Mythen: Führung beginnt mit einer Geschichte
Noch bevor Rom zu einem Weltreich wurde, war es eine Geschichte. Genauer gesagt, ein Netz aus Geschichten, die lange vor der ersten Legion oder dem ersten Aquädukt eine gemeinsame Identität schufen. Führung begann hier nicht mit Befehlen, sondern mit Erzählungen. Mythen wurden zum Fundament einer Stadt, die zur Weltmacht aufsteigen sollte und hielten Antworten auf existenzielle Fragen bereit, bevor die Römer überhaupt begannen, sie zu stellen: Woher kommen wir? Was legitimiert uns? Wozu sind wir bestimmt?
Die Gründungsgeschichten Roms sind bemerkenswert, denn sie weisen nicht nur eine, sondern gleich zwei zentrale Figuren auf: Romulus und Aeneas. Ihre Geschichten könnten kaum unterschiedlicher sein, und doch verschmelzen sie zu einer einzigen kulturellen DNA, die das Wesen Roms über Jahrhunderte prägen sollte.
Da ist einerseits Romulus, der wilde Gründer, er steht für rohe Kraft und kompromisslose Entschlossenheit. Als Kind ausgesetzt, von einer Wölfin gesäugt und von einem Hirten erzogen, wächst er am Rande der Zivilisation auf. Der Mord an seinem Bruder Remus mag auf den ersten Blick grausam wirken, symbolisiert jedoch einen entscheidenden Schritt: Romulus stellt Ordnung über sentimentale Bindung, Einheit über Blut. Seine Tat verdeutlicht, dass die Entstehung einer Gemeinschaft manchmal harte Entscheidungen erfordert. Romulus ist der Archetyp des entschlossenen Machers, der Klarheit schafft, wo Chaos herrscht.
Ganz anders agiert die zweite zentrale Figur: Aeneas, dessen Geschichte aus der griechischen Mythologie entlehnt wurde. Der trojanische Held flieht nicht aus Angst, sondern aus Pflicht. Als Sohn der Göttin Venus trägt er Verantwortung für die Zukunft seines Volkes. Er verlässt das brennende Troja mit seinem Vater auf den Schultern, den Götterbildern in der Hand und einer klaren Vision im Herzen. Seine Reise ist nicht Irrfahrt, sondern Schicksalserfüllung. Aeneas symbolisiert pietas - Pflichterfüllung gegenüber Familie, Göttern und Staat. In seiner Figur spiegelt sich das Ideal langfristiger Planung und göttlicher Legitimation.
So werden Romulus und Aeneas zum narrativen Doppelanker der römischen Identität. Gemeinsam formen sie den kulturellen Code einer Gesellschaft, die weiß, dass nachhaltige Führung zwei Kräfte braucht: Die Entschlossenheit, im Jetzt klare Entscheidungen zu treffen, und die Vision, langfristig Ziele und Verantwortung zu übernehmen. Diese Kombination von Stärke und Pietas, von pragmatischer Tatkraft und moralischer Verpflichtung, machte Rom zur Führungsmacht der Antike - und liefert bis heute wertvolle Lektionen für Führungskräfte, die nicht nur Manager, sondern Erzähler einer sinnstiftenden Geschichte und somit Quelle von Inspiration sein wollen.
Der erste Kaiser Augustus hat diese Lektion wohl am besten verinnerlicht. Wenn wir von Augustus sprechen, denken wir vielleicht zuerst an seine politischen Reformen, an pax romana (römischer Frieden), an den subtilen Übergang von der Republik zum Kaiserreich. Doch Augustus' vielleicht größte Meisterleistung war nicht staatsmännisch, sondern erzählerisch. Mit strategischer Klarheit erkannte er, dass Macht allein nie genügt, um dauerhaft zu herrschen - Macht braucht Erzählung, um akzeptiert, gar erwünscht zu werden. Augustus wurde so zum Vorbild einer Führungsfigur, die nicht nur Geschichte schreibt, sondern Geschichte erzählt. Im Mittelpunkt seiner narrativen Meisterleistung steht die Aeneis. Vergil, der poetische Kristallisationspunkt seiner Zeit, wurde von Augustus beauftragt, die Sage von Aeneas literarisch zu gestalten - nicht als ästhetische Spielerei, sondern als machtvolles Kommunikationsinstrument. Indem Augustus sich selbst in die Linie Aeneas stellte, wurde seine Herrschaft zur Erfüllung eines göttlichen Plans stilisiert, seine politische Macht zur historischen Notwendigkeit erklärt. Die Aeneis war eine imperial wirksame Erzählstrategie: Wer Augustus' Rom verstand, verstand es nicht als brutale Eroberung, sondern als logische Konsequenz eines vorbestimmten Schicksals. Die Legitimität des Kaisers ruhte nun nicht mehr allein auf Legionen, sondern auf Worten. Nicht Gewalt, sondern Geschichte formte die Grundlage seiner Macht.
In der Person des Augustus zeigt sich eine essentielle Einsicht über Führung, die bis heute aktuell ist: Macht wird erst dann nachhaltig wirksam, wenn sie erzählbar ist. Legitimität entsteht nicht allein durch Fakten, sondern durch Bedeutung, die in einer Geschichte sichtbar wird. Augustus wusste, dass militärische Siege verblassen, wenn sie nicht in den narrativen Rahmen einer göttlichen Bestimmung eingebunden sind. Diese Erkenntnis gilt unverändert: Ob in Rom oder in heutigen Organisationen - wer führen will, muss eine Geschichte erzählen können, die Sinn vermittelt, Richtung vorgibt und langfristig trägt.
Rom zeigt paradigmatisch, wie eng Mythen und Macht miteinander verflochten sind. Als Herrschaft nicht durch demokratische Wahl, sondern durch göttliche Zeichen und symbolische Legitimation gerechtfertigt wurde, mussten Mythen das leisten, was heute Mission Statements und Unternehmenswerte übernehmen: Sinn stiften, Identität formen, Zusammenhalt schaffen. Doch der Mythos Roms ging noch weiter. Er bot nicht nur Orientierung, sondern schuf zugleich eine emotionale Bindungskraft, die jede rationale Erklärung übertraf. Heute, in einer Welt voller Umbrüche und Unsicherheiten, ist diese Kraft des Narrativen aktueller denn je. Fakten allein genügen nicht, um Menschen nachhaltig zu führen. Was Führungskräfte brauchen, sind Geschichten, die mehr sind als schöne Worte - Geschichten, die Herkunft und Zukunft verbinden, die Bedeutung verleihen und Sinn erzeugen.
Moderne Organisationen erscheinen uns häufig als komplexe, rationale Gebilde, gesteuert durch Strategien, KPIs und Prozesse. Doch blickt man genauer hin, erkennt man Bemerkenswertes: Im Kern sind sie oft erstaunlich mythisch. Organisationen leben nicht allein von Zahlen oder abstrakten Zielen, sondern von Geschichten, die Menschen erzählen und weitertragen. Gareth Morgan (Images of Organization, 1986) beschreibt sie deshalb treffend als symbolische Systeme: Unternehmen funktionieren, weil Menschen sich innerhalb ihrer Erzählungen orientieren, Entscheidungen treffen und handeln. Karl Weick (Sensemaking in Organizations, 1995) ergänzt diesen Gedanken um eine entscheidende Dimension: Organisationen sind Orte des Sensemaking - Menschen verstehen erst durch gemeinsame Geschichten, wer sie sind, wozu sie da sind und was sie erreichen können. Mythen erfüllen exakt diese Funktion: Sie verleihen Bedeutung, schaffen Gemeinschaft und ermöglichen Orientierung gerade in unsicheren, wandelbaren Zeiten. Der "Garagenmythos" aus dem Silicon Valley etwa erzählt nicht bloß von Orten, sondern von Werten: Er steht für Kreativität, Unabhängigkeit, den Mut, im Kleinen zu beginnen und Großes zu wagen. Apple, Hewlett-Packard oder Google - alle teilen diese narrative Urzelle, die mehr ist als bloße Historie. Sie ist eine kulturelle Erzählung, die Identität stiftet und Mitarbeitende inspiriert. Auch Familienunternehmen setzen bewusst auf Mythen, wenn sie etwa von Gründern erzählen, die in kargen Nachkriegszeiten die ersten Bestellkataloge eigenhändig banden, oder von der kleinen Werkstatt, in der einst die Idee entstand, aus der ein Weltkonzern wurde.
Solche Erzählungen schaffen Nähe, Identifikation und vermitteln gleichzeitig Kontinuität und Wandel. Die Gründerfiguren dieser Geschichten sind archetypische Helden: Sie überwinden Krisen, treffen mutige Entscheidungen, verfolgen eine Vision - und laden nachfolgende Generationen dazu ein, dieses Erbe weiterzutragen.
Mythen wirken, weil sie Menschen in einer komplexen Welt Orientierung bieten. Sie geben Halt, indem sie erklären, woher man kommt und wofür man steht. Und sie bieten die Freiheit, Wandel nicht als Bruch, sondern als Teil einer fortlaufenden Geschichte zu begreifen. Wer heute führt, sollte daher bewusst darauf achten, nicht nur Strategien zu formulieren, sondern Geschichten zu erzählen - Mythen, die Identität schaffen, Wandel ermöglichen und Gemeinschaft stiften. Denn Führung durch Narration ist kein Beiwerk, sondern ein machtvolles Instrument für nachhaltigen Erfolg.
Mythen funktionieren dann besonders gut, wenn sie zu einem eingängigen Symbol verdichtet werden. Im Herzen Roms, auf dem Kapitolinischen Hügel, steht bis heute die Statue einer Wölfin, die zwei Neugeborene säugt. Diese lupa capitolina ist nicht nur eine bronzene Erinnerung - sie verkörpert den kulturellen Archetyp, aus dem die Römer ihre Identität und Führungskultur ableiteten: Kraftvoll und doch fürsorglich, wild und zugleich beschützend. Sie symbolisierte eine komplexe Mischung aus Instinkt und Ordnung, Stärke und Gemeinschaft. Die Wölfin wurde so zur narrativen Verdichtung römischer Führungsprinzipien, einer Projektionsfläche kollektiver Vorstellungen, die Emotionen band und Orientierung gab.
Bis heute nutzen erfolgreiche Organisationen genau diese narrative Kraft von Symbolen. Nehmen wir Apple: Der angebissene Apfel (ein Wortspiel mit dem "Bit") steht nicht nur für Technik und Innovation, sondern vor allem für Neugier, Rebellion und den Bruch mit herkömmlichen Regeln. Er verdichtet die Unternehmensphilosophie in einem einzigen Zeichen, macht sie sofort verständlich und emotional anschlussfähig. Ähnlich verhält es sich bei Tesla: Das markante "T" ähnelt einer stilisierten Speerspitze, symbolisiert mutigen Vorstoß und kompromisslose Zukunftsorientierung - und ist doch letztlich ein schematischer Querschnitt des Elektromotors, den...