Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Oh! Laß nicht die Flammen fehlen,
Sonst wärmt mein frierend Herz sich nie,
O Wollust, Folter aller Seelen!
Charles Baudelaire
Lili ist über fünfzig. Seit zwanzig Jahren geht sie regelmäßig auf Tanztees, besucht Tanzdielen und andere Veranstaltungen, auf denen man tanzen kann.
Als das Claridge damals seine Tanztees abschaffte, war es für sie ein harter Schlag. Fünfzehn Jahre lang war sie zweimal in der Woche dorthin gegangen. Sie liebte das Claridge besonders, weil das Publikum, ihrer Meinung nach, schicker war als in der Coupole, dem Royal-Lieu oder dem Balajo, wo der Pöbel sich traf, die Atmosphäre war kultivierter als im Tango, wo Hinz und Kunz hingingen. Jeden Dienstag und Freitag gegen vier Uhr nachmittags (außer während der zwei Sommermonate, die sie in Deauville verbrachte) parkte sie ihren Wagen auf den Champs-Élysées und steuerte zielsicher das berühmte Hotel an. Es war jedesmal dasselbe Vergnügen, wenn sie die Halle betrat und die Portiers und Liftboys sie begrüßten. Hier bewegte sie sich auf vertrautem Boden. Sie betrachtete sich kritisch im Spiegel auf der Galerie, stolz auf ihre immer noch jugendliche und zierliche Figur. Sie wußte, daß sie eine elegante Erscheinung war und kannte die Wirkung ihrer großen schwarzen Augen, die gegen das sorgfältig gepflegte Blond ihrer naturgewellten luftigen Frisur noch dunkler wirkten. Langsam ging sie auf den Tanzsaal zu, begrüßte im Vorübergehen ihren bevorzugten Tangopartner, dann den Mann, der so lüstern Rumba tanzte, den General, der wie einstmals sein Vorfahre auf dem Wiener Kongreß gekonnt den Walzer drehte, auch den kleinen Georges (so nannten ihn alle schon seit fünfzehn Jahren) und den schönen Victor in seinem etwas geckenhaften Aufzug, und Lionel, nach dem alle Frauen verrückt waren. Da kam Maryse, die beim Charleston unübertroffen war, Roberte, die, wie man munkelte, ihre Gunst nicht gerade verschenkte (und davon leben konnte!), Madame Hortense, die aus der Hand las, und die Comtesse, deren Wutausbrüche beim Personal berüchtigt waren. Lili reichte dem einen die Hand, der andere bekam ein Küßchen, bis sie zur Garderobe kam, ins Reich von Georgette, die über die Kundschaft wie über das Hotelpersonal mit eisernem Zepter herrschte. Georgette arbeitete hier seit 1933. Oh, was sie nicht schon alles mitbekommen hatte! Ihr brauchte man wirklich nichts vorzumachen! Sie war über Glück und Unglück fast all ihrer Kunden auf dem laufenden, sei es, weil sie sich ihr anvertrauten oder weil sie von ihr bei einem Gespräch belauscht wurden. Für viele war sie aber auch nur ein Briefkasten, und manchem Stammkunden half sie gern mal aus einer momentanen Verlegenheit.
«Guten Tag, Georgette. Was macht der Blutdruck heute?»
«Immer noch zu hoch, Madame Lili. Und Sie? Wie geht's mit dem Kreislauf?»
«Na ja, geht schon.»
Bevor sie den Saal betrat, prüfte Lili noch einmal kritisch ihr Make-up und den Sitz ihrer Frisur. Dann schritt sie mit hocherhobenem Haupt, ein Lächeln auf den Lippen, in den Saal.
Die Kapelle stimmte sich ein. Raoul, der Oberkellner, kam auf Lili zu:
«Guten Tag, Madame Lili. Sie sehen ja wieder bezaubernd aus . Was für ein elegantes Kleid Sie heute wieder tragen! . Ich habe Ihnen Ihren Stammplatz reserviert .»
Seit fünfzehn Jahren, zweimal in der Woche, dieselben Worte. Im ersten Jahr war es ihr lästig gewesen, doch mittlerweile gehörte es zum Ritual, das durch die kleinste Veränderung aus dem Gleichgewicht geraten würde.
Lili ging zu ihrem Tisch am Rand der Tanzfläche, nicht weit von der Kapelle entfernt, doch auch nicht zu nah, bestellte einen chinesischen Tee, machte es sich auf dem vergoldeten Stuhl so bequem, wie es eben möglich war, stützte sich lässig auf das Marmortischchen und blickte um sich.
Allmählich füllte sich der große Saal, alte Bekannte kamen an ihren Tisch, um sie zu begrüßen. Wenig neue Gesichter. Auch diesmal würde sie sich sicher keinen Ausschweifungen hingeben, dachte sie lächelnd. Und dennoch . was für Abenteuer hatte sie hier nicht schon erlebt, an diesem scheinbar so steifförmlichen Ort! Oh, nicht so viele wie anderswo, aber immerhin! . Gerührt erinnerte sie sich an den Tag, als ein junger Schauspieler, damals noch recht unbekannt, heute eine Berühmtheit, sie nach einem Tango, der bis an die Grenzen des Schicklichen ging, in den Fahrstuhl gezerrt hatte, um ihr dort ungestüm die Brüste und das Geschlecht zu bearbeiten. Anschließend, in der Hotelwäscherei im obersten Stock, hatte er sie auf den Bügeltisch geworfen, ihren Rock hochgeschoben, den Slip heruntergerissen. Dann war er mit solcher Wucht in sie eingedrungen, daß es ihr einen Schrei entriß. Um es sich bequemer zu machen, hatte er dabei ihre Arschbacken fest mit beiden Händen umklammert und sie hin und her geschaukelt. Während er sie vögelte, hatte er sie beschimpft.
Und noch heute ließ sie die Erinnerung an seine groben Beleidigungen lustvoll erschauern, so daß sie die Schenkel aneinander preßte. Anschließend hatte er sie an ihren Platz zurück begleitet, ihr die Hand geküßt und war fortgegangen. Die zwei- oder dreimal, die sie sich wiedersahen, hatten sie jedesmal auf die Schnelle gevögelt, entweder in den langen Fluren des Hotels, stehend im Fahrstuhl oder unter einem Tisch im Konferenzsaal im Schutz der großen grünen Filzdecke. Lili hatte dabei immer Angst, entdeckt zu werden, aber gleichzeitig steigerte die Angst ihre Lust. Eines Tages war er verschwunden. Erst auf der Leinwand hat sie ihn wiedergesehen.
Aber diese Zeiten waren vorbei. Nach Ende des Krieges hat Lili mit ansehen müssen, wie die Cafés, in denen man tanzen und flüchtige Bekanntschaften schließen konnte, von der Bildfläche verschwanden, eines nach dem andern. Im Augenblick gab es nur noch zehn. Wie lange noch? Trotz allem . man hätte sie erhalten sollen, im öffentlichen Interesse sozusagen. Für die Reichen wie für die Armen waren sie eine Notwendigkeit, für Jung und Alt, Männer und Frauen, für die, die zuviel Zeit, und die, die zuwenig hatten, für die, die nur tanzen, und die, die sich jemanden aufreißen wollten. Für die Einsamen, die nie jemanden kennenlernten, waren sie eine Zuflucht, und sei es auch nur für die Dauer eines Tanzes. Der Oberst kam hierher in beschwipster Laune, das Hausmädchen suchte sich hier einen Liebhaber, der Rentner ein wenig Jugendfrische, der Provinzkaufmann das Flair von Paris, die Dame reiferen Alters einen Gigolo, der Gigolo eine Kundin. Der Handelsvertreter wollte nur schnell eine Stunde zwischen zwei Verabredungen totschlagen, Geschäftsleute suchten Entspannung nach einer vollgepfropften Arbeitswoche, der Angestellte versuchte, die Schikanen seines Vorgesetzten zu vergessen. Wenn sie zum Bal de la Marine, ins Boule Rouge, ins Tango, in die Coupole, ins Balajo oder Java gingen, ins Tahiti oder zum Bal Nègre, ins Mikado oder sonstwohin: für ein oder zwei Stunden waren sie alle ihre Sorgen los. Beim Klang von Akkordeon oder Geige hatten sie das Gefühl, ihr eintöniges und banales Leben könnte sich irgendwann ändern. Es genügte, daß ein schlechter Imitator von Carlos Gardel einen Tango sang, und schon befanden sie sich im Geiste in der unendlichen Weite der Pampas, in den Armenvierteln von Buenos Aires, sie fühlten sich wie die Königin der Prärie oder ein Tangokönig. Im Walzerrausch verwandelte sich die kleine Modistin in eine junge, vornehme Wienerin, die von einem hübschen Offizier entführt wird. Die Rumba erweckte das Bild eines schönen dunkelhaarigen Jünglings mit schmalen, muskulösen Hüften in einer vielversprechend engen Hose. Die Frauen erblühten zu hübschen, wollüstigen Mädchen, und schon ein Augenzwinkern genügte, daß sie sich hinlegten «auf den Sand, der weicher ist als jedes Bett». Bei der Java mauserte sich der kleine Bankangestellte zu einem angriffslustigen und gewalttätigen Apachen aus einem Roman von Charles-Henry Hirsch. Und die Postangestellte spielte sich auf wie eine Prostituierte, der man nichts vormachen konnte. Ach, was waren das für wüste Feste samstagsabends im Java Bleue!
Beim Pasodoble reifte die dicke Germaine zu einer andalusischen Tänzerin und der kleine Riri entwickelte die Anmut eines Toreros. Doch die Königin aller Tänze, die alle Anwesenden in ihren Bann zog und auf die Tanzfläche trieb, wenn es plötzlich schummerig wurde, die Macht, die Jung und Alt, Könner und Nichtkönner miteinander vereinigte, war der Slow. Da war der Rhythmus plötzlich nicht mehr wichtig, auch nicht das Geschick des Partners, sondern nur noch seine körperliche Nähe. Beim Slow brauchte man sich kaum zu bewegen, zumal der Andrang so groß war, daß Figurentanzen gar nicht möglich war. Niemand kümmerte sich mehr um komplizierte Schritte, um die anderen Tänzer oder den Rhythmus: was allein zählte war das Beisammensein zweier Menschen, die sich nicht kannten, die vor den Augen aller Anwesenden für wenige Minuten wie in einer Paarung miteinander verbunden waren. Spannung lag in der Luft: der Mann zog seine Partnerin enger und enger an sich, die Frau lauerte auf eine intime Reaktion. Wenn sie mit Befriedigung gespürt hatte, was sie erwartet hatte, wandte sie sich von ihm ab, als sei sie schockiert. Wollte sie hingegen die Straflosigkeit des Tanzes und die Unverbindlichkeit des Ortes genießen, rieb sie sich mit Unschuldsmiene genüßlich an seiner Wölbung. Der verzückte Partner verstärkte daraufhin seinen Druck. Nicht selten ging es so weit, daß die Dame ein leichtes Zucken des Objekts verspürte...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.