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Verordnete Heiterkeit: Die olympischen Hostessen in ihren bayerischen Dirndln nachempfundenen Phantasie-Uniformen sollen den fröhlichen Charakter der Spiele 1972 verkörpern.
Der Star der Spiele: Mit sieben Goldmedaillen schwingt sich der US-Schwimmer Mark Spitz zum erfolgreichsten Olympioniken der Geschichte auf.
Die Sensation: Die deutsche Hochspringerin Ulrike Meyfarth ist erst 16 Jahre alt, als sie mit neuem Weltrekord die Goldmedaille gewinnt.
Trügerische Ausgelassenheit: Wenige Stunden vor der Katastrophe feiern israelische Teammitglieder nach einer »Anatevka«-Aufführung im Deutschen Theater mit Hauptdarsteller Shmuel Rodensky.
Nach dem Sprung lässt sich Ulrike Meyfarth von der Matte gleiten, federt über den Boden, das dunkle Haar wippt im Takt. Sie strahlt, wie nur ein 16 Jahre altes Mädchen strahlen kann, das gerade Olympiasiegerin geworden ist. 80000 Menschen haben sich für sie erhoben, ein Orkan des Jubels fegt durch das Stadion. Das Mädchen Ulrike hält sich die Hände vor die Augen und zieht sie wieder weg, als wolle sie ganz sichergehen, dass das hier wahr ist und kein Traum.
Als der Hochsprungwettbewerb am frühen Nachmittag begann, war Ulrike Meyfarth eine Gymnasiastin aus Wesseling bei Köln, die dankbar sein durfte, bei den Spielen dabei zu sein. Jetzt, da gleißendes Flutlicht das Münchner Olympiastadion erfüllt, ist sie die Goldmedaillengewinnerin und Weltrekordlerin ihres Sports und der Liebling nicht nur der eigenen Nation. Wenn ein Moment die Spiele von München aufs Schönste verdichtet, dann ist es dieser: das pure, das unschuldige Glück. Man müsste ein Herz aus Stein haben, um sich nicht mit Ulrike Meyfarth zu freuen.
Der 4. September 1972 ist ein Tag für die Geschichtsbücher. In der Olympiaschwimmhalle gleich neben dem Stadion gewinnt der trotz Schnauzbarts unfassbar gutaussehende Mark Spitz seine siebte Goldmedaille in sieben Tagen. Der Amerikaner steigt auf zum bis dahin erfolgreichsten Athleten der olympischen Geschichte. Im Ostblock nimmt man das für heute gelassen zur Kenntnis, denn der sowjetische Wundersprinter Walerij Borsow, der »weiße Blitz aus Kiew«, fliegt nach den 100 Metern auch über die 200 Meter als Erster durchs Ziel. Die bundesdeutschen Zeitungen sind an diesem Montag voll von Fotos und Berichten über die große Windjammerparade tags zuvor in Kiel, wo die Segelwettbewerbe der Münchner Spiele stattfinden. Bundespräsident Gustav Heinemann, der nicht zu Gefühlsausbrüchen neigt, hat sich dort zu dem Satz hinreißen lassen: »So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen.«
Die Jugend der Welt ist verliebt in München und seine Spiele. In die tänzerische Leichtigkeit dieser Tage, in die Begeisterung und die Fairness des Publikums, das auch Sportlern aus der DDR bereitwillig Beifall spendet, verliebt in die Wärme und die Neugier, mit der nur ein Millionendorf auf dem Sprung zur Weltstadt seinen Gästen begegnen kann. Verliebt in den freundlichen quergestreiften Dackel Waldi, das Maskottchen der Spiele, in die noch freundlicheren Hostessen in ihren Dirndln und in die Spielstraße im Olympiapark, auf der Künstler verrückte Sachen machen, als gehörten Sport und Kultur irgendwie zusammen. In das magisch geschwungene Glasdach des Olympiastadions und in das elegante Alltagsdesign Otl Aichers, das Hinweisschilder in Kunst verwandelt - Kunst in sanftem Himmelblau, Grün und Orange, doch niemals in Rot oder Schwarz, den Farben der Diktaturen dieses Jahrhunderts. »Es kommt weniger darauf an, zu erklären, dass es ein anderes Deutschland gibt, als es zu zeigen« ist die Leitlinie des Gestalters Aicher.
München 1972 sollte anders sein als Berlin 1936. Und es ist anders geworden, ganz anders. Nicht so formell, nicht so steif, nicht so dramatisch, nicht militärisch. Swing und Pop statt Marschmusik und Wagner. In Berlin prägten die Uniformen von Polizei, Wehrmacht und SS das Bild der Stadt, in München tragen die Sicherheitskräfte azurblaue Sakkos und nur sehr selten Waffen.
All die kühnen Hoffnungen der Organisatoren scheinen sich zu erfüllen. »Widerlegen wir die These«, hat Bundeskanzler Willy Brandt bei der Einweihung des Olympiaparks gesagt, »dass es den freundlichen Deutschen nur in Ausnahmefällen gebe.« Und so setzt sich alles zusammen zu einem Mosaik des neuen, lässigen Deutschland. Der Bundeskanzler selbst verkörpert diesen Zeitgeist, den Abschied von martialischem Auftreten, autoritärer Führung und bigotter Moral.
Vor den Augen der Welt tritt die Bundesrepublik in München aus dem langen Schatten der Nazizeit. Die Besucher sind überrascht, und wenn sie bei ihren deutschen Gastgebern überhaupt irgendetwas zu bemerken haben, dann höchstens, dass selbst der Frohsinn mit landestypischer Gründlichkeit organisiert ist. »Die erste Goldmedaille für die Deutschen!«, hat die Zeitung >L'Aurore< aus Paris nach der Eröffnungsfeier gefordert. »Ja, sie würden sie verdienen, weil sie uns das wunderbarste Schauspiel gezeigt haben, von dem man träumen kann.« Und der >Corriere della Sera< aus Mailand schrieb: »Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass die Deutschen sich gewandelt haben, das Stadion in München hat ihn geliefert.«
In der Bundesrepublik riecht es 1972 nach Aufbruch, nach Freiheit und Abenteuer und für manche sogar ein ganz kleines bisschen nach Revolution. Der Aufbruch von 1967/68 lebt weiter in der bundesrepublikanischen Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung, aber grenzenlos übersteigert mündet er auch im mörderischen Terrorismus der Roten ArmeeFraktion. Deren Köpfe Andreas Baader und Ulrike Meinhof sind im Olympiasommer nach Bombenanschlägen und Schusswechseln in Haft, es herrscht seit wenigen Wochen Ruhe in Deutschland. Und noch weiß niemand, dass diese Ruhe trügerisch ist.
'72, das sind weite Schlaghosen und enge Hemden mit Riesenkrägen, das sind dicke Koteletten und wallende Locken, Blumenkleider und Lederwesten, Schlager und Disco. Wer bei der Bundespost einen Telefonanschluss bestellt, bekommt nicht mehr automatisch das graue Wählscheibentelefon geliefert. Man kann jetzt wählen zwischen Grün, Rot, Orange und Gelb. '72 ist ein Lebensgefühl, das sich in den »heiteren Spielen« Bahn bricht, die der deutsche Olympiachef Willi Daume, der Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und Otl Aicher bis ins kleinste Detail geplant haben.
Beinahe ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis die Bundesrepublik eine liberale Demokratie im umfassenden Sinne wurde - nicht nur rechtlich, sondern auch politisch und vor allem gesellschaftlich, ein Gemeinwesen, das sich den Geistern der Vergangenheit stellt und sein Grundgesetz als Antwort auf den Horror des Nationalsozialismus versteht. Knapp zwei Jahre vor den Spielen war Brandt im ehemaligen Warschauer Ghetto auf die Knie gesunken. Es war zugleich das Eingeständnis von Schuld und die Bitte um Vergebung, eine ikonische Geste von einem, der selbst nicht hätte knien müssen. Ende April 1972 hat Brandt im Bundestag ein Misstrauensvotum überstanden, es war ein großes Drama, aber auch die große Bestätigung, die der Kanzler für seinen Kurs brauchte.
Das gereifte, geläuterte Deutschland präsentiert sich nun auch in München der Welt, und nur die halsstarrigsten DDR-Funktionäre können diese Bundesrepublik noch mit voller Überzeugung als Hort von Faschismus, Kapitalismus und Reaktion geißeln. Die Deutschen aus dem Osten haben selbst allen Grund zum Stolz: 1972 tritt die DDR erstmals mit eigener Hymne und unter eigener Fahne an. »Der Kapellmeister in München sollte unsere Hymne lieber gut einstudieren«, hat der Chefkommentator des DDR-Fernsehens, Karl-Eduard von Schnitzler, vorhergesagt, »denn er wird sie oft spielen müssen.« Und so ist es gekommen: Es regnet Goldmedaillen für die Ostdeutschen.
Auch in der DDR, in der Erich Honecker im Juni 1971 der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED geworden ist, spüren die Menschen Anfang der Siebziger einen Aufschwung, zumindest im Lebensstandard. Das ist die Ausgangslage, in der sich der Eiserne Vorhang zumindest ein ganz klein wenig bewegt. Der Moskauer und der Warschauer Vertrag sind im Juni 1972 in Kraft...
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