2. Kapitel
Mein Vater hatte vor der Bar auf einem Hocker Platz genommen. Ich sah ihm seine Ungeduld sofort an. In seinem langen schwarzen Ledermantel erinnerte er mich an einen unberechenbaren Revolvermann, der jederzeit ausrasten konnte.
Karl hatte ihm einen Mocca hingestellt, aber mein Vater hatte ihn nicht angerührt.
Ich trat zu ihm und reichte ihm die Hand. »Schön, dich zu sehen«, heuchelte ich.
»Das beruht leider nicht auf Gegenseitigkeit«, sagte er und sah sich um. »Kann man dich auch mal unter vier Augen sprechen, oder ist das hier eine Art Debattierclub?« Missmutig schaute er auf die anderen Gäste.
»Nein, natürlich nicht«, sagte ich rasch und verzog mich mit ihm in die Nische, in der ich keine zwei Stunden vorher mit Georg in Streit geraten war.
Als mein Vater damit herausrückte, was passiert war, war ich auf der einen Seite entsetzt, auf der anderen erleichtert. Also hatte Georg nichts von dem Pakt erzählt! Und dass die Selkies Lydias Auslieferung wollten, hatte sie sich nun mal selbst zuzuschreiben, so leid sie mir auch tat.
Als mein Vater jedoch mit Genuss erzählte, wie er die Selkie-Frau bei lebendigem Leibe zu Tode geröstet hatte, schüttelte ich fassungslos den Kopf. »Du hast sie getötet? Entschuldige, Vater, aber dann bist du nicht einen Deut schlauer als Lydia!«
»Was fällt dir ein ...?«
Aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Dazu war ich jetzt selbst zu wütend: »Wir haben weiß Gott genug Probleme!«, rief ich zornig. »Und ihr habt nicht Besseres zu tun, als die Selkies gegen euch aufzuhetzen! Jeder Jungdämon weiß, dass es Unglück bringt, einen Selkie zu töten. Sie lassen nicht eher locker, bis sie den Tod ihres Artgenossen gerächt haben.«
»Unsinn! Sie sind schwach und dumm. Du hättest sehen sollen, wie wir sie fertiggemacht haben!«, Trotz seiner markigen Worte spürte ich plötzlich so etwas wie Zweifel in seiner Stimme. Und dann folgte etwas, mit dem ich nie gerechnet hätte. »Georg hat mir erzählt, dass wir es dir zu verdanken haben, dass diese Mother Goose den Verjüngungsfluch von uns genommen hat. Dafür wollte ich dir persönlich danken.«
Mir blieb fast die Luft weg. Ein Satz für die Ewigkeit! Wann hatte sich mein Vater je bei mir bedankt?
Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, dass ein neuer Gast das Café betrat. Es war eine Blondine, deren atemberaubende Figur sich selbst unter ihrem Mantel abzeichnete. Sie stöckelte zur Theke und sagte irgendetwas zu Karl. Wahrscheinlich gab sie nur eine Bestellung auf, trotzdem war ich auf der Hut. Ich hatte die Blonde noch nie zuvor im Café gesehen.
»Was ist denn mit dir los? Du hörst mir gar nicht richtig zu!«, beklagte sich mein Vater.
»Doch, doch. Du hast dich bei mir bedankt«, murmelte ich.
»Verflucht noch mal, ja! Aber nicht allein deswegen bin ich hier. Wunderst du dich gar nicht, wie ich hierhergekommen bin? Nach wie vor beobachten die Selkies die Villa.«
»Davon hast du bisher nichts erzählt«, sagte ich und behielt die Frau im Auge.
»Kann es sein, dass die Blondine dort an der Theke dir gefolgt ist?«, fragte ich.
»Was?« Zum ersten Mal schaute er zu ihr hin. »Keine Ahnung, wer das ist. Und nein, sie kann mir nicht gefolgt sein, weil ich durch den Gang gekommen bin!«
Ich staunte ein zweites Mal. Ich wusste, dass es zwischen dem Café und der Villa eine kilometerlange unterirdische Verbindung gab. Allerdings kannte diesen Weg nur mein Vater.
»Ich bin nicht alleine hier. Ich habe Lydia mitgebracht. Es ist in der Villa zu gefährlich für sie. Du wirst sie einige Zeit hier verstecken.«
Ich wollte widersprechen, aber da wandte mir die Blondine das Gesicht zu. Im gleichen Moment ließ sie ihre Maske fallen. Ihr Gesicht verwandelte sich in eine hasserfüllte Fratze. Gleichzeitig ließ sie den Mantel fallen. Darunter kam ihre Selkie-Gestalt zum Vorschein.
»Halt!«, rief ich und sprang auf. Ich stürzte ihr entgegen, um sie aufzuhalten, aber sie war unglaublich schnell und glitt an mir vorüber.
Mein Vater war ihr eigentliches Ziel!
Im Café Zamis waren Hexerei und Magie außer Kraft gesetzt. Das gehörte zu den Eigentümlichkeiten dieses besonderen Ortes. Es hatte bislang nur wenige Ausnahmen gegeben. Aber die Selkie hatte es nicht nötig, sich ihrer magischen Mittel zu bedienen. Sie verließ sich allein auf ihre körperliche Stärke.
Mein Vater schaute erschrocken, reagierte aber sofort. Mit einem Fingerschnipsen wollte er reflexartig einen Abwehrzauber wirken. Aber nichts geschah. Zu spät musste auch er einmal mehr erkennen, dass seine magischen Mittel im Café versagten.
Die Selkie hatte ihn erreicht. Sie sprang meinen überrumpelten Vater an und schnappte knurrend nach seiner Kehle. Die beiden gingen zu Boden und rangen miteinander. Auch mein Vater verfügte über Bärenkräfte. Ich sah, wie seine Faust sich in die Fratze seiner Gegnerin versenkte. Trotzdem glaubte ich nicht, dass er ihr lange gewachsen war. Dazu war sie einfach zu schnell und zu glitschig.
Hilfesuchend sah ich mich um. Die meisten Gäste hatten entweder unter den Tischen Zuflucht gesucht oder verließen fluchtartig die Lokalität. Nur ein paar wenige hartgesottene Dämonen waren ungerührt sitzengeblieben und beobachteten das Schauspiel mehr oder weniger interessiert.
Ich wechselte einen verzweifelten Blick mit Karl. Der nickte, griff unter die Theke und zog ein Schwert hervor. Es war das Endor-Schwert. Ich hatte es lange nicht mehr benutzt, aber jetzt war es meine letzte Rettung. Karl warf es mir zu. Es schwebte mir entgegen, als wüsste es, dass ich seine Besitzerin war. Ich erfasste den Griff und fühlte augenblicklich die Energie, die von der Waffe ausging, die mich stärkte und schützte und mich füllte, als wäre ich ein leeres Gefäß. Gleichzeitig ergriff mich die Wut. Die Selkie hatte kein Recht, die Neutralität des Cafés zu verletzten. Und das würde sie jetzt zu spüren bekommen!
Ich zögerte keine Sekunde und sprang zu den Kämpfenden. Mein Vater war dabei zu verlieren. Er lag mit dem Rücken auf dem Boden. Die Selkie hockte auf ihm drauf und hatte sich in seine Brust verbissen. Die Schläge, die an ihren Kopf prasselten, schienen ihr nichts auszumachen.
»Loslassen!«, schrie ich. »Sonst kriegst du das Schwert zu spüren!«
Die Selkie befand sich im Blutrausch. Sie schien mich nicht zu hören. Ich holte aus und hieb ihr den rechten Arm ab. Die Schneide des Schwertes glitt wie durch Butter durch ihr Fleisch. Der Arm fiel zu Boden. Ich fühlte eine ungewohnte Befriedigung dabei, als ob ich den Geist des Schwertes empfing.
Die Selkie schrie auf und warf sich herum. Giftgrüne Flüssigkeit spritzte konvulsivisch aus ihrem Stumpf.
»Bring sie um!«, brüllte mein Vater. Er bäumte sich auf, und es gelang ihm, die verletzte Selkie von sich hinunterzuwälzen.
Sie landete auf dem Boden, sprang aber auf. Hasserfüllt sah sie mich an. »Dafür wirst du auch sterben!«, zischte sie.
Die Hände meines Vaters zuckten vor und ergriffen ihre Kehle. »Wenn einer stirbt, dann du!«, schrie er.
»Aufhören!«, rief ich, und als mein Vater nicht gehorchte, erhob ich drohend das Schwert gegen ihn.
Er ließ den Hals seiner Gegnerin los und sah mich ungläubig an. »Du erhebst das Schwert gegen deinen eigenen Vater?«
Ich ließ es sofort wieder sinken, behielt aber die Selkie im Auge. »Verschwinde!«, zischte ich ihr zu. »Und wage es nicht, noch einmal mein Café zu beschmutzen!«
»Das wirst du bereuen!« Purer Hass, aber auch Verzweiflung sprach aus ihrem Blick. Sie hatte mit ihrer Verletzung zu kämpfen. Ich hoffte für sie, dass sie den Blutverlust überlebte.
Sie bückte sich, ergriff den abgetrennten Arm und humpelte zum Ausgang.
Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte ich mich wieder meinem Vater zu. Er atmete schwer. Gesicht und Hals waren blutüberströmt.
»Du hast sie laufen lassen«, sagte er fassungslos und schüttelte den Kopf.
»Reicht es denn nicht, dass Lydia und du auf ihrer Todesliste stehen?«, herrschte ich ihn an. Wie konnte er nur so begriffsstutzig sein. »Du hast alles nur noch viel schlimmer gemacht, indem du selbst eine Selkie getötet hast!«
Er sagte kein Wort, schaute mich dafür fast ebenso hasserfüllt an wie zuvor die Selkie.
Dann stapfte er an mir vorbei nach unten. Ich hoffte, dass er Lydia wieder mit in die Villa nahm.
Ich sah mich nach den wenigen Gästen um, die noch geblieben waren. Menschen waren keine darunter, also brauchte ich auch nicht dafür zu sorgen, dass sie den Vorfall vergaßen. Ich schritt zur Theke und bedankte mich bei Karl. »Das war Rettung in letzter Sekunde.«
»Für deinen Vater, ja«, sagte Karl.
Ich betrachtete das Schwert. Es war ein Geschenk von Norbert Helnwein, dem Antiquitätenhändler, der mitunter auch dämonische Artefakte in die Hände bekam und unweit der Villa Zamis sein Domizil hatte. Das Schwert hatte zu seinen wertvollsten Besitztümern gehört. Er...