Schweitzer Fachinformationen
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Der rostbraune Lada knatterte und stotterte über die Autobahnabfahrt nordwärts. Lars saß auf der Rückbank und zählte die Punkte an der Wagendecke, wie es seine Mutter zur Eindämmung der Langweile vorgeschlagen hatte. Er war acht Jahre alt, und sein sechsjähriger Bruder Björn war neben ihm eingedöst. Der Kururlaub an der See brach an, und langsam stieg ein vertrauter Duft nach Salz und Dung in seine Nase.
Mutter Regine wandte sich vom Beifahrersitz nach hinten und zwinkerte ihm zu. Ihre rotbraunen Locken hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten. Sie hatte blau-türkise Augen, und Sommersprossen tummelten sich auf ihrem Möhrensaft-Teint. Vater Wolfgang trug ein fliederfarbenes Hawaiihemd und darunter eine feingliedrige Goldkette. Seine Sonnenbrille war fast so schwarz wie der dichte Vollbart.
"Der Junge braucht vielleicht Hilfe", zischte Regine. "Der Psychologe hat gesagt ."
"Heutzutage wird doch aus jedem Problem eine Krankheit gemacht. Lars ist nur ein Spätzünder."
Wie jedes Kind verabscheute es Lars, wenn Erwachsene sich unterhielten, als sei er nicht im Raum. Oder schlimmer noch - zu beknackt, um der Unterhaltung zu folgen, deren Gegenstand er war.
Sie reisten jetzt schon einige Jahre in die Ferienanlage Lürsen, ein Bauernhof in Carolinensiel an der Nordseeküste. Lars hatte letztes Jahr seinen Sandbohrer vergessen und hoffte, ihn auf dem Spielplatz wiederzufinden. Vater drückte eine Cassette ins Radio, und Phil Collins' In the Air tonight tönte aus den knarzigen Boxen. Lars spähte aus dem Fenster. Die ersten typisch friesischen Häuser zogen hinter knorrigen Bäumen vorbei. Er war in die jüngste Tochter der Hofes vernarrt. Ihr Name war Astrid.
"Wann sind wir endlich da?" Björn rieb sich das rechte Lid und klemmte sein Kuschelkissen auf den Gurt. Er schielte, und sein linkes Auge war mit einem Pflaster abgeklebt.
"Es ist nicht mehr weit, mein Lieber", sagte ihr Vater. Seine Stimme hatte jetzt wieder den grollenden und doch sanften Ton angenommen.
Lars schwieg noch immer und sortierte Panini-Sticker der kommenden Europameisterschaft.
Mutter wandte den Kopf zurück und lächelte ihn an. "Freust du dich auf die vielen Kinder?"
Lars nickte. "Ich möchte Panzer sammeln", flüsterte er schließlich, "Panzer sammeln."
"Aber du musst die Überbleibsel immer herausschaben, kratzen und pulen. Sonst fangen sie an zu riechen." Mutter hob den Zeigefinger und lächelte verschmitzt.
Der Geruch nach Gülle schwoll an, und sie tuckerten durch die Landstraße, die von üppigen Ulmen flankiert wurde. Vorbei an Schäfchen zur Linken. Lars freute sich bereits, die Tiere zu füttern. Noch mehr freute er sich auf Astrid. Am meisten jedoch auf die Panzer.
Schließlich bog der Wagen in die Zufahrt zum Hof ein. Sie waren angekommen.
Die Familie besuchte am ersten Abend ein Konzert des Shantychors von Carolinensiel. Bärtige Greise mit Seemannsmützen gaben sonor ihre Lieder zum Besten. Seine Eltern schlürften Jever und Köm und stimmten nach zwei geleerten Tulpengläsern in den Refrain des Chors mit ein. "Moin Moin, Moin Moin [.] Oh Jonny, Jonny, Jonny, komm mal ran, komm mal ran ."
In der Reederei Albrecht speisten sie zu Abend. Die Abenddämmerung ergoss sich in feurigem Orange über den Horizont, und Lars blickte wie erstarrt auf das Schauspiel. Er aß ein Brötchen mit Fischfrikadelle, trank dazu eine Capri-Sonne, und zum Nachtisch gab es ein Wassereis mit Orangengeschmack.
Die Ferienwohnung hatte ein rustikales Ambiente. Von der Decke baumelten ein halbes Dutzend Klebefallen, die von schwarzen Stubenfliegen übersät waren.
Als Lars im Morgengrauen erwachte, lehnte sein Vater bereits in einem Schaukelstuhl auf der Veranda, hatte die Beine übereinandergelegt und schmauchte sein Pfeifchen. Lars inhalierte tief die Rauchkringel, setzte sich auf den Baststuhl und blickte auf des Vaters Antlitz.
"Na Kumpel", lachte der ihn an, "bereit für den ersten Tag am Strand?"
Lars nickte. Und eine trockene Traurigkeit kullerte aus den Augen seines Vaters.
Einige Tage später hatte sich Lars wieder an den Urlaubsort gewöhnt, mit all den wohltuenden Sinneswonnen, die er feilbot. Wo das Meer zu Ende war, umspielte eine salzige Nordseebrise sanft seine Nase, und Lars nahm einen tiefen Schluck davon hinab in die Lungenflügel.
Allenthalben ragten Burgen aus dem Sand. Lars jedoch hatte vor dem Strandkorb eine tiefe Grube gegraben, die nicht von plündernden Kindern eingerissen werden konnte. Er hatte seiner Mutter versprochen, in Sichtweite zu bleiben und sich von der Wehrmauer fernzuhalten. Bewaffnet mit einem geflochtenen Korb und einem Schmetterlingsnetz aus hellgrünem Geflecht, marschierte er ins Watt hinaus.
Lars wich den Feuerquallen aus und watete durch den sonnengewärmten Schlick. Einen Augenblick hockte er sich hin und griff tief hinein, ließ den klebrigen Schlamm zwischen den kleinen Fingern matschen und zu Boden tropfen.
Lars blinzelte in den fernen Horizont, wo eindrucksvolle Fischkutter hinter der dunklen Wehrmauer entlangzogen. Das Sonnenlicht schien in seinem Rücken, und sein Schatten eilte ihm voraus. Er stellte sich vor, was der Kutter wohl heute gefangen haben mochte. Vielleicht eine Seeschlange oder Riesenkrabbe, womit sie die kleinen Kinder erschrecken konnten, die auf Bootstour mit an Bord waren.
Seine Panzersammlung war in den vergangenen Ferientagen beträchtlich angewachsen und trocknete auf dem Kaminsims der Ferienwohnung. Dieses Jahr nannte er prächtige Exemplare sein Eigen.
Ein scheuer Blick zurück zum Strand. Er war weiter ins Watt vorgedrungen als jemals zuvor. Die Umrisse der übrigen Wanderer erkannte er nur noch schemenhaft; kleine Schatten, die sich vorbeugten und ihre Schattenbilder fotografierten. Lars wollte sich immer schon im Watt eingraben, doch Mutter hatte es nicht erlaubt.
Etwas gedankenverloren strauchelte er fort, und mit einem erstickten Stöhnen, wie es für ein Kind seines Alters recht tapfer war, stieß er sich den rechten Zeh. Er wischte die Träne aus den Wimpern. Einen Augenblick lang hielt er inne und ließ sich auf seine zitronengelbe Badehose in den Schlamm fallen.
Lars sank mit dem Hinterkopf ein paar Zentimeter ein. Die Schatten am Horizont waren klein wie Ameisen, und ein kräftiger Nordwind zerzauste ihm wüst das Haar. Unter seinem Zehennagel staute sich Blut, und er sog es mit den Lippen heraus.
Schließlich entdeckte er voll Staunen den Stolperstein. Er hatte die Größe einer Herdplatte und war bis zur Oberkante im Watt eingesunken. Ihre kantige Beschaffenheit verriet, dass die Platte irgendwo herausgebrochen worden war. Eine dicke Salzkruste überzog den ganzen Stein, und dunkelgrüner Seetang schlängelte sich glitschig durch seine Furchen. Sorgsam befreite Lars die Oberseite von den Algenschlieren und tastete mit den Händen die Muster ab. Ein kleiner Schrecken fuhr über seine zarten Wirbel.
Zwar war der Stein stark verwittert, doch konnte er die Inschriften noch klar erkennen. In der Mitte zeigte es ein von zahlreichen Schlingen umranktes Bild von einem Fischleib mit greisem Menschenhaupt. Und auf dem Kopf eine dreizackige Krone. Selbst auf den Außenkanten waren kunstvolle Hieroglyphen eingemeißelt.
Ein unwillkürliches Jauchzen entglitt seiner Kehle, als er gleich neben der Steinplatte das imposanteste Exemplar eines Krabbenpanzers fand, das er jemals erblickt hatte. Er schien geradewegs aus seinen toten Fühlern auf Lars zurückzustarren. Der Panzer war größer als seine Faust, ja fast so groß wie die Scherbe und gesprenkelt mit einer feinen Schicht Grünbelag.
Lars gluckste, als er ihn umsichtig aus dem Watt hob. Er hatte auf ihn gewartet. Er packte die reliefartige Scherbe in seinen Flechtkorb. Dann zückte er sein Schweizer Taschenmesser. Er schabte, kratzte und pulte vorsichtig die fauligen Überreste aus dem Panzer. Außen glänzte er in Elfenbein mit etwas Zinnobergrün, und auf der Innenseite zierte ihn eine Maserung in warmem Ocker.
Feine Gischt umspülte warm seine Füße, und die Wellen brandeten immer höher. Dieser Panzer und diese Scherbe hatten auf ihn gewartet.
Er verstaute seine Beute und schlenderte, nicht ohne ein Lied auf den Lippen, gemütlich zurück. Ein Lied des Großvaters kam ihm in den Sinn. Wir sammeln Lumpen, Eisen, Silber und Papier. Ausgeschlagene Zähne sammeln wir.
Am Strand angekommen, schimpfte ihn seine Mutter fürchterlich aus. Sie hatte sogar den Strandwart alarmiert.
Als er ihr stolz seinen Fund präsentierte, rang ihr das ein warmes Lächeln ab, und sie streichelte Lars die Wange. Sie schlossen den Holzverschlag des Strandkorbs und brausten sich den Schlamm von den Füßen, bevor es wieder zum Abendessen ging.
"Und vergiss nicht Lars, du musst die Reste stets heraus schaben, kratzen und pulen, sonst fangen sie an zu riechen."
Am Abend hockten sie auf der Veranda und zählten Glühwürmchen.
Von...
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