1. Kapitel
»Was ist der Creeper?«, fragte ich neugierig.
Sie nahm sich tatsächlich die Zeit, kurz stehen zu bleiben und mir zu antworten: »Der Creeper ist einer unserer ältesten Wächter. Du erweckst ihn aus seinem Schlaf, wenn du auf ihn trittst.«
Ich schaute stirnrunzelnd auf den Weg, sah aber nur grauen Kies.
»Und - was macht er?«
»Zunächst zieht er dich wie in einem Strudel hinab, dann zermalmt er dich bei lebendigem Leibe wie in einer Malzmühle. Es dauert Stunden, bis er sein Werk vollendet hat. Und du bekommst bis zuletzt alles mit. Seine Magie bewirkt, dass du nicht vorher stirbst. Nicht bevor er als Allerletztes dein Gehirn zermalmt hat. Glaub mir, es ist ein sehr schmerzhafter Tod.«
»Ich bin Schmerzen gewohnt«, sagte ich und dachte an die Anstaltshölle. »Aber ich möchte leben. Noch möglichst lange.«
Tatsächlich stahl sich so etwas wie ein leises Lächeln auf ihre schmalen Lippen. »Nun, das möchten wir doch alle. Und du siehst noch sehr jung aus. Du hast sicherlich noch ein langes Leben vor dir. Und jetzt komm weiter.«
Schade, ich hätte mich zu gern noch eine Weile in dem Garten umgeschaut. Er war verwildert, aber auf eine geheimnisvolle, verwunschene Art. Ob mein Vater ihn hegte und pflegte? Im Geiste sah ich ihn vor mir stehen, wie er mit der Gartenschere einen Eibenbusch zuschnitt ...«
»Schau nicht zu genau hin!«, zischte Thekla. »Der Busch ist von Kinkirsi verseucht. Mein Mann hat sie von einer Reise mitgebracht. Sie vermehren sich sehr schnell.«
»Was sind Kinkirsi?«, fragte ich neugierig.
»Buschdämonen aus Obervolta. Sie treiben Menschen wie Dämonen in die Besessenheit. Du scheinst mir noch sehr unerfahren, behauptest aber, eine Dämonin zu sein. Warst du jemals auf einer Hexenschule?«
»Oh ja«, seufzte ich. »Die Fürstin Bredica auf der Temeschburg hat mich unterrichtet.«
Thekla Zamis runzelte die Stirn. »So, so, die Fürstin Bredica. Nun gut, ich hoffe, du wirst mir gleich ausführlich erzählen, wer du eigentlich genau bist.«
Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich schon alles erzählt hätte. Wer ich war. Warum ich hier war. Gut, ich war sozusagen mit der Tür ins Haus gefallen, aber meine Flucht hierher war nicht von langer Hand geplant gewesen, sondern rein impulsiv erfolgt. Ich wusste einfach, wo ich hingehörte. Wer mir Schutz geben würde.
Mein Vater Michael.
Während wir weiter den gewundenen Weg auf das Haus zugingen, war ich mir nicht sicher, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, mich der Frau anzuvertrauen. Vielleicht hätte ich besser vor dem Gartentor herumlungern sollen, bis mein Vater aufgetaucht wäre.
Egal, jetzt war ich hier. Und außerdem glaubte ich, in der Stimme der Frau allmählich einen weniger abweisenden Ton herauszuhören. Ich folgte ihr weiter ins Haus, und als ich die Villa Zamis betrat, hatte ich sofort das Gefühl, angekommen zu sein. Ich sog den Duft ein, der in dem Haus herrschte. Jedes Haus hat einen anderen Duft, und dieser erinnerte mich auf seine Art an ein edles Parfüm. Zunächst roch ich all die oberflächlichen Dinge, die in diesem Haus stattfanden: Ich roch ihre Bewohner, ihre Besucher, die Zimmer, von denen die meisten kaum Geheimnisse bargen. Ich roch ihn, meinen Vater, das altmodische Aftershave, das er benutzte, aber auch den Duft seines Körpers ...
Die Herznote, wenn man es so nennen will, war ganz anderer Natur: Hier schmeckte ich bereits die Magie, die in sämtlichen Räumen allgegenwärtig war. Es war eine böse, eine schwarze Magie, und doch fühlte ich mich von ihr angezogen. Ich konnte nun mal nicht aus meiner Haut. Je tiefer ich den Duft inhalierte, desto nachhaltiger wurde er - und desto mehr eröffnete sich mir. Ich roch die Kellerräume, in denen die geheimen Zeremonien abgehalten wurden, die Diener, die nur zu besonderen Anlässen oder Familienfehden zum Leben erweckt wurden. Als Letztes erspürte ich die Basisnote: Gier, Machtstreben, Leidenschaft, Grausamkeit, Hunger nach - allem. Es war so heftig, dass ich davor zurückzuckte.
»Was schnüffelst du wie ein verängstigtes Kaninchen? Setz dich endlich!«
Thekla Zamis riss mich aus meinen Gedanken. Wir hatten die geräumige Küche erreicht, in deren Ecken und Winkeln Schatten zu hausen schienen, die dort irgendwie nicht hingehörten. Aber vielleicht sah ich nur Gespenster ...
Ich setzte mich auf eine Eckbank. Es roch nach Kaffee und Kakao, und für einen Moment stellte ich mir vor, jeden Morgen und zu allen Mahlzeiten hier Platz nehmen zu dürfen. Teil der Familie zu sein. Hatten die beiden Kinder? Töchter und Söhne? Dann wären es meine Halbgeschwister.
»Willst du eine Limonade?«, fragte Thekla.
Ich nickte. Erst jetzt spürte ich den Durst. Mein Hals war trocken, als hätte ich seit Tagen nichts getrunken. Und noch immer glaubte ich den beißenden Rauch in den Lungen zu schmecken, der bei dem Brand im Pfarrhaus entstanden war.
Thekla stellte mir ein Glas mit Limonade hin. Sie selbst hatte sich einen Kaffee eingeschüttet. Ich trank das Glas in einem leer. »Das schmeckt herrlich«, sagte ich.
»Ich habe sie selbst zubereitet. Aus Tollkirschen, die im Garten wachsen.«
Ich schluckte: »Sind die nicht giftig?«
»Kleine Närrin! Natürlich sind sie giftig. Erst trocknen deine Schleimhäute aus, dann kannst du kaum mehr schlucken, bekommst aber noch mehr Durst, viel mehr Durst ... Du glaubst, dass vor deinen Augen alles verschwimmt, dein Herz klopft wie rasend, du brichst in Schweiß aus, dir wird heiß, immer heißer, alles dreht sich um dich, du willst dich bewegen und taumelst umher. Vielleicht tobst du herum, schreist. Schließlich bekommst du kaum mehr Luft, du hechelst und keuchst, schließlich wird es schwarz um dich. Du stirbst ...«
»Aber ich spüre gar nichts«, sagte ich, nachdem ich ängstlich in mich hineingehorcht hatte.
»Dummerchen. Das alles passiert nur, wenn du ein Mensch bist. Du aber bist eine Dämonin, das hast du mir doch erzählt. Und ich spüre es. Du erzählst also die Wahrheit. Zumindest in diesem Punkt.«
»Ist das - ist das eine Art Test, ob ich nicht lüge?«
Diesmal lächelte Thekla wirklich, allerdings lag eine gehörige Portion Verachtung darin. »Natürlich habe ich gleich gefühlt, dass du zu uns gehörst. Besitzt du die Gabe, einen anderen Dämon zu erkennen, denn gar nicht?«
»N-nein.«
»Dann bist du wahrscheinlich noch nicht geweiht worden. Erst nach der Hexenweihe gehörst du vollständig zur Schwarzen Familie. Und jetzt erzähl mir, weshalb du gekommen bist!«
Es klang wie eine eher freundliche Aufforderung. Aber ich empfand es als Befehl. Mehr noch, sie unterlegte ihre Worte mit einer latenten Magie, die sich wie ein unsichtbares Netz um meine Stirn legte und sanften, aber beharrlichen Druck ausübte.
Also erzählte ich. Alles. Von Anfang an.
»Mein Name ist Juna. Juna Zadrazil ...«
Als ich geendet hatte, waren zwei Stunden vergangen. Zwei Stunden, in denen mein bisheriges Leben wie ein Bilderbogen noch einmal an mir vorübergezogen war. Zwei Stunden, in denen Thekla Zamis mir fast ein wenig teilnahmslos zugehört hatte. Nur wenn die Sprache auf meinen Vater gekommen war, war ihr Blick schärfer geworden, und ihre Lippen hatten einen fast verbitterten Zug angenommen. Und auch nur, wenn es um ihren Ehemann ging, stellte sie ab und zu eine Zwischenfrage: »Du sagst wirklich die Wahrheit? Irrst du dich nicht? Bist du dir sicher, dass er es war?«
Schließlich, als ich schwieg, schwieg auch sie zunächst. Ich erkannte an den Falten auf ihrer Stirn, dass sie angestrengt nachdachte. Während ich mir immer unsicherer wurde, wie sie reagieren würde. Würde sie mich aus der Villa werfen? Sich auf mich stürzen und versuchen mir die Augen auszukratzen oder mich zu töten? Oder würde sie aufstehen, auf mich zukommen, mich in die Arme nehmen und flüstern: »Willkommen daheim!«
Bei dem letzten Gedanken machte mein schwarzes Herz einen Sprung. Ich würde eine Familie haben, eine richtige Familie. Und ich würde ihren Schutz genießen und alles tun, um geliebt zu werden ...
Aber nichts von allem geschah. Thekla Zamis sprang plötzlich auf und sagte schneidend: »Nimm deinen Koffer. Wir müssen fort.«
»Aber wohin? Ich fühle mich wohl hier!«, widersprach ich verwirrt.
»Er darf dich hier nicht antreffen. Er darf dich nicht sehen, hörst du?«
Ich wusste, dass sie von meinem Vater sprach. »Aber warum denn nicht? Er ist doch mein ...«
»Schweig!« Ihr Befehl war so kalt wie ein Eisblock. »Deine Mutter war ein Flittchen, und du bist nur ein Hurenkind, ein Wechselbalg. Du hast hier nichts verloren.«
Für einen Moment streckte sich ihre Gestalt, wuchs zu einem hohen, krummen Schatten heran, der bis zur Zimmerdecke reichte. Die Hände schienen sich in Klauen zu verwandeln, und die Fingernägel streckten sich in die Länge, wurden zu langen Krallen,...