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Welche Beziehung hat die Malerei zur Katastrophe, zum Chaos? Was ist eine Linie, eine Ebene, ein optischer Raum? Gibt es so etwas wie Farbregime? Von 1970 bis 1987 hielt Gilles Deleuze eine wöchentliche Vorlesung an der legendären Experimentaluniversität Vincennes, die immer wieder in die Schlagzeilen und in Konflikt mit der Staatsmacht geriet. Die acht Vorlesungen von 1981, die in diesem Band nun erstmals veröffentlicht werden, zeigen Deleuze in action. Sie sind ganz der Frage der Malerei und der schöpferischen Kraft gewidmet.
Das Nachdenken über Werke von Cézanne, van Gogh, Michelangelo, Turner, Klee, Pollock, Mondrian, Bacon, Delacroix, Gauguin oder Caravaggio sind für Deleuze der willkommene Anlass, wichtige philosophische Konzepte aufzurufen und zu durchdenken: Diagramm, Code, digital und analog, Modulation und andere mehr. Gemeinsam mit seinen Studierenden erneuert er diese Begriffe und stellt unser Verständnis der kreativen Tätigkeit der Kunstschaffenden auf den Kopf. Konkret und fröhlich wird Deleuze' Denken hier in seiner Bewegung nachvollziehbar und lebendig.
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Die Vorlesungen, die Gilles Deleuze (1925-1995) von den 1970er Jahren bis Mitte der 80er Jahre hielt, sind untrennbar verbunden mit der Gründung des Centre universitaire experimental de Vincennes (CUEV) im Herbst 1968. »Vincennes« wurde auf Betreiben von Edgar Faure, dem damaligen Bildungs- und Erziehungsminister, als Reaktion auf die Studentenbewegung von 1968 geschaffen. Nach den Worten des Ministers handelte es sich um ein »Modellexperiment«, wobei sowohl Studenten als auch Werktätigen ohne Abitur interdisziplinäre Ausbildungen angeboten werden sollten, die durch neuartige Abschlüsse und eine ganz neue pädagogische Organisation eingerahmt waren. Sehr rasch wurde dieser neue Ort als Folge und Fortsetzung der Bewegungen des Mai 68 wahrgenommen. Hier fanden sich Studenten, Arbeiter, Arbeitslose, Aktivisten, ausländische Besucher, Neugierige usw. ein. Die bewegte Geschichte von »Vincennes« hielt bis August 1980 an, dann wurden die Gebäude auf Anordnung von Alice Saunier-Seïté, der damaligen Universitätsministerin, einer erbitterten Gegnerin der Existenz des Centre, und mit Unterstützung von Jacques Chirac, dem Bürgermeister von Paris, in drei Tagen dem Erdboden gleichgemacht.[1] Das war der Beginn der von 10Guattari so getauften »Winterjahre«.[2] Die Universität wurde nach Saint-Denis verlegt und die Lehrveranstaltungen in neuen Räumlichkeiten untergebracht, im Rahmen eines bescheidenen Institut universitaire de technologie, das heißt einer gängigen universitären Einrichtung.
Angeworben von Michel Foucault, der zum Zeitpunkt seiner Gründung Leiter des Fachbereichs Philosophie war, trat Deleuze seine Stelle in Vincennes aufgrund schwerer gesundheitlicher Probleme erst im Wintersemester 1970-1971 an. Da Foucault unterdessen ans Collège de France gewählt worden war, hatte François Châtelet, langjähriger Freund von Deleuze, die Leitung des Fachbereichs übernommen. Um die Gesundheit von Deleuze zu schonen, gestattete er ihm, lediglich eine Vorlesung pro Woche zu halten, dienstags vormittags. Im ersten Jahr hielt er seine Vorlesung über »Die Logik Spinozas«, dann über »Logik und Begehren«. Die ersten aus der Zusammenarbeit mit Félix Guattari - den er im Sommer 1969 kennengelernt hatte - hervorgegangenen Vorträge sollten dann zum Erscheinen von L'Anti-Odipe (Anti-Ödipus) führen. Die Vorlesungen dauerten ungefähr drei Stunden, unterbrochen von einer Pause.[3] Da Deleuze sich stets weigerte, in einem klassischen Hörsaal 11zu unterrichten, hielt er seine Vorlesungen bis zuletzt im Juni 1987 in einem Nebengebäude ab.[4]
In einem Sammelband von 1979 zur Verteidigung von Vincennes, dessen Existenz damals stark bedroht war, skizzierte Deleuze seine Vorlesungen und plädierte für die innovative pädagogische Praxis von Vincennes:
»Herkömmlicherweise spricht ein Professor vor Studenten, die mit einer bestimmten Disziplin beginnen oder darin bereits eine gewisse Kenntnis erlangt haben. Diese Studenten nehmen häufig auch an Veranstaltungen anderer Disziplinen teil; außerdem gibt es interdisziplinäre Lehrveranstaltungen, die aber nur von sekundärer Bedeutung sind. Im großen und ganzen werden die Studenten nach dem Wissenstand >beurteilt<, den sie in diesem oder jenem abstrakt betrachteten Fachgebiet erlangt haben.
In Vincennes ist es anders. Ein Professor, z.??B. der Philosophie, spricht vor einem Publikum, dem in unterschiedlichem Ausmaß Mathematiker, Musiker klassischer Schule oder der Popmusik, Psychologen, Historiker usw. angehören. Doch statt diese anderen Disziplinen >auszuklammern<, um einen besseren Zugang zu derjenigen zu bekommen, in der man sie unterrichten will, erwarten hier dagegen die Hörer beispielsweise von der Philosophie etwas, das ihnen persönlich nützen oder sich mit ihren anderen Tätigkeiten überschneiden könnte. Die Philosophie interessiert sie nicht wegen eines Abschlusses, den sie hier machen wollen, und sei es auf der untersten Stufe einer Einführung, sondern aufgrund eines unmittelbaren persönlichen Interesses, das heißt im Zusammenhang mit den anderen Gegenständen oder Stoffen, mit denen sie bereits einigermaßen vertraut sind. Die Zuhörer besuchen also eine Lehrveranstaltung, um etwas für sich selbst zu finden. Der Philosophieunterricht orientiert sich daher unmittelbar an der Frage, inwiefern die Philosophie Ma12thematikern oder Musikern usw. dienen kann - vor allem und gerade dann, wenn sie nicht über Musik oder Mathematik spricht. Ein solcher Unterricht gehört keineswegs zur Allgemeinbildung, sondern ist pragmatisch und experimentell und weist immer über sich selbst hinaus, gerade weil die Zuhörer aufgefordert werden, je nach ihren Bedürfnissen oder ihren Beiträgen einzugreifen.
[.] Die Anwesenheit zahlreicher Arbeiter und Ausländer bestätigt und verstärkt diese Situation [.]. Es gibt keinen Hörer oder Studenten, der nicht mit seinem eigenen Gebiet kommt, auf das die jeweils unterrichtete Disziplin >eingehen< muß, statt es beiseitezulassen. Das ist das einzige Mittel, eine Materie an sich und von innen her zu erfassen. Weit entfernt, sich den vom Ministerium geforderten Normen zu widersetzen, sollte die Lehre von Vincennes deren Bestandteil sein. [.] Heute hängt diese Methode faktisch mit der besonderen Situation in Vincennes zusammen, mit der Geschichte von Vincennes, die aber niemand beseitigen könnte, ohne gleichzeitig einen der wichtigsten Versuche einer pädagogischen Erneuerung in Frankreich zum Verschwinden zu bringen. Was uns bedroht, ist eine Art Lobotomie der Lehre, der Lehrenden und der Lernenden, gegen die Vincennes Widerstand leistet.«[5]
Während der Vorlesung hatte Deleuze lediglich kurze Notizen vor sich und wenige Bücher (manchmal sogar nur herausgerissene Seiten, wenn die Bücher zu dick waren), aus denen er Abschnitte vorlas. Er hat nie Vorlesungstexte verfaßt. 13Die redaktionelle Bearbeitung betraf ausschließlich Bücher, Artikel und Interviews. In Abécédaire jedoch erläutert Deleuze, daß er seine Vorlesungen gründlich vorbereitete und »in seinem Kopf« einübte:
»Es ist wie beim Theater, wie bei irgendeiner Gesangsnummer, es gibt wiederholte Proben, Repetitionen. Wenn man nicht viel repetiert hat, dann hat man auch null Inspiration. Eine Vorlesung bedeutet nun aber gerade: Augenblicke der Inspiration, oder sie bedeutet gar nichts. [.] Es geht letzten Endes darum, interessant zu finden, was man sagt. Und das kommt nicht von selbst: interessant, mitreißend zu finden, was man sagt. Das ist keine Eitelkeit, meint nicht, sich selbst interessant, mitreißend zu finden. Man muß den Stoff, den man behandelt, den man zusammenbraut, mitreißend finden. Dazu muß man sich zuweilen regelrecht anpeitschen. [.] Man muß sich selbst so weit bringen, mit Enthusiasmus über etwas sprechen zu können. Genau das ist der Sinn des Einübens, der Repetition.«[6]
Die Vorlesungen stellten häufig das Laboratorium für künftige Bücher dar, wobei der Stoff aber in einer anderen Form, in einem anderen Rhythmus und in einer anderen Klarheit als in den Büchern vorgetragen wurde. Es war eine andere Darstellungsweise der philosophischen Begriffe, wie er es auch im Hinblick auf Leibniz sagte, dessen Ausführungen in ihrer Dichte je nach Leserschaft variierten. In diesem Sinne sind die Vorlesungen keine Verdopplung der Bücher, sondern entfalten sie vielmehr auf andere Weise, unter einem anderen Licht, indem sie bestimmte komplexe Passagen durch 14eine außergewöhnliche pädagogische Zurichtung, dank ihrer Abschweifungen, der am Ende aufgegebenen oder veränderten Pisten, dank Augenblicken wechselnder Inspiration erhellen. Bestimmte Ausführungen, die in den Büchern auf wenige Zeilen oder Seiten verdichtet sind, werden in den Vorlesungen des längeren und geduldig entfaltet. Hier finden Leser von Deleuze nicht selten Erläuterungen, die aufgrund ihrer beeindruckenden Klarheit zu einem neuen Verständnis der Bücher verhelfen.
Von der Gesamtheit der Vorlesungen, die Deleuze gehalten hat, verfügen wir gegenwärtig nur über wenige komplette Jahrgänge, auch wenn das Tonmaterial beachtlich ist. Von den Vorlesungen...
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