Schweitzer Fachinformationen
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Fünf
Als ich am nächsten Morgen mit der U-Bahn nach Hause fahre, trage ich noch Jess' Jacke und nicht sehr viel mehr. Die wissenden Blicke der anderen Fahrgäste übersehe ich. Eine der Aufgaben, die Paul uns stellt, besteht darin, in der Rolle auf den Straßen von New York unterwegs zu sein und mit wildfremden Menschen zu reden. Wenn man das ein paarmal macht, kriegt man ein ziemlich dickes Fell.
Und auch wenn man in Hotelbars herumsitzt und sich von verheirateten Männern angraben lässt.
Das war einer der Gründe, warum ich auf Marcies Vorschlag eingegangen bin: nicht nur wegen der Kohle, sondern weil dieser Job mich auch als Schauspielerin weiterbringt. Marcie stellte dann den Kontakt zu Henry her. Der bezeichnet sich gern als Anwaltsgehilfen, ist aber de facto fest angestellter Privatdetektiv der Kanzlei. Unser erstes Treffen fand in einer Bar statt, was ich für ein Vorstellungsgespräch ziemlich merkwürdig fand, bis Henry mir erklärte, worum es ging.
»Glauben Sie, dass Sie damit klarkommen?«, fragte er damals.
Ich zuckte die Achseln. Andere Optionen hatte ich eher nicht. »Klar.«
»Gut. Gehen Sie raus, kommen Sie wieder rein, und versuchen Sie, mich abzuschleppen. Betrachten Sie's als Vorsprechen.«
Das machte ich. Und weil es sich sonderbar anfühlte, diesen grauhaarigen älteren Mann anzubaggern, fiel es mir leichter, in die Rolle zu finden. Stimme und Grundhaltung im Stil einer Femme fatale aus einem alten Film - so was wie Lauren Bacall in Tote schlafen fest -, und ich konnte mich hinter der Rolle verstecken.
Nachdem ich wieder reingekommen war, setzte ich mich an die Bar und bestellte einen Drink. Den Mann zwei Hocker neben mir würdigte ich keines Blickes.
Niemals direkt anmachen, hatte Henry gesagt. Es soll deutlich sein, dass Sie verfügbar sind. Aber die Männer müssen auf Sie zukommen, nicht umgekehrt. Die Unschuldigen dürfen nichts zu befürchten haben.
Hört, hört. Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass das Gehirn von Männern ganz anders funktioniert.
INNEN. SCHUMMRIGE NEW YORKER BAR - TAG.
Im Spiegel hinter der Bar sehen wir CLAIRE WRIGHT gelangweilt mit ihrem Glas spielen.
HENRY, ein schlanker Ex-Polizist Anfang fünfzig, setzt sich auf den Barhocker neben Claire.
HENRY Sind Sie alleine?
CLAIRE (mit lasziv kehliger Stimme, gedehnt) Jetzt nicht mehr.
Er schaut auf ihre Hand.
HENRY Sie tragen einen Ehering.
CLAIRE Ist das gut oder schlecht?
HENRY Kommt drauf an.
CLAIRE Worauf?
HENRY Darauf, wie schnell er sich abziehen lässt.
Ihre Augen weiten sich ob dieser Dreistigkeit. Dann:
CLAIRE Wo Sie das gerade sagen: Er sitzt in letzter Zeit recht locker. Und bei Ihnen?
HENRY Ob ich locker bin?
CLAIRE Sind Sie verheiratet?
HENRY Nicht heute Abend.
CLAIRE Dann ist das wohl mein Glücksabend.
Sie sieht ihn an - aufrichtig, entspannt, direkt. Eine Frau, die weiß, was sie will. Und sie will sich amüsieren.
HENRY (fällt aus der Rolle) Oh Mann.
ICH War das okay? Ich könnte auch einen anderen Ansatz probieren .
Henry lockert seinen Hemdkragen.
HENRY Mir tun die Kerle schon beinahe leid.
Drei Tage später saß ich in einer stillen Bar in der Nähe vom Central Park und hörte zu, als mir ein Geschäftsmann erzählte, dass er seine Frau nicht mehr attraktiv findet. Danach bekam die Gattin von mir die Aufnahme, und ich bekam von Henry vierhundert Dollar.
Der Job war nicht regelmäßig. Manchmal gab es drei oder vier Aufträge pro Monat, manchmal keinen einzigen. Henrys Arbeit bestand hauptsächlich in der Beschattung von Ehepartnern. Er folgte den Leuten heimlich, um sie auf frischer Tat zu ertappen. »Die meisten unserer Klienten sind Frauen«, hatte er mir irgendwann erzählt. »Und verdammt oft liegen sie richtig mit ihrem Verdacht. Denen ist vielleicht aufgefallen, dass ihr Mann ein besonders cooles Hemd ins Büro anzieht und dann später schreibt, er müsse länger arbeiten. Oder er hat ein neues Aftershave. Manchmal haben die Frauen auch schon eindeutige Nachrichten auf dem Handy entdeckt. Männer, die ihre Frauen verdächtigen, irren sich häufiger.«
Bei der Polizei war Henry als verdeckter Ermittler tätig, und es ist ganz klar, dass er seine Arbeit furchtbar vermisst. Wenn wir in Limousinen und Hotellobbys herumsitzen und auf unser Opfer warten, erzählt Henry mir von seinen Abenteuern.
»Man muss selbst in die Schatten abtauchen. Kriminelle spüren intuitiv, wenn man sie verabscheut oder sich vor ihnen fürchtet. Deshalb muss man es schaffen, an das zu glauben, woran sie glauben. Und dieser Teil ist am gefährlichsten. Nicht Waffen oder Gewalt. Sondern dass man aus den Schatten nicht mehr rauskommt. Dass sie Besitz von einem ergreifen.«
Ich sage ihm dann, er sei ein Method Actor, ohne es zu wissen, und erzähle ihm im Gegenzug Geschichten vom Schauspiel. Zum Beispiel aus meinem allerersten Kurs, in dem Paul uns eine Szene von Ibsen spielen ließ. Ich fand die anderen ziemlich gut. Dann mussten wir die Szene noch mal spielen, dabei aber Besenstiele auf den Händen balancieren. Wir scheiterten alle daran, dass wir zweierlei gleichzeitig tun sollten.
»Weil ihr die Rolle nicht gelebt habt«, erklärte Paul. »Ihr habt nur so getan als ob. Ihr habt nachgeahmt, was ihr bei anderen gesehen habt, aber nicht daran geglaubt. Deshalb seid ihr gescheitert, als ihr euch auf etwas anderes konzentrieren musstet. Was ich euch jetzt sage, ist das Allerwichtigste, das ihr jemals von mir hören werdet: Nicht denken! Ihr sollt nichts vortäuschen oder darstellen. Sondern in der Rolle handeln.«
Henry hält das für Blödsinn. Aber ich habe schon Schauspieler in der Garderobe wie verrückt niesen und schniefen sehen, und sobald sie auf der Bühne standen, war der Schnupfen weg. Ich habe erlebt, wie sich schüchterne Introvertierte in Könige und Königinnen verwandelten, wie Hässliche wunderschön wurden und Schöne abscheulich. Dabei geschieht etwas, das niemand erklären kann. Für eine kurze Zeit wird man zu einer anderen Person.
Und das ist das allerbeste Gefühl der Welt.
Heute Morgen sieht Manhattan aus wie ein Filmset. Belüftungsschächte dampfen träge in der Sonne, und die warme Abluft hat Löcher in den Schnee geschmolzen. Der gestrige Abend hat den Inhalt von Henrys Umschlag empfindlich angegriffen, aber ich kaufe trotzdem bei einem Deli Bagels für Jess und mich. Als ich rauskomme, liefern sich ein paar Kinder eine Schneeballschlacht, und ich mache spontan mit. Dabei denke ich: Wow. Ich bin wirklich und wahrhaftig in New York, dem New York. Diese Szene hier könnte aus einem Film stammen, und ich studiere an einer der besten Schauspielschulen der Welt. Das Drehbuch hat wohl doch ein Happy End.
Ist das nur bei mir so? Dass es mir vorkommt, als sähe ich mir ständig den Film meines eigenen Lebens an? Wenn ich in meinem Freundeskreis rumfrage, behaupten alle, sie kennen das nicht. Aber ich glaube, die lügen. Warum sollte man denn Schauspiel lernen, wenn nicht, um sich eine eigene Realität zu erschaffen? Auch wenn mir gerade einfiel, dass die Szene mit der New Yorker Schneeballschlacht aus diesem Schrottfilm Buddy - der Weihnachtself stammt.
Als ich in die Wohnung komme, höre ich Stimmen aus Jess' Zimmer. Sie telefoniert über Skype mit Aran, ihrem Freund, der gerade einen Werbespot in Europa dreht. Ich dusche schnell, überprüfe den Zustand der Jacke und klopfe dann bei Jess.
»Frühstück, Miete und Miss Donna Karan«, verkünde ich schwungvoll. »Gibt's schon Reaktionen?«
Jeden Morgen schaut Jess als Erstes im Netz nach, ob jemand sie in einem Blog erwähnt hat. Sie schüttelt den Kopf. »Noch nichts. Aber mein Agent hat gemailt. Soll mich bei einem Produzenten vorstellen, der gestern in der Vorstellung war.«
»Super«, sage ich und hoffe, nicht zu neidisch zu klingen.
»Und wie war deine Nacht?« Jess sagt es betont neutral. »Hatte um zwei noch nach dir geschaut, aber du warst schon weg.«
»Ach, war gut.«
Jess seufzt. »Blödsinn, Claire. Du hattest oberflächlichen Sex mit einem wildfremden Typ.«
»Das auch«, erwidere ich leichthin.
»Manchmal mache ich mir Sorgen um dich.«
»Wieso? Ich hab immer Kondome dabei.«
»Ich meine wegen deines Lebens, nicht wegen Aids oder so. Und das weißt du auch genau.«
Ich zucke die Achseln. Ich werde mich jetzt nicht auf eine Diskussion über mein nicht existentes Liebesleben einlassen. Jess hat nämlich eine Familie, und Menschen mit Familie verstehen mich nicht.
Ich hänge die Jacke auf und durchstöbere Jess' Wäscheschublade nach Dessous. Ganz unten stoßen meine Finger auf etwas Kaltes, Schweres. Ich nehme das Ding heraus. Es ist eine Pistole. Und zwar eine echte.
»Großer Gott, Jess«, sage ich verblüfft. »Was ist das denn?«
Sie lacht. »Hat mir mein Dad besorgt. Nur für alle Fälle. Die große böse Stadt und so.«
»Und du machst dir Sorgen um mich?«, sage ich fassungslos und ziele mit der Pistole auf mich selbst im Spiegel.
»Vorsicht. Ich glaube, sie ist geladen.«
»Huch.« Behutsam lege ich die Pistole...
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