welt zu treten.«
»Es bringt mich um!«, flüsterte die Artztin.
Die nächste Wehe kündigte sich an. Blitzschnell nahm die Alte den Hanfstrick, der auf einer Seite eine Schlinge aufwies. Während die Artztin sich bäumte, schob sie die Schlinge mit der Hand in die Geburtsöffnung und schlang sie um das Bein, das sich dort aus dem Muttermund schob. Die Artztin schrie. Ihre Stimme kreißte schrill, höher, immer höher, und brach gurgelnd ab.
Die Brunnerin hatte selbst neun Kinder geboren und kannte den Schmerz. Was sie der Artztin jetzt zufügen musste, hielten nur kräftige Naturen aus. Das Kind kam mit den Beinen voran, genauer mit einem Bein voran und steckte tief in der Geburtsöffnung. Wo sich das andere Bein befand, konnte die Brunnerin nur vermuten, glaubte aber, dass es genau dieses Bein war, das die Geburt so hässlich verzögerte.
Aus dem Unterleib der Artztin ragte der Strick, den sich jetzt die Brunner-Tochter um das Handgelenk wickelte, während die Alte mit beiden Beinen auf das Bett kniete, um sich von oben auf den Bauch werfen zu können.
Die Wehmutter betrachtete die Augen der Artztin. Schmerzstillenden Tee brauchte sie nicht mehr zu geben, auch keine Blätter, die Krämpfe linderten. Die geweiteten Pupillen zeigten ihr deutlich, dass Johanna alles versucht hatte.
Wieder deutete sich eine Wehe an. Die Brunnerin wartete, bis sich das Gesicht der Gebärenden verzerrte, dann nickte sie. Im gleichen Augenblick begann ihre Tochter das Seil zu spannen und vorsichtig zu ziehen. Die Brunnerin legte sich auf den Oberbauch, fuhr mit den Händen die Seiten der Artztin entlang und drückte, schob, presste. Die Artztin schrie, als würden sie ihr bei lebendigem Leib die Gliedmaßen ausreißen. Anna Gabriela hoffte, dass dem Kind eben diese Prozedur erspart bleiben würde und es zumindest in einem Stück kam. Johanna nickte. Tatsächlich erschien in der Scheide der Fuß des Kindes, blau verschwollen.
Die nächsten Minuten vergingen im Flug. Der Fortschritt der Geburt hatte die Wehen wieder geweckt. Sie durchliefen in schneller Folge den Körper der Artztin. Das Bein erschien ganz, der Strick wurde überflüssig. Johanna nahm jetzt die Position der Wehmutter ein und drückte gegen den Bauch, während die Alte mit ihren schmalen Händen das zweite Bein suchte, das steil aufgestellt erst mit dem Oberkörper kam. Am schwierigsten war das Köpfchen, das die Alte mit geschickter Drehung der Schultern aus der Öffnung zog. Ein Schwall grüner Flüssigkeit quoll heraus. Übler Duft füllte den Raum. Blut schoss hinterher.
Anna Gabriela interessierte das alles nicht mehr. Ein Mädchen - wie sie es vorhergesagt hatte. Das Körperchen gänzlich blau, die Lippen geschlossen. Sie nahm die Kleine, nabelte sie ab, hielt sie kopfunter und gab ihr einen Klaps auf den Po, aber sie rührte sich nicht, wollte nicht schreien. Innerlich betete Anna Gabriela, dass der Dämon am Himmel keine Macht über das Wesen bekam, dass es nicht an seinem Schweif hängen blieb auf seinem Weg vom Himmel herab auf diese Erde. Sie legte das leblose Kind auf den mit weißen Tüchern bedeckten Tisch neben dem Bett. Am Kopfende lag die Rose. Das Beinchen, an dem der Strick noch hing, schien länger zu sein. Anna Gabriela strich die Hüften entlang, um zu sehen, ob es ausgerenkt war. Es bestand kaum Hoffnung. Das Kind war tot.
»Eine Schönheit wärst du nicht gerade geworden, kleine Artztin«, flüsterte sie mehr zu sich und musterte die spitze Nase und das verquollene Gesicht. Trotzdem rubbelte sie den winzigen Körper ab, säuberte ihn von Blut und Talg, knetete ihn durch. Irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht aufhören sollte, es zu versuchen. Sie bewegte die Beinchen, drückte sie bis über den Kopf, um sie in das Hüftgelenk einspringen zu lassen, und plötzlich schrie das kleine Wesen, schrie es erbärmlich in die Kälte dieser Welt hinein, schrie mit der Verzweiflung, die wusste, dass es den Mutterschoß für immer verlassen hatte und nie würde dorthin zurückkehren können.
»Es ist ein Mädchen«, sagte die Alte, als sie sich zur Artztin umwandte und ihr das Kind auf die Brust legte. »Ein starkes Kind. Wenn auch etwas eigenwillig.« Diese lächelte mit geschlossenen Augen. Der Zug des Todes um ihre Nasenspitze war verschwunden.
»Das darf es sein«, flüsterte sie kaum hörbar.
»Ein Mädchen?« Die Stimme gehörte dem Hausherrn, der beim ersten Schrei des Kindes das Zimmer betreten hatte. »Nur ein Mädchen?«
Wilhelm Artzt war ein breitschultriger Mann mit Vollbart und weit auseinander stehenden Augen. Sein fülliger Leib zeugte von seinem Gewicht bei den Entscheidungen der Stadt. Trotz der Wärme im Raum trug er ein Wams mit Pelzbesatz und wollene Strumpfhosen unter einem bodenlangen Hausmantel. Er dunstete einen Weingeruch aus, der mit dem Geruch des faulen Fruchtwassers mithalten konnte.
»Seid froh!«, blaffte ihn die Wehmutter an. »Ein Junge hätte Eurer Frau das Leben gekostet.«
»Mein Gott, mein Gott«, rief Wilhelm Artzt, als er seine Frau sah, die wie eine Leiche zwischen den Laken steckte, bleich und still.
Johanna hatte die Kleine bereits gewickelt, die blutigen Laken weggepackt und in einen Sack gestopft und frische Tücher ausgelegt. Sie warteten auf die Nachgeburt.
Johanna trug die Kleine zu ihrem Vater, deckte die Windel auf, damit er sehen konnte, dass es sich um ein Mädchen handelte. Wilhelm Artzt fluchte leise, aber Anna Gabriela, die das vorausgesehen hatte, berührte ihn am Arm.
»Ich habe ihr eine Rose mitgebracht, aus dem Garten. Es ist die letzte vor dem Winter.«
Sie ging zum Tisch hinüber, auf den sie die Kleine zuvor gebettet hatte, und nahm die Rose. In der Wärme des Zimmers war sie vertrocknet. Die abgestorbenen Hüllblätter bröselten ab. Anna Gabriela sah auf die welke Blume und musste schlucken. »Wie soll die Kleine heißen?«, fragte sie und räusperte sich.
»Sibylla!«, hauchte es vom Bett her. Die Mutter lächelte schwach.
Sie wird die Männer locken, dachte Anna Gabriela für sich, räusperte sich wieder. Selbst wenn sie keine Stadtschönheit wird. Womöglich wächst sich die Nase aus, und das verlängerte Bein wird sich geben .
»Dann will ich dir, Sibylla Artzt, diese Rose schenken. Du wirst aufblühen und duften wie diese Blume.« Die Wehmutter stockte, weil das letzte dürre Deckblatt auf die Windel gefallen war und eine trockene Knospe freigelegt hatte. »Aber .«, setzte sie an, konnte jedoch nicht weitersprechen.
Wilhelm Artzt stand vor dem Wickelbündel, das Johanna auf dem Arm hielt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als bereite ihm die Berührung Unbehagen.
»Was aber, Brunnerin? Wenn ihr schon Prophezeiungen aussprecht, dann will ich die ganze Wahrheit wissen....