Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Dieses Buch beschreibt die Belastungen einer Migration und ihre Auswirkungen auf die eingewanderten Menschen und ihre Nachkommen. Die Idee dazu entstand in vielen Beratungsstunden im Gesundheitszentrum für Migrantinnen und Migranten, das ich leite. Diese Institution gibt es seit sechsundzwanzig Jahren, und sie ist deutschlandweit die einzige ihrer Art. Finanziert mit Geldern aus dem Gesundheitsetat der Stadt Köln, gibt es dort kostenlose Beratungsangebote für Menschen mit Migrationshintergrund* mit dem Ziel, die psychosoziale Versorgung dieser Menschen zu verbessern und ihnen den Zugang zur Regelversorgung zu erleichtern. Da insbesondere die psychotherapeutische Versorgung in der Muttersprache lückenhaft ist, gehören kurzfristige Kriseninterventionen und mittel- und langfristige überbrückende Beratungsangebote sowie therapeutische Interventionen zum Kern des Angebotsspektrums des Gesundheitszentrums. Unsere Institution wird vor allem von Menschen mit türkischen Sprachkenntnissen in Anspruch genommen, wir können aber auch Angebote für Russisch sprechende Menschen machen. In der gegenwärtigen Situation erreichen uns gerade auch viele Anfragen deutscher Familien, die ukrainische Menschen aufgenommen haben, oder es kommen geflüchtete ukrainische Menschen zur Beratung.
Als Leiter dieser wunderbaren Einrichtung vertrete ich in dieser Position die Interessen von Migranten in der gesundheitlichen Versorgung und ermittele vorhandene Bedarfe. Mit der Zeit fiel mir auf, dass die Beratungsgespräche immer wieder um die gleichen Dinge kreisten. Jede Generation hat ihre spezifischen Themen. In der ersten Generation geht es um Phänomene wie Entwurzelung und Sehnsucht nach der Heimat, die zweite Generation ist mit Fragen ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit beschäftigt, und die dritte Generation kämpft mit Belastungen, die aus der Migrationsgeschichte ihrer Eltern und Großeltern entstanden. Im Laufe der Zeit kristallisierten sich Ähnlichkeiten und Gesetzmäßigkeiten heraus, die mich vermuten ließen, dass bestimmte Biographien oder Erlebnisse oft zu ähnlichen Verhaltensmustern und Belastungen führten. Und noch etwas anderes offenbarte sich: Die Geschichten der Hilfe suchenden Menschen legten nahe, dass es eine enge Verbindung zwischen den einzelnen Generationen und ihren spezifischen Problemlagen geben muss.
Durch die Beratungsgespräche ist es mir möglich, einen tiefen Einblick in das Leben der Menschen mit Migrationshintergrund zu bekommen, oft kommen zwei oder sogar drei Generationen derselben Familie zu mir. Ihnen allen ist gemein, dass sie durch ihre Migrationsgeschichte oder durch die Migrationsgeschichte ihrer Vorfahren Belastungen mit sich tragen, die oft von großer Tragweite für sie selbst und die Menschen in ihrer Umgebung sind. Vieles bleibt den Augen der Gesellschaft verborgen und wird innerhalb der Familien oder allein ertragen und verarbeitet. Einige dieser Belastungen jedoch bilden sich in daraus resultierenden Verhaltensweisen auch in der Öffentlichkeit ab. In dem Moment gewinnen Migrationsbelastungen eine gesellschaftliche Bedeutung, spätestens jetzt geht es uns alle an.
Es ist nicht verwunderlich, dass es zu Irritationen im Zusammenleben kommt, wenn Verhaltensweisen, die von keiner Seite so richtig erklärt werden können, auf Widerstand oder Missfallen stoßen. Die Menschen, die dieses Missfallen auslösen, sind sich in den seltensten Fällen bewusst über den Ursprung ihres Verhaltens und ihrer Beweggründe. Zu vielschichtig und verwoben sind die sich bedingenden Aspekte ihres Lebens. Da man nur dieses eine Leben kennt, wird die eigene Biographie schicksalsergeben hingenommen und nicht hinterfragt. Wahrgenommen wird lediglich die gesellschaftliche Ablehnung, die man unter Umständen erfährt und die ihrerseits ebenfalls zu Widerständen führt.
Die so entstehenden Kreisläufe stören das gesellschaftliche Zusammenleben und verhindern die Entstehung eines Gemeinsinns, obwohl wir auf so viele gemeinsame Jahre zurückschauen können. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei jährte sich 2021 zum sechzigsten Mal. Ich weiß von den meisten der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund aus meinem beruflichen und privaten Umfeld, dass sie sehr gerne in Deutschland leben und das Land ihnen zur Heimat geworden ist. Das heißt nicht, dass ihr Herz nicht auch immer noch an der Türkei hängt, selbst wenn sie die Heimat ihrer Vorfahren nur als Touristen kennen. Es sind zwei Herzen in einer Brust, auch das ist etwas, womit diese Menschen zurechtkommen müssen.
In diesem Buch beschreibe ich die Situation der ersten Einwanderergeneration und ihrer Nachkommen und erhoffe mir, dass es zur interkulturellen Verständigung beitragen kann und dass Menschen mit und ohne Migrationshintergrund mit Hilfe der Informationen und Antworten, die dieses Buch gibt, mehr Verständnis füreinander aufbringen können und dadurch das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft einfacher und bereichernder wird. Ich erlebe in Beratungszusammenhängen, dass auch die Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund im Gesundheitswesen aufgrund von Fehlannahmen oder Missverständnissen schwierig ist oder unnötig viel Zeit beansprucht. Auch was das betrifft, so hoffe ich, dass dieses Buch ein Beitrag dazu leistet, die Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund zu verbessern und zu erleichtern.
Die demographische Entwicklung zeigt uns deutlich, dass unsere Gesellschaft immer multikultureller, multiethnischer und multireligiöser wird. Wenn wir uns nicht mit einem bloßen Nebeneinanderher begnügen wollen, sondern die Ressourcen und Chancen einer solchen Gesellschaft nutzen wollen, führt der Weg dorthin über gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung. Wir müssen uns in unserer Vielfalt verstehen, um zu einer besseren Gemeinschaft werden zu können. Wenn wir mehr über einander wissen, fällt es leichter, einen Schritt aufeinander zuzugehen und uns gleichzeitig unsere (kulturspezifischen) Eigenheiten zu lassen.
Dieses Buch berichtet in erster Linie von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Viele der Erkenntnisse lassen sich jedoch nach meiner Erfahrung durchaus auch auf andere Ethnien und Migrationssituationen übertragen. In den Statistiken wird der Begriff Migrationshintergrund immer dann verwendet, wenn entweder der Mensch selbst oder einer seiner Elternteile nicht in Deutschland geboren wurde oder zwar hier geboren ist, jedoch einen anderen als den deutschen Pass besitzt. In diesem Buch soll der Begriff weiter gefasst werden, da die Auswirkungen der Migration auch in den Folgegenerationen noch deutlich spürbar sind. Er wird also auch für die dritte und vierte Generation der Einwanderer verwendet, unabhängig von der tatsächlichen Staatsbürgerschaft.
Nach der Analyse der Phänomene, die zu gesellschaftlichem Unmut führen und die uns die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund als zumindest teilweise missglückt einschätzen lassen, wird ein umfassender Einblick in das Leben von nach Deutschland eingewanderten Menschen und ihren Nachkommen gewährt. Dabei geht es auch um die Schilderung von Migrationsbelastungen, die Auswirkungen über die Generationen hinweg haben. Ziel dieses Buches ist es, über die bloße Bestandsaufnahme hinaus anhand einer detaillierten Bedingungsanalyse zu erklären, auf welche Weise sich die Migrationsbelastungen generationsübergreifend bis heute auswirken und damit unweigerlich auch die gegenwärtigen Phänomene mit bedingen. Die Betrachtung der Lebensgeschichten geschieht beschreibend und anonymisiert. Auf diese Weise soll den Lesern ein ebensolcher Blick auf die Mitmenschen mit Migrationsgeschichte ermöglicht werden. Autobiographische Züge erhält dieses Buch durch eigene Kindheitsgeschichten, da auch meine Biographie wesentlich bestimmt wurde durch die Einwanderung meiner Eltern nach Deutschland in den sechziger Jahren. Darüber hinaus fließen die (Lebens-)Geschichten der Menschen mit ein, die im Kölner Gesundheitszentrum für Migrantinnen und Migranten tagtäglich Rat suchen.
Es geht hier nicht darum, Unschuld zu beweisen oder Schuld zuzuweisen, sondern vielmehr darum, umfassende Kenntnisse über die hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund und die Reibepunkte des gemeinsamen Miteinanders zu vermitteln. Ich tue dies nicht zuletzt aus der Hoffnung, dass daraus ein größeres Verständnis füreinander entsteht.
In meinen Arbeitszusammenhängen sitze ich an der Schnittstelle zwischen den Menschen mit Migrationshintergrund und dem deutschen Gesundheitssystem. Ich erlebe jeden Tag, an welchen Stellen der »Sand im Getriebe« gute Lösungen verhindert oder für enorme Umwege sorgt. Ich spüre die Irritationen auf beiden Seiten, obwohl alle Beteiligten im Grunde die gleichen Ziele haben. Ich kenne die Sprachlosigkeit der Einwanderer, wenn es um die Stolpersteine in ihrem eigenen Leben geht und die Ahnungslosigkeit des Hilfesystems. Wir müssen so viel mehr übereinander wissen und miteinander reden. Berührungsängste müssen abgebaut werden. Wir haben eine gemeinsame Zukunft vor uns und die Aufgabe, diese für alle Seiten zufriedenstellend zu gestalten. Deshalb bietet dieses Buch Lösungsansätze und Handlungsempfehlungen, mit deren Hilfe ein Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft und die Führung eines interkulturellen Dialogs leichter gelingen können.
Nicht zuletzt aufgrund der eigenen Situation als Mensch mit Migrationshintergrund ist es mir wichtig, dass sich alle Menschen gleichermaßen angesprochen fühlen. Dennoch habe ich mich zugunsten eines ungestörten Leseflusses dafür entschieden, auf die Genderschreibweise zu verzichten.
* Es ist mir bewusst, dass der Begriff...
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