1. Kapitel
Ich selbst? Jemand anders? Letzteres würde bedeuten, dass ich die Kontrolle verlor.
Es waren mindestens zwei Stunden, die mir in meinem Gedächtnis fehlten.
Misstrauisch sah ich mich um. Der Park war verwaist. Kein Wunder um diese Uhrzeit.
Aber wieso erwachte ich gerade hier an dieser Stelle?
Noch während mir mehr Fragen als Antworten durch den Kopf schossen, hörte ich eine leise Melodie. Sie klang, als hätte jemand eine Spieluhr in Gang gesetzt. Die feinen Töne erklangen vom Denkmal her. Allerdings war es keine harmonische Notenabfolge. Es war, als würde jemand die »Fledermaus« rückwärts abspielen und zusätzlich mit etlichen Dissonanzen versehen. Johann Strauß hätte sich wahrscheinlich in seinem Grab auf dem Zentralfriedhof umgedreht, wenn er es gehört hätte.
Ganz gewiss aber würde die Melodie einen Menschen in den Irrsinn treiben. Für eine Dämonin wie mich war sie weder erschreckend noch neuartig. Derartige Musik untermalte so manchen Schwarzen Sabbat.
Und dennoch beunruhigte mich die Musik. Sie griff nach meinem Geist, so, als wollte sich jede einzelne Note darin festkrallen.
Im nächsten Moment begann sich das Denkmal zu drehen. Das Knirschen, das es dabei verursachte, erinnerte mich an Kreide, die quietschend über eine Schiefertafel gezogen wurde.
Auch mir sträubten sich bei dem Laut die Nackenhaare.
Es war höchste Zeit, den Abflug zu machen.
Aber ich konnte nicht! Ich stand da wie festgewachsen. Zu spät begriff ich, dass die Melodie einen Zauber wirkte, der mich an meinem Platz bannte. Ich versuchte dagegen anzukämpfen, aber es misslang.
Musste ich mir Sorgen machen? Allmählich ja.
Das Denkmal hatte sich inzwischen einmal um die eigene Achse gedreht. Die vergoldete Bronzestatue des Walzerkönigs war zum Leben erwacht. In grotesken Bewegungen, die eher an den wahnsinnigen Paganini erinnerten, drosch er mit dem Bogen auf die Geige ein und entlockte ihr die irrwitzigsten Laute. Der Dreiklang aus dem spieluhrähnlichen Klimpern, dem fortgesetzten Knirschen und nun auch noch der Geige erzeugte eine dämonische Kakophonie, die selbst mir unter die Haut ging.
Was ging da vor sich?
Nach einer weiteren Umdrehung wurde meine Ahnung zur Gewissheit, dass die Inszenierung allein mir galt. Die Erkenntnis trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.
Auch in die steinernen Menschenpaare, die wie Engel den Marmorbogen umschwebten, kam nun Bewegung. Sie bildeten einen irrwitzigen Reigen, wobei sich ihre ästhetisch-schönen Gesichter in teuflische Fratzen verwandelten.
Die vergoldete Statue des Geigers sprang von seinem Marmorblock. Sein Gesicht hatte sich verändert. Er grinste diabolisch, während er sich in grotesken Tanzschritten näherte. Seine engelhaften Begleiter schienen noch abzuwarten. Sie hatten sich auf dem Boden versammelt, einige krochen auf allen vieren umher und heulten wie Wölfe.
Verzweifelter als zuvor versuchte ich gegen die Lähmung anzukämpfen. Ich versetzte mich sogar in den schnelleren Zeitablauf. Aber alles, was ich damit erreichte, war, dass zwar der teuflische Geigenspieler und sein Gefolge wie zu Bronze und Stein erstarrten, ich selbst konnte mich aber nach wie vor genauso wenig von der Stelle rühren. Auch die magische Kakophonie fräste sich noch immer wie ein spitzer Bohrer in meine Gehörgänge. Nur spielte das teuflische Orchester jetzt unendlich langsam, sodass ich es wie ein tiefes Brummen wahrnahm.
Mit meinem Zauber hatte ich damit zwar einen Aufschub erreicht, mehr aber nicht. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis meine Kräfte versiegten. Dann würde der schnellere Zeitablauf in sich zusammenbrechen, und ich war verloren.
Meine Gedanken überschlugen sich. Verzweifelt versuchte ich mich an irgendeinen Zauber zu erinnern, der mir helfen würde.
Doch dann wurde es noch schlimmer. Zunächst dachte ich, dass ich mir das Ticken im Kopf mal wieder nur einbildete. Oder dass es sich zu den anderen Misstönen gesellte. Aber dann begriff ich, dass es offenbar real war. Das Ticken folgte meinem Herzschlag.
Und es wurde mit jedem Schlag langsamer.
Nun passte sich mein Herzschlag dem Ticken an!
Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Ich versuchte, meinen Herzschlag bewusst zu steuern, aber es bedurfte dazu einer zusätzlichen magischen Anstrengung. Gleichzeitig gelang es mir nur unter größter Anstrengung, den schnelleren Zeitablauf weiter aufrecht zu halten. Für beide Zauber reichten meine Kräfte nicht aus.
Schwarze Schlieren tanzten vor meinen Augen. Nur noch die fremde Kraft hielt mich aufrecht, sonst wäre ich wahrscheinlich zusammengesackt. Ungewollt zollte ich meinem Gegner Respekt. Ich saß in der Todesfalle. So oder so würde er mich packen.
Die ersten Herzschläge setzten aus. Ich kämpfte gegen die drohende Ohnmacht an, aber lange würde ich dieses einseitige Duell nicht durchhalten. Mein Feind war einfach zu mächtig.
Du darfst nicht aufgeben! Du bist eine Kämpferin!
Noch einmal rebellierte ich mit aller Kraft gegen die drohende Ohnmacht. Dann sah ich ein, dass ich mich entscheiden musste.
Und ich entschied mich für den Kampf. Wenn ich schon sterben musste, dann Auge um Auge mit meinen Gegnern und nicht als willenlose Puppe.
Ich verließ den schnelleren Zeitablauf. Mich bewegen konnte ich immer noch nicht. Aber gegen das Ticken ankämpfen, das meinen Herzschlag lähmte. Solange ich mich nur darauf konzentrieren konnte, gelang es. Aber schon war die zum Leben erwachte Statue herangekommen. Sie ließ die Geige sinken, und augenblicklich verstummte die misstönende Musik.
Erneut herrschte Totenstille, als befänden wir uns auf einem Friedhof.
Mit einem bösartigen Grinsen setzte der Geiger den Bogen an meiner Kehle an. Voller Entsetzen erkannte ich, dass darin statt der üblichen Pferdehaare ein rasiermesserscharfer Draht eingespannt war.
Ich spürte ihn bereits meine Haut ritzen. Eine einzige Bewegung würde genügen, mir die Kehle durchzuschneiden.
Schade, dachte ich, ich werde nie erfahren, warum ich ausgerechnet hier und jetzt sterben muss.
Ich sah dem Tod ins Auge und schloss mit dem Leben ab.
Der Geiger schrie plötzlich auf. Eine riesige Faust hatte sich um sein Handgelenk gelegt und drückte seinen Arm nach unten. Die Finger, die noch immer den Bogen hielten, öffneten sich, und die tödliche Waffe fiel zu Boden.
Da ich auch den Kopf nicht bewegen konnte, war mein Blickfeld begrenzt. Aber nun sah ich, zu wem die Faust gehörte. Das Wesen war riesig, bestimmt über zwei Meter groß. Es wirkte wie ein überdimensionierter Bodybuilder. Auf breiten Schultern saß ein massiger kahler Schädel. Auf den ersten Blick wirkte die Kreatur menschenähnlich, zumindest hatte es die Proportionen eines Menschen. Aber das Gebrüll, dass es ausstieß, erinnerte mich eher an ein Tier. Auch war die Erscheinung völlig nackt. Die Haut glich der eines Elefanten, war aber weniger runzelig, dafür genauso grau. Die Augen schimmerten rötlich.
Der Angreifer rang den Geiger zu Boden. Doch sofort waren dessen Helfer zur Stelle. Sie stürzten sich auf den Giganten und verbissen sich in ihn. Sie kratzten und schlugen und versuchten, ihm die Augen herauszureißen.
Mit einem wütenden Rundumschlag schüttelte er sie von sich ab wie Schmeißfliegen. Zwei von ihnen blieben leblos liegen, die anderen warfen sich erneut auf ihn.
Sie hatten nicht die geringste Chance. Er brach ihnen das Genick und warf sie von sich. Schließlich wandte er sich dem Geiger zu. Der hatte den Bogen aufgehoben und versuchte damit erneut, mir die Kehle durchzuschneiden.
Ein Steinbrocken von der Größe eines Riesenkürbisses zerschmetterte seinen bronzenen Schädel, bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzten konnte. Er sackte in die Knie, bewegte sich aber noch immer.
Wieder und wieder schlug der graue Gigant mit dem Steinbrocken zu, bis schließlich kein Fünkchen magisches Leben mehr in der Statue war.
Die Kreatur ließ den Steinbrocken achtlos fallen. Ich fragte mich, ob ich es schaffen würde, ihn überhaupt hochzuheben. Wenigstens hatte der Unheimliche nicht vor, mir ebenfalls den Schädel einzuschlagen. Ein leicht überhebliches Machogrinsen lag auf seinem Gesicht. Das, wie ich nun feststellte, nachdem es nicht mehr vor Wut verzerrt war, sogar sehr attraktiv wirkte. Trotzdem machte mich der Blick wütend. So mussten die Raubritter vergangener Zeiten ihre weibliche Beute angesehen haben.
War ich vom Regen in die Traufe gekommen?
Während ich mir die Frage stellte, spürte ich, dass ich mich wieder bewegen konnte. Und auch das Ticken im Kopf war verschwunden. Die fremde Magie hatte mich nicht mehr in ihrem Bann!
Die Kreatur gab eine Art wohlgefälliges Grunzen von sich, sodass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.
»Wer bist du?«, fragte ich.
Ich hatte ein weiteres Grunzen erwartet, stattdessen stellte er mit wohlmodulierter menschlicher Stimme eine Gegenfrage. »Sind Namen nicht Schall und Rauch?«
»Wenn du mich mit Haut und Haaren verspeisen willst, dann ja. Solltest du nicht vorhaben, mich zu töten, würde ich meinen Retter gern mit Namen ansprechen.«
Er überlegte einen...