Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die GOLDENFELS
Wenn Bootsmann Jan Przybylak von seinen zwölf Kadetten sprach, redete er nur von den »jungen Löwens« oder von seinen »starken Kerls«. Im Ton lag Stolz, auf seinem Gesicht ein wissendes Lächeln. Wir Kadetten hatten auf der Schule Steuermann oder Handelsmarine als unseren Berufswunsch angegeben, auf dem Ausbildungsschiff Goldenfels sollte Bootsmann Przybylak dafür die praktischen Fundamente legen.
Die HANSA-Reederei vertraute ihm ihren seemännischen Nachwuchs an. So viel Verantwortung war für einen Bootsmann ungewöhnlich, zumal er ein kleiner, fragiler Mann um die fünfzig war, der rot und grün nicht voneinander unterscheiden konnte. Er trug eine mächtige Hornbrille mit schweren dicken Gläsern, die er ständig bergauf schob. Die Matrosen erzählten auch Geschichten von einer Zuckerkrankheit und einer altersbedingten Netzhautablösung. Warum er trotzdem noch zur See fahren durfte, deutete ein Steuermann an, der mit ihm schon auf mehreren Schiffen gefahren war: Es liege an einer Ausnahmegenehmigung, die ihm die See-Berufsgenossenschaft erteilt habe. Die Reederei mache ihren ganzen Einfluss bei maßgeblichen Behördenvertretern geltend, weil der Bootsmann die HANSA vor Jahren einmal vor einem Millionenschaden bewahrt haben soll. Die Hoffnung allerdings, jemals als Steuermann auf der Brücke zu stehen, war wegen seiner Farbenblindheit vergeblich, das wusste auch Jan. Seit er vor zwanzig Jahren zum Bootsmann befördert und damit direkter Vorgesetzter der Decksbesatzung geworden war, saß eine inzwischen zerschlissene, ehemals weiße Steuermannsmütze wie festgeschraubt auf seinem Schädel. Als Unteroffizier hatte er ein Recht auf diesen sogenannten Sonnenbrenner. Kaum jemand hatte ihn je ohne dieses Statussymbol gesehen. Der Bootsmann rasierte sich täglich nass, danach betupfte er Wangen, Hals und Kinn mit dem mentholhaltigen Rasierwasser Mennen, besonders in den Tropen halte Mennen die Frische besonders gut, meinte er einmal. Sobald ich mit dem Putzen seiner Kammer an der Reihe war, säuberte ich Duschkabine und Klo, Waschbecken, Spiegel und Fußboden, baute seine Koje, wischte Staub und brachte sein Rasierzeug wieder in Ordnung. Ich hatte große Achtung vor unserem Bootsmann und wollte von ihm wahrgenommen werden. Jan Przybylak ging fast nie mehr an Land, vertrat sich nur noch selten die Beine an der Pier. Alle größeren Häfen auf den fünf Kontinenten hatte er während der letzte fünfunddreißig Jahre gesehen. Er war nicht länger an der Welt interessiert. Stattdessen gab er seinen jungen Kerls mit auf den Weg, wo sie sich für wenig Geld maßgeschneiderte Anzüge machen lassen konnten, nämlich in Karatschi, gab uns Tipps, in welchem Hotel er sich im südafrikanischen Durban am wohlsten gefühlt hatte, im Edward, nannte uns eine Hamburger Adresse, wo wir gut und günstig Elektronikartikel einkaufen konnten, das Kaufhaus Brinkmann in der Spitaler Straße. Trotz schwacher Augen las er viel: Schifffahrtsbücher, »Die Wache« von Nikos Kavvadias stand in seinem Regal, auch Stevensons »Schatzinsel«.
Kurz nachdem ich in Bremen an Bord gegangen war, hatte Bootsmann Jan mich zu sich bestellen lassen. »Warum kommst du erst in letzter Minute an Bord?«
»Seesack und Sütterlin«, meine Antwort akzeptierte er, ohne nachzufragen.
»Heuerbaas Ludwig Lessing hat mir von deinen Schwierigkeiten erzählt. Ich wollte mir jetzt selbst ein Bild machen.«
Auf meine Frage, welche Seewache ich gehen solle, sagte er: »Der Erste Offizier teilt die Wachgänger und Tagelöhner ein, nicht ich.« Als ich mich wegdrehen und seine Kammer wieder verlassen wollte, fügte er hinzu: »Ich glaube, wir kommen gut miteinander aus. Wie heißt du eigentlich?«
»Hagen«, antwortete ich.
»Mit Vornamen?«
»Ja.«
»Nie gehört. Hier heißt du Hannes. Einverstanden?« Er sah zu mir hoch. Ich nickte. Diese Begegnung überraschte mich. Ein derart unverkrampftes Gespräch hatte ich nicht erwartet, eher eines zwischen Ritter und Knappe. Bevor ich seine Kajüte verließ, gab er mir noch einen Hinweis: »Wenn du Fragen hast zu Tauwerk und Taljen, Marlspiekern und Persenningen oder wann welcher Knotentyp bei welcher Gelegenheit angewendet werden muss: Halte dich an den Altmatrosen Walter Meyer. Bei Walli lernst du am meisten.« Dann wandte er sich wieder seinem Lesestoff zu. Ich drehte mich um und verließ seine Kammer.
Der Erste Offizier steckte mich in die Mittelwache, besser bekannt als Hundewache und ungeliebt, weil sie nicht nur nachmittags von zwölf bis vier dauert, sondern auch zu nachtschlafender Zeit. Sie findet prinzipiell unter der Führung des Zweiten Offiziers statt. Die daran anschließende Wache von vier bis acht leitet immer der Erste Offizier, gefolgt vom Dritten Offizier, der traditionell die Wache von acht bis zwölf unter sich hat. Da er meistens auch der jüngste Nautiker ist und seinen Brückendienst unter den wachsamen Augen des Kapitäns erst noch lernen sollte, wird sie auch Kapitänswache genannt. Die deutschen Seeleute hatten diesen klassischen Wachrhythmus einst von der Royal British Navy übernommen, und er gehörte seitdem zum bewährten Zeitkorsett. Die Glasenuhr war dabei behilflich. Mit einem einzigen Glockenschlag erinnerte sie die Wachgänger daran, dass die erste halbe Stunde ihrer Schicht vorüber war; alle halbe Stunde kam ein neuer Schlag hinzu, zum Wachwechsel waren es schließlich vier Doppelschläge. Mit ihnen endete der Törn des einen Offiziers und der des nächsten begann. Vor langer Zeit, zu Segelschiffszeiten, hatte auf der Brücke stets ein mit Sand gefülltes Stundenglas - daher Glasenuhr - gestanden, das alle halbe Stunde umgedreht werden musste. So lange brauchte der feine Sand, bis er von der oberen Stundenglashälfte in die untere gerieselt war. Damit die Bordgemeinschaft dann wusste, was die Stunde geschlagen hatte, griff ein Matrose den Klöppel der Schiffsglocke und verbreitete alle halbe Stunde die aktuelle Uhrzeit mittels der entsprechenden Anzahl von Schlägen über das ganze Schiff.
Bootsmanöver an Land in der Schiffsjungenschule Elsfleth
Während meiner ersten Seewache erreichten wir die Außenweser, fuhren ein paar Meilen über die Nordsee, an der Kugelbake, dem Wahrzeichen Cuxhavens, und an Brunsbüttel vorbei und von dort die Elbmündung flussaufwärts Richtung Hamburg. Unser erstes Etappenziel hieß Schuppen 80/81 im HANSA-Hafen. Drei Tage lang übernahmen wir Ladung für unsere Zielhäfen. Es stiegen auch zwölf Passagiere zu, Ingenieure und Techniker mit ihren Familien, die Arbeitsverträge mit dem Schah von Persien geschlossen hatten, und ein Soziologe, der nach Indien wollte.
In Hamburg wurde ich mit Jonny als Lukenwächter eingeteilt. Wir hatten uns schon vor dieser ersten großen Reise auf der Schiffsjungenschule in Elsfleth kennengelernt und wurden Freunde. Er kam aus Kiel und war dort als Schüler bereits Leistungsschwimmer gewesen. Keiner machte die Mädchen so unverblümt an wie Jonny, keiner von uns ging so direkt zur Sache wie er. Jetzt sollten wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Ladung unangetastet blieb. Die Hauptaufgabe dieses dumpfen und langweiligen Jobs bestand darin, Hafenarbeiter allein durch unsere Anwesenheit im Laderaum davon abzuhalten, sich nicht an den verstauten Kostbarkeiten zu vergreifen und fremdes Eigentum mitgehen zu lassen. Ladungsdiebstahl war ein beliebtes Hobby vieler Schauermänner, gute Gelegenheit macht fleißige Diebe. Sie gingen dabei trickreich vor: Während die einen Pensum arbeiteten und im Akkord Stückgüter in die Luken packten und in die flachen Zwischendecks zerrten, suchten ein paar andere Beute. Wir beide sollten nun verhindern, dass sie Holzkisten aufbrachen, Kartons aufschlitzten oder Schlösser knackten. Die ungleich höhere Hürde allerdings mussten sie erst danach überwinden: das Raubgut durch den Freihafenzoll zu schmuggeln. Kein Hafenarbeiter auf der Welt - und ein Hamburger schon gar nicht - ließ sich gern erwischen. Überführte Ladungsdiebe wurden von ihren Arbeitgebern fristlos entlassen. Besonders begehrt waren Zigaretten, Schweizer Uhren, Elektronikartikel, Kaffee, Haushaltswaren und Klamotten - alles Sachen, die ein Schauermann bei Hehlern auf dem Hamburger Kiez gut losschlagen konnte.
Jonny und ich mussten hellwach sein: Einerseits sollten wir keinen Krach riskieren und die Männer in Ruhe arbeiten lassen, denn diese standesbewussten Typen waren nicht gerade zartbesaitet und setzten ihre Interessen gern nachdrücklich mit barschen Worten und Prügelandrohung durch. Andererseits sollten die Lukenwächter zuallererst die Interessen des Schiffes und seines Reeders vertreten, der wiederum mit...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.