Schweitzer Fachinformationen
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»Das, was ich finde, wird mir sagen, wonach ich suche.«
Pierre Soulages
Die Klingel, einmal, riiing. Dann mehrmals. Ich weiß nicht mehr, wie sie klingt, schau an, ob es ein diskretes Läuten, ein schriller Alarm, ein durchdringendes Geräusch ist. Aber es klingelt, oh ja, dass es einem in den Ohren klingelt. Die Leute, die klingeln, warten nicht ab, bis aus dem Inneren des Hauses ein Zeichen kommt, gehen sofort die wenigen Meter von der Straße bis zur Haustür hoch, sie klingeln und gehen hoch, und ich benutze dieses Verb bewusst, sie gehen eine Art Steg hoch, der das Haus wie ein Schiff aussehen lässt. Ständig geht die Tür auf und zu, die Leute treffen grüppchenweise ein, man grüßt, erkennt sich wieder, manchmal kennt man sich nicht und manchmal nicht wieder. Dann stellt man sich vor. Es ist Winter, die meisten Gäste tragen Handschuhe, Schals, manchmal Kopfbedeckungen, dicke Mäntel, schwere Jacken. Irgendjemand, ich weiß nicht mehr, wer, nimmt es auf sich, all das auf einen erst halbwegs ordentlichen, dann ziemlich chaotischen Haufen auf dem Bett im Gästezimmer zu legen. Man reibt sich die Hände, schlägt sie sogar gegeneinander in der Hoffnung, sie aufzuwärmen, die Brillenträger wischen den Beschlag ab, der durch den Kontrast zwischen der Eiseskälte draußen und der Wärme im Haus entstanden ist. Es ist Sonntag. Man freut sich, hier zu sein, freut sich über ein Wiedersehen, auf das Zusammensein. Wie lange ist das schon her. Mindestens zehn Jahre. Ja, zehn, die Kinder waren noch klein.
Der Eingangsbereich muss geräumt werden. Um die Leute ins Wohnzimmer zu locken, wird verkündet, dass man im Salon eine Flasche Champagner öffnen werde. Beim Knallen des ersten Korkens, der zur Decke fliegt, zucken die Kinder zusammen, bellt der Hund, den jemand mitgebracht hat. Es sprudelt nur so, in regelmäßigen Abständen geht weiter die Klingel, die Schritte der Neuankömmlinge hallen auf dem Außensteg wider, im Salon wird es immer enger. Man klopft sich auf den Rücken, nimmt sich in die Arme, beobachtet sich aus den Augenwinkeln, man stößt an, Prost, und hopp. Irgendjemand fragt, wo ist sie denn. Ja, stimmt, wo ist sie denn? Oben, im ersten Stock, antworten wir, ich, mein Bruder, meine Schwester. Ach, sie macht sich wohl zurecht, erkundigt man sich. Ja, sie macht sich zurecht. Man lässt einen weiteren Champagnerkorken knallen, einen dritten. Bald wird nicht mehr mitgezählt. Die Nachbarn kommen als Nachbarn, vielleicht nicht ganz so schick wie die anderen Gäste, aber dennoch haben sich alle fein gemacht.
Es wird etwas zum Knabbern bereitgestellt, sanfte, aber muntere Musik aufgelegt, alle bekommen vom Champagner rosige Wangen, man ist fröhlich, gestikuliert, lässt sich einander vorstellen. Wir, ich, mein Bruder, meine Schwester kommen in den Genuss unzähliger Bemerkungen, wie groß wir geworden seien, Fragen, was überhaupt aus uns geworden sei. Dieses Verb, werden. Und ihr, Kinder, was ist aus euch geworden?
Man wartet. Hält nach einem Lebenszeichen aus der oberen Etage Ausschau. Jemand mit weniger Geduld als die anderen geht hoch, um zu schauen, was los ist. Die Tür ist verschlossen. Enttäuscht kommt er wieder runter. Wir bekommen eben langsam Hunger, sagt ein anderer. Es werden weitere Champagnerflaschen geköpft. Wenn schon, denn schon. Wenn wir schon hier rumstehen, zusammengepfercht in diesem Wohnzimmer. Es ist lustig und ziemlich bewegend, all diese Leute zu sehen, die sich kennenlernen, sich einander vorstellen, ins Gespräch kommen. Seit dem Eintreffen der ersten Gäste ist mindestens eine Stunde vergangen. Vielleicht zwei. Es ist ihr Geburtstag, was treibt sie denn, murmelt ein mir unbekannter Mann. Alle sind stehen geblieben. Es gibt nicht genug Stühle, wir warten, niemand traut sich Platz zu nehmen, nicht einmal die Älteren. Ich entferne mich von meinem Bruder und meiner Schwester, hole mir noch ein Glas Champagner. Ohne sie fühle ich mich allein. Einsam angesichts dieser Menschen, die bereits in meinem Leben waren, als ich mir dessen noch nicht bewusst war. Von denen die meisten meine Eltern vor mir gekannt haben. Die mich als Baby, Kind, jungen Teenager kannten. Die mich before present kannten. Vor dem Heute. Ich versuche, mir durch die Menge einen Weg zur Champagnerflasche zu bahnen. Ich komme an mehreren Grüppchen vorbei, schnappe ein paar Gesprächsfetzen auf. Ich schaue zu Boden, um den Blicken auszuweichen, um mir ein zigstes Und-was-ist-aus-dir-geworden zu ersparen. Ein großer, sehr großer weißhaariger Mann sagt zu jemand anderem, ach, da war Jérôme dabei.
Jérôme.
Ich starre ihn an. Ihn kenne ich. Nicht sehr gut, aber ein bisschen. Ein alter Freund meiner Eltern. Er heißt Émile. Sofort habe ich das deutliche, wenn auch unbestimmte Gefühl, dass der Jérôme, von dem die Rede ist, etwas mit dem Jérôme auf meinem Personalausweis zu tun hat. Aufgewühlt setze ich meinen Weg Richtung Champagner fort. Ich kehre in die Mitte des Raums zurück, sehe, dass Émile nun allein in einer Ecke steht, bahne mir erneut einen Weg zwischen den Grüppchen hindurch, Entschuldigungen murmelnd, Verzeihung, Verzeihung, steuere direkt auf ihn zu mit dem Gedanken, jetzt oder nie, mir Mut zusprechend, da packt mich eine Unbekannte am Arm, oh meine Liebe, du bist eine richtige Frau geworden, das ist ja nicht zu fassen. Ich zwinge mich zu dem üblichen unpersönlichen Gespräch, versuche zu erklären, was aus mir geworden ist, während es in mir brodelt, wenn sie von dem weißen Tag wüssten, von der Stille, aus der ich mich kaum erst gelöst habe, und dann dieses Verb, das nichts bedeutet, werden, was ist aus mir geworden, überhaupt nichts ist aus mir geworden, von weitem sehe ich Émile, wie gern würde ich ihn ansprechen, ich habe Fragen an ihn. Endlich lässt sie von mir ab, ich laufe zu ihm, baue mich vor seiner hohen Gestalt auf, schaue zu seinem Gesicht auf, sage, ich glaube, du hast vorhin von einem gewissen Jérôme gesprochen, wer ist das? Er reißt die Augen auf. Was soll das heißen, wer ist das? Ja, wer ist das? Du weißt nicht, wer das ist, fragt er mich. Nein, antworte ich, nein, ich weiß nicht, wer das ist, ich weiß nur, dass ich seinen Vornamen trage. Also so etwas, sagt er.
Wir haben Hunger, wir haben Hunger, beginnen ein paar zu skandieren, andere fallen sofort ein, dann die ganze Versammlung, alle klatschen im Rhythmus, der Champagner ist ihnen zu Kopf gestiegen, sie sind betrunken und fröhlich, die Kälte draußen ist vergessen, außer wenn jemand die Glastür öffnet, um zum Rauchen auf den Balkon zu gehen. In der allgemeinen Hochstimmung kläfft der Hund. Die Kinder sind im Gästezimmer verschwunden, im Erdgeschoss, dort, wo der Berg aus Mänteln an einen schwergewichtigen Riesen erinnert, der in seinem Fellüberwurf vor Erschöpfung zusammengebrochen ist, dort, auf dem Bett, das auf einmal winzig wirkt. Man hört im oberen Stockwerk eine Tür gehen. Aaaaaah, rufen die versammelten Leute. Es wird auch Zeit, ruft jemand. Eine weitere Flasche wird geöffnet, der Korken knallt an die Decke und fällt einem Mann auf den Zinken, der brummt wie ein Bär, um alle zum Lachen zu bringen, und es klappt, alle lachen. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock sind Schritte zu hören. Dann, in diesem Haus kann man die Treppe sehen, erscheinen dort sehr schlanke Beine, in Strumpfhosen von einer zarten Farbe zwischen Gelb und Grün steigen sie herab. Alle schauen auf, richten den Blick auf die Beine, die auf uns zukommen. Niemand lacht mehr, alle sind verstummt. Es folgen ein perfekt geschnittener Minirock, ein schwarzer Pulli, schlicht und elegant. Dann ihr Gesicht mit diesem unvergesslichen Lächeln, darüber eine leuchtend blaue Lockenperücke. Meine Mutter.
Ich mag Partys nicht, hat sie den Tag über immer wieder gesagt. Ich habe Émiles Nummer bekommen, die er mir mit dem Angebot überreicht hat, ihn anzurufen, um über Jérôme zu sprechen. Solange und ihr Freund nahmen mich im Auto mit. Émile hat mich beim Aufbruch in den Wagen geschoben und mir ins Ohr geflüstert, dass auch sie Jérôme gut gekannt hätten. Im Auto atmete ich einmal tief durch und stellte meine Frage erneut, sag mal, Solange, Jérôme, wer ist das? Sie saß am Steuer. Ich auf der Rückbank, wie ein Kind. Im Rückspiegel sah ich sie die Stirn runzeln. Wie meinst du das, Jérôme, wer ist das? Ja, beharrte ich, wer ist das, Jérôme? Émile hat mir gesagt, dass ihr ihn kanntet. Und ich trage seinen Vornamen, meine Eltern haben ihn mir gegeben. Ich möchte wissen, wer das ist. Ah, seufzte sie. Sie warf ihrem Freund, der rechts neben ihr saß, einen Blick zu. Hast du ein bisschen Zeit? Ich bejahte. Dann komm mit zu uns, ich zeige dir ein paar Fotos.
Es war schon spät, ich war müde. Die Party hatte lange gedauert, es war ein gelungenes Fest gewesen, wir hatten alle viel getrunken und gegessen, es wurde sogar getanzt. Die Gäste gingen, wie sie gekommen waren, grüppchenweise in die schon lange hereingebrochene Nacht. Der dicke Riese auf dem Gästebett war zusehends abmagert. Ein paar Teller, ein paar Champagnergläser wurden abgeräumt, um den Gastgebern zu helfen. Wir, ich, mein Bruder, meine Schwester, waren vollkommen erschöpft. Aber ich war die Einzige, die aufbrach, sie wohnten noch dort, im Haus der Familie in einem Pariser Vorort. Ich zögerte zunächst, nahm Solanges Angebot dann aber an, überzeugt, dass ich eine solche Gelegenheit nicht noch einmal bekommen würde. Wir betraten eine Wohnung, die ich sehr schön fand. Der Sohn von Solange und ihrem Lebensgefährten war auch da, ein junger Mann in etwa meinem Alter, er spielte in einem gemütlichen Zimmer Gitarre, es war ein normaler, friedlicher Sonntagabend. Er würde seine Mutter wahrscheinlich nie vor fünfzig Leuten, die zwei Stunden auf sie warten, die Treppe...
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