Sir James'
Todesclub
von Logan Dee
Sie alle kennen Sir James Powell, unseren Vorgesetzten bei Scotland Yard. Er ist in der Regel morgens der Erste im Büro und der Letzte, der es verlässt. Aber dann geht er nicht nach Hause, sondern in seinen Club, um ein wenig zu entspannen. Doch auch dort ist er stets für seine Mitarbeiter erreichbar. Im Grunde ist Sir James vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst, sieben Tage die Woche.
Nur in seinem Club kommt er etwas zur Ruhe. Jedenfalls war das bisher so. Dann aber schlugen auch dort die Mächte der Finsternis unerbittlich zu ...
»Du mich auch ...«, grummelte Erski?ne Moss leise, kaum hörbar, während er die schwere Eichentür hinter Sir James Powell zuschloss. Wie meistens war der Superintendent von Scotland Yard der Letzte im altehrwürdigen Club nahe der Themse gewesen. Und einer der wenigen, die ihm kein Trinkgeld in die Hand drückten.
Zum Teufel mit dem alten Geizhals!
Nun, da er allein war, erlaubte sich der junge Butler ein lautes Gähnen. Es war fast Mitternacht, und er hatte noch einiges vor. Aber erst musste er hier Ordnung schaffen, sonst würde Slugger ihm morgen wieder die Hölle heiß machen.
Archibald Slugger war der Oberbutler und somit sein direkter Chef. Ein alter Knochen, der nicht die geringste Nachlässigkeit durchgehen ließ. >Dienen mit Freude< hieß seine Devise. Dabei war selten Freude auf seiner stets ausdruckslosen Miene zu sehen. Eigentlich nie.
Erskine Moss leerte die Aschenbecher (der Club war eine >geschlossene Gesellschaft<, darum war hier Rauchen noch erlaubt), wischte die Tische ab und räumte die Gläser in die Geschirrspülmaschine.
Dabei stellte er einmal mehr fest, wie sehr er seinen Job hasste. Er hatte ihn auch nur angenommen, weil er sich als Butler im Club ein bequemes Leben vorgestellt hatte. Man saß im Warmen, tat sich an den Whiskyvorräten gütlich und heimste von den Clubmitgliedern üppige Trinkgelder ein. Und wenn er es schlau anstellte, würde er den einen oder anderen Zausel noch zusätzlich um dessen Bares erleichtern.
Nun, bis auf die üppigen Trinkgelder hatte er soweit recht behalten. Insgeheim nannte er den Club den >Club der Geizhälse<.
Er war ja auch kein gelernter Butler wie die anderen. Sein Zeugnis war gefälscht, so wie vieles an ihm falsch war.
Nachdem er die groben Aufräumarbeiten erledigt hatte, bediente er sich an der Bar, die sich in einem Raum neben dem eigentlichen Salon befand. Er gönnte sich einen doppelten Whisky, einen fünfundzwanzig Jahre alten Laphroaig. Viel zu schade für die alten Knacker.
Während er genießerisch schlürfte, ging er wieder in den Salon zurück und ließ den Blick durch den großen Clubraum schweifen. Dunkle Täfelung, wuchtige Ledersessel. Regale mit alten Schinken und teure, abgenutzte Teppiche, die in den Jahrzehnten den Geruch der Zigarren und ihrer Besitzer angenommen hatten.
Ja, am meisten hasste Erskine diese Teppiche. Sie zu saugen war nämlich immer die meiste Arbeit.
Da vernahm er die Schritte.
Schnell versteckte er das Glas hinter dem Rücken.
Aber da war niemand!
Zumindest ließ sich niemand blicken.
»Hallo?«, rief er zaghaft. Wahrscheinlich war irgendein seniles Clubmitglied in einem der angrenzenden Räume eingeschlafen und gerade aufgewacht. Und jetzt tapste er hier umher.
»Hallo?«, rief Erskine nun etwas energischer. »Sir?«
Er sah noch immer niemanden. Dafür hörte er die Schritte nun unmittelbar vor sich.
Im nächsten Moment spürte er einen eiskalten Hauch.
Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück, aber die Eiseskälte blieb.
Seine Finger waren so klamm, dass das Whiskyglas seinen Händen entglitt und zu Boden fiel.
Gleichzeitig schlug die große Standuhr Mitternacht.
Erskine zählte im Stillen die Schläge mit.
Elf ... zwölf ... dreizehn ...
Wieso dreizehn?
Für ein paar Momente war er abgelenkt, aber als er nun nach dem heruntergefallenen Glas sah, war es verschwunden. Stattdessen blickte er in einen kreisrunden Spiegel, der auf dem Boden entstanden war.
Schatten bewegten sich darin. Dann aber klärte sich das Bild, und er sah - sich selbst!
Aber es war nicht sein Gesicht, das der Spiegel zeigte. Wie auf einem Bildschirm sah er sich im Casino am Roulettetisch stehen, während sich das Rad drehte. Und drehte ... und drehte ...
Unwillkürlich wusste Erskine, dass er alles auf eine Zahl gesetzt hatte. Welche aber, das wusste er nicht. Nur wenn sie nicht kam, dann war er nicht nur pleite, dann konnte er sich gleich einen Strick nehmen.
»Guten Abend!«, vernahm er eine Stimme im Rücken.
Er fuhr herum und erblickte einen freundlich lächelnden alten Herrn.
Der Mann war klein, fast zierlich. Das dichte graue Haar war sorgfältig gekämmt, die hellblauen Augen blitzten schalkhaft, und die Lachfältchen um seinen Mund verrieten Humor.
Gekleidet war der Mann in einen dreiteiligen braunen Tweedanzug irgendwie altertümlichen Zuschnitts. Die blank geputzten handgenähten Schuhe wirkten fast zu blank. Wie auch die ganze Erscheinung des Gentleman nicht ganz echt wirkte. Zudem ging auch diese unnatürliche Kälte von ihm aus, wie Erskine nun feststellte.
Trotz der vordergründigen Freundlichkeit glaubte Erskine, unter dieser Schicht noch etwas anderes zu spüren.
Gefahr!, signalisierte ihm sein Gehirn.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr erschreckt«, sagte der Mann nun. »Ich habe Sie schon eine ganze Weile beobachtet. Eigentlich seit dem Tag, als Sie hier anfingen. Und Sie waren mir auf Anhieb sympathisch.«
»Wie ... meinen Sie das?« Erskine entspannte sich ein wenig.
»Nun, Sie sind ein Freigeist, junger Mann. Sie scheren sich nicht um das, was man gemeinhin Etikette nennt. Sie hintergehen Ihre Vorgesetzten, mogeln sich durch, wo Sie nur können, nehmen jede Gelegenheit wahr, sich zu bereichern, und in Ihren Gedanken schicken Sie das ganze Pack zur Hölle.« Er lächelte breit. »Ist es nicht so?«
Konnte der Typ etwa Gedanken lesen? Und auf was spielte er da an, wenn er ihm unterstellte, sich zu bereichern?
»Nun, ich dachte an die Geldscheine, die Sie jedes Mal aus den Geldbörsen der Herren fischen, wenn Sie deren Mäntel und Jacken aufhängen. Sie sind schlau. Sie entnehmen ihnen jedes Mal nur ein paar Pfund, damit es nicht auffällt. Aber in der Summe kommt da einiges zusammen. Habe ich recht?«
»Wer sind Sie überhaupt? Und was wollen Sie von mir? Haben Sie mich überwachen lassen? Sind hier irgendwo Kameras?« Hastig sah sich Erskine nach allen Seiten um.
»Das sind viele Fragen auf einmal, mein Junge. Wer ich bin, tut nun wirklich nichts zur Sache. Und was ich von Ihnen will? Ich will Ihnen helfen! Das Bild, das Sie im Spiegel gesehen haben ...«
Erskine blickte unwillkürlich zu Boden. Aber da lag nun wieder der ganz normale Teppich mit dem Whiskyglas. Der gute Tropfen hatte sich über den Teppich ergossen.
»... zeigt das, was Sie heute Nacht noch vorhaben«, sprach der Unbekannte weiter.
Der seltsame Kerl wusste tatsächlich alles!
»Sie wollten doch ins Casino und Ihr letztes Geld auf nur eine Zahl setzen, oder? Weil es geliehenes Geld ist. Oh, nur ein Teil Ihrer Gesamtschulden, ich weiß. Und der Mann, dem Sie es schulden, versteht keinen Spaß. Er hat Ihnen mit Folter und Schlimmeren gedroht, wenn Sie es bis morgen nicht zurückzahlen.«
»Woher ... woher wissen Sie das alles?«
»Spielt das eine Rolle? Ich will Ihnen helfen. Haben Sie den Gongschlag der Standuhr gehört?«
»Ja, und es waren dreizehn Schläge!«
Der alte Mann grinste breit. »Genauso ist es. Dreizehn. Verstehen Sie, was ich Ihnen mitteilen will?«
»Nein. Was zum Teufel?«
»Setzen Sie alles auf die Dreizehn!«
»Warum sollte ich das tun? Nur weil ...?«
Die letzten Worte blieben ungesagt, denn die Erscheinung war urplötzlich verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.
Zurück blieb eine fast unwirkliche Kälte.
Aber nicht nur deshalb fröstelte Erskine.
Sondern weil er sich sicher war, sich mit einem Geist unterhalten zu haben.
Ich fiel fast vom Stuhl, als ich die Musik hörte, die aus dem Büro meines Chefs erklang.
Auch Suko, der mir am Schreibtisch gegenübersaß, blickte mich entgeistert an.
»Hört ihr auch, was ich höre?«, fragte ich und bezog Glenda mit ein, die mir gerade Kaffee in meine Tasse nachschüttete.
»Was ist daran so ungewöhnlich?«, fragte sie und schenkte mir einen unschuldigen Augenaufschlag.
Da wusste ich, dass sie mehr wusste als Suko und ich und sich wahrscheinlich königlich über unser Erstaunen amüsierte.
»Seit wann hört Sir James während der Bürozeit Musik?«, fragte ich.
»Und dann noch in dieser Lautstärke!«, setzte Suko hinzu. »Das Lied kommt mir übrigens bekannt vor.«
»Mir auch, Suko, mir...