1. Kapitel
»Nein, aber ich glaube, wir müssen den Pfad da runterfahren!«
Allerdings hatte ich keine Lust, im Nirgendwo zu landen und das Wohnmobil hinterher nicht mehr gewendet zu bekommen.
Ich stieg aus, lief über die Straße, und erklomm auf der anderen Seite einen Straßendamm. Von dort oben hatte ich einen fantastischen Ausblick auf den Pazifik, dessen weiße Schaumkronen in der Abendsonne glitzerten. Von einer Stadt war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Noch nicht einmal von einem Städtchen. Nur eine Ansammlung von wenigen Hütten, die in der Ferne ihr Dasein fristeten.
»Das muss es sein!«, jubelte Rebecca.
Fast lautlos war sie mir gefolgt und stand nun an meiner Seite.
»Was? Du hast mir was von einer kleinen, blühenden Hafenstadt erzählt ...«
»Ja, aber Tante Elvira wohnt etwas außerhalb. In einem der Häuser dort unten.«
»Du meinst Hütten.«
»Jedenfalls sind wir endlich am Ziel.«
»Sofern wir eine Möglichkeit finden, wie wir das Wohnmobil da runterkriegen. Ich kann zwar zaubern, aber keine Wunder vollbringen.«
»Wir lassen ihn einfach hier stehen und gehen zu Fuß weiter«, sagte Rebecca und begann bereits, den Damm auf der anderen Seite hinunterzusteigen.
Wohl oder übel folgte ich ihr. Ich war auf dieser Exkursion im wahrsten Sinne des Wortes nur Mitläufer. Es war Rebeccas Tante, die wir besuchen wollten. Und es war Rebecca, die mir den ganzen Weg von New Orleans vorgeschwärmt hatte, wie toll es doch an der Westküste sei und wir dort endlich einmal ein paar ruhige und entspannte Urlaubstage verbringen würden. Dabei war sie selbst noch nie hier gewesen. Vielleicht hatte ihre Tante ihr den Floh ins Ohr gesetzt.
Allerdings musste ich zugeben, dass wir uns so etwas wie eine Auszeit verdient hatten. Nach den Ereignissen in New York und New Orleans sehnte auch ich mich geradezu danach, einfach nur mal in Ruhe gelassen zu werden. Keine Dämonen, die mir nach dem Leben trachteten. Keine Fallen, die man mir stellte. Und keine Rebecca, der ich immer wieder aus der Patsche helfen musste.
Meine Freundin war regelrecht aufgeblüht, und mit jeder Meile, die wir uns dem Ziel näherten, wurde sie wieder ganz die alte Rebecca. Und kein fremdbestimmter Trauerkloß. Vielleicht war sie auch nur eine Meisterin im Verdrängen.
Sie sprang vor mir her, als gelte es, ein Wettrennen zu gewinnen.
Rechts und links des Pfades erhoben sich Dünen. Der Pfad verengte sich noch mehr und wurde steiniger. Es war eine richtige Entscheidung gewesen, das Wohnmobil oben auf der Straße zu lassen.
Nach einer Weile ging die Schotterpiste immer mehr in Sand über, und schließlich hatten wir den menschenleeren Strand erreicht, den die untergehende Sonne blutrot färbte.
»Ist das nicht herrlich hier!«, jubelte Rebecca, zog sich die Schuhe aus und lief barfuß weiter. Ich warf alle Skepsis über Bord und ließ mich von ihrer guten Laune anstecken.
Die Häuser waren noch gut einen Kilometer weit entfernt. Vom Strand aus waren sie gut zu sehen, weil sie auf den Dünen standen.
Wir liefen am Wasser entlang, während es allmählich zu dunkeln begann. Vielleicht auch deshalb hatte Rebecca so gute Laune. Die Nacht war nun mal ihre bevorzugte Tageszeit.
Nach zwanzig Minuten hatten wir unser Ziel fast erreicht. Wir mussten nur noch einen Sandpfad bergauf erklimmen, dann standen wir vor Tante Elviras Haus.
Es war aus Holz erbaut und winzig. Der weiße Anstrich blätterte an allen Stellen ab. Die Fensterläden waren geschlossen. Einer schlug plötzlich auf und mit lautem Knall wieder zu.
Unwillkürlich war ich zusammengezuckt. Rebecca lachte. »Das war Tante Rebeccas Willkommensgruß. Schließlich ist sie eine Hexe, genau wie du.«
»Das war, glaube ich, nur der Wind«, antwortete ich. »Ich glaube kaum, dass in dieser Bruchbude noch jemand haust.«
»Ja, du hast recht. Irgendwie sieht es recht unbewohnt aus.«
Ein leichter Wind kam auf und brachte mehrere Glockenspiele zum Klingen, die auf der Veranda hingen. Ihr disharmonischer Klang löste eine Gänsehaut bei mir aus. Das waren keine normalen Windspiele. Ich spürte die schwarzmagischen Schwingungen, die davon ausgingen. Auch Rebecca schlug fröstelnd die Arme zusammen.
»Vielleicht ist Tante Elvira ja auch verreist. Die Glockenspiele verschrecken jedenfalls jeden möglichen Einbrecher.«
Während unserer Fahrt von New Orleans hierher hatte Rebecca mehrmals versucht, mit ihrer Tante Kontakt aufzunehmen, um unsere Ankunft anzukündigen. Sogar ein altmodisches Telegramm hatte sie versendet und ihre Handynummer darauf angegeben, aber keine Antwort darauf erhalten. Außerdem hatte sie eine ihrer Fledermäuse vorausgeschickt, aber das Geschöpf war seit einigen Tagen verschollen. Rebecca hatte keinen Kontakt mehr zu ihm.
Ich hatte unterdessen die Veranda betreten und schaute mich um. Dabei hütete ich mich, den merkwürdigen Windspielen zu nahe zu kommen. Offensichtlich hatte die Hexe sie aus Gräten, Federn, Knochen, Haifischzähnen und anderen seltsamen Dingen arrangiert. Zwischen ihnen hingen die seltsamen Glöckchen. Sie waren kunstvoll geschmiedet und hatten die Formen von Katzen, Eseln und äußerst merkwürdigen Tieren.
Rebecca huschte an mir vorbei zur Tür. Dabei achtete auch sie darauf, den Windspielen nicht zu nahe zu kommen.
Eine Klingel gab es nicht, also pochte sie an die Tür. »Tante Elvira? Ich bin's, Rebecca!«
Da sich nichts tat, drückte sie die Klinge herunter. Die Tür war abgeschlossen.
»Soll ich es mal versuchen?«, fragte ich. Schließlich war es eine meiner leichtesten Übungen, Türschlösser zu knacken.
»Bitte gern.« Rebecca trat zur Seite. Ich berührte die Klinke und wirkte einen Entsiegelungszauber. Die Tür schwang von allein auf. Muffige, abgestandene Luft schlug mir entgegen. Ein paar Kakerlaken suchten schnell das Weite.
Ich zögerte, über die Schwelle zu treten. Rebecca wollte an mir vorbei, aber ich hielt sie auf.
»Warte noch einen Moment«, sagte ich.
»Warum? Hast du Angst?«
»Nein, aber ich will auf Nummer sicher gehen, dass uns keine böse Überraschung erwartet.«
Im nächsten Moment ertönte aus dem Innern ein Fauchen. Ein schwarzer Schatten sprang mit gebleckten Zähnen und ausgefahrenen Klauen auf uns zu. Mitten in der Luft verharrte er plötzlich, als würde er von unsichtbaren Händen gehalten.
Es war eine Katze! Offensichtlich hatte sie an uns vorbei ins Freie flüchten wollen. Blitze zuckten auf das arme Tier ein. Es kreischte, als es förmlich gebraten wurde.
Rasch wirkte ich einen Gegenzauber. Die Blitze fielen in sich zusammen. Die Katze fiel zu Boden und flüchtete humpelnd ins Freie. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht zu sehr verletzt war.
»Ein Glück, da hast du den richtigen Riecher gehabt«, sagte Rebecca. »Offensichtlich hat Tante Elvira dafür gesorgt, dass hier niemand einbricht.«
»Das war eine magische Falle. Allerdings hätte sie jeden bei lebendigem Leib geröstet, der versucht hätte, hier einzutreten.« Es roch noch immer nach verbranntem Katzenfell.
»Ja, Tante Elvira scheint ziemlich schräg zu sein.«
Ich war mir noch immer nicht im Klaren, was ich davon halten sollte. Natürlich sicherte jeder Dämon sein Refugium ab. Auch in der Villa meiner Eltern war ich mit magischen Fallen aufgewachsen, und noch immer galt die Villa als der gesichertste Ort in Wien. Trotzdem gab es Grenzen. Fallen waren in der Regel nur für die bestimmt, die sehr wohl wussten, auf was sie sich einließen, wenn sie versuchten einzudringen. In diesem Fall war es jedoch so, dass es jeden hätte treffen können.
Da ich nach wie vor schwieg, schaute mich Rebecca zweifelnd an. »Was meinst du, können wir es wagen?«
»Ich glaube schon. Ich habe die magische Falle zerstört. Aber es würde mich nicht wundern, wenn es im Haus noch weitere gibt.«
Vorsichtig trat ich ein. Da die Fensterläden geschlossen waren, entzündete ich ein Hexenlicht. Die bläuliche Flamme tanzte vor mir her. Ich befand mich in einer Art Wunderkammer. Es handelte sich zweifelsohne um die Werkstatt einer Hexe. Überall standen Flaschen und Gefäße mit stinkenden Flüssigkeiten, duftenden Salben, seltsamen Kräutern und sonstigen Ingredienzien wie Hahnenfüße, Fledermausflügel oder Haarbüschel herum. Für alles, was man zum Hexen brauchte, schien Tante Elvira ein Mittelchen zu haben. Und das geeignete Werkzeug stand auch parat: Tiegel, Stövchen, Messer ... In einem Regal standen etliche Zauberbücher. Einige Titel kannte ich noch aus meiner eigenen Lehrzeit auf Schloss Behemoth.
Aber auch für die aktuelle Klatschpresse schien sich Tante Elvira zu interessieren. Stapelweise lagen Magazine herum, die sich mit der Glamourwelt der Reichen und Schönen beschäftigte. Man merkte, dass Hollywood nicht weit entfernt lag.
Auch hatte ich noch in keinem Hexenhaushalt ein solches Sammelsurium an Glaskugeln gesehen. Es gab sie in allen Größen und Farben.
»Puh, stinkt das hier! Ich...