Schweitzer Fachinformationen
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Der Mann mit dem Afro hat ein Geheimnis, so viel ist sicher. Fünfmal die Woche warte ich morgens vor dem Dorfladen auf den Pendlerbus, viermal beobachte ich genau dieselbe Szene. Ich lehne am Pfosten mit dem zerkratzten Haltestellenschild, hinter mir das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das Quietschen einer Tür. Der erste Bus, der ein paar Minuten vor meinem kommt, hält am Straßenrand und gibt ein ungeduldiges Schnauben von sich. Rechts von der Mitteltür sitzt der Mann mit dem Afro, am Gang, der Fensterplatz neben ihm leer - viermal die Woche auf demselben Platz. Ein paar verwahrloste Bartkrausen unter dem Ohr und am Kinn, die milchkaffeebraune Haut im Gesicht voller Muttermale, um den Hals die grünen Kopfhörer. Sein Haar ist am Hinterkopf von einem Gummiband zusammengenommen und quillt daraus hervor wie ein üppiger Blumenstrauß, wo bei anderen nur ein müder Pferdeschwanz baumelt.
Das Geheimnis könnte in der Regelmäßigkeit seines Auftauchens liegen, auch wenn es etwas geben muss, das ihn von den anderen Pendlern unterscheidet. So wäre es denkbar, dass er in einer Zeitschleife gefangen ist, in einem sich endlos wiederholenden Fluchtversuch. Jeden Morgen steigt er in den Pendlerbus und flieht so weit aus dem Dorf, wie er mit dem öffentlichen Verkehr an einem Tag kommt. Am Abend legt er sich hinter einem Heuschober schlafen oder auf der Bank von einem Haltestellenhäuschen, und wenn er am nächsten Morgen aufwacht, starrt er wieder an die Decke seines Zimmers im Dorf. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sein regelmäßiges Busfahren ein Ablenkungsmanöver darstellt, mit dem er sich hinter der Alltäglichkeit der Pendler versteckt. Das wäre einigermaßen raffiniert. Bleibt die Frage, was er zu verstecken hat. Er könnte etwa einen zweiten Kopf haben, der ihm aus dem Hinterkopf wächst und von seinem Haarschopf verdeckt wird. Wenn man das dunkle Kraushaar zur Seite schiebt, dann blickt man in ein kleines, runzliges Gesicht, das einen aus zwei wässrigen Augen etwas traurig ansieht, als wollte es sagen: Ja nun - mich überrascht nichts mehr.
Hinter mir das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das Quietschen einer Tür. Jeden Morgen kettet der dicke Tiroler, dem unser Dorfladen gehört, das Schild mit den Tagesschlagzeilen ans Treppengeländer. Montag, Dienstag, Mittwoch und Freitag: Der Mann mit dem Afro sitzt rechts von der Mitteltür. Würde sich an einem dieser Tage ein einziges Detail an der Szene verändern, etwa, wenn ich mit dem Rücken zur Straße stehen würde statt zum Laden, ich glaube, dann müsste alles im Chaos versinken. Die Kopfhörer wären blau statt grün, der zweite Pendlerbus würde vor dem ersten kommen, der dicke Tiroler würde über die Kette stolpern und sich auf den Stufen das Genick brechen.
Guten Morgen, schreit der dicke Tiroler.
Ich hebe die Hand, ohne mich umzudrehen. Erst, als ich die Tür ins Schloss fallen höre, werfe ich einen Blick auf das Schild. Heute ist Donnerstag.
Durch die Busfenster sehe ich mir die anderen Fahrgäste an. Hinter der Fahrerkabine sitzt die Witwe des Nachtklubbesitzers und kaut auf einer blonden Strähne, der Junkie mit der Wollmütze schläft auf dem Klappsitz neben der Gepäckablage, der Schlosserlehrling in der hintersten Reihe schiebt sich eine Zigarette hinters Ohr und spielt mit seinem Nagelknipser. Weil jeder Pendler seinen festen Platz hat, ist der Sitz rechts von der Mitteltür am Donnerstag leer. Am Donnerstag bin da nur ich, mein Spiegelbild im rechten Flügel der offenen Tür. Eine Laufmasche unter dem Knie, mein grauer Jeansrock ein wenig ausgefranst und unter dem Kapuzenpulli ein Paar Brüste, in die eines Tages ein Mann sein Gesicht vergraben wird, dem ich erzählt habe, mein Name sei Ariane. Ariane, wird er sagen, du bist eine Klippe, von der ich mich stürzen möchte.
Als der Bus hinter der Papeterie verschwunden ist, höre ich hinter mir den schlurfenden Gang meines Bruders. Ich hole den Klappspiegel aus meiner Handtasche und beobachte, wie er die Treppe zum Dorfladen hinaufsteigt und hinter der Glastür verschwindet. In der runden Scheibe des Spiegels kann ich die Szene zwischen meinem Bruder und dem dicken Tiroler verfolgen; ich höre ihre Stimmen durch das Gezwitscher der Spatzen und die vorbeifahrenden Autos, ich habe den Putzmittel- und Aufbackbrötchengeruch in der Nase, alles springt mich an aus dem kleinen Spiegelbild.
Guten Morgen, sagt Miko.
Wie bitte?
Der dicke Tiroler hat sich hinter der Ladentheke über einen Plastiksack gebeugt und kramt unter lautem Rascheln darin herum. Er richtet sich auf und stellt zwei orange Einmachgläser auf die Vitrine.
Wachauer Marille, sagt er, mehr zu den Gläsern. Dann fixiert er Miko und schaut ihn ein paar schnaufende Atemzüge lang an. Der Ludescher Michl. Finger weg von den Zigaretten. Ich weiß schon, mit solchen wie dir muss man aufpassen.
Ich habe nichts gemacht.
Probleme machst du, und dann für ein paar Tage verschwinden und sich hinterher an nichts erinnern können. Dein Onkel hat mir schon erklärt, wie das läuft.
Ich klappe den Spiegel zu, ab hier geht es sowieso weiter wie immer. Der Tiroler streicht über die borstigen Haare in seinem Ebernacken und setzt sich die Lesebrille auf. Dann zieht er einen Kugelschreiber aus seiner Gesäßtasche und beginnt etwas auf einen Block zu schreiben.
Was willst du?, fragt er irgendwann und schaut meinen Bruder über die Brillengläser hinweg an. Leberkässemmel und Cola?
Jawohl.
So, das Übliche, sagt der Tiroler. Er lacht ein anbiederndes Lachen, das an niemanden gerichtet sein kann als an ihn selbst. Man muss, sagt er, als guter Verkäufer auch seine schlechten Kunden kennen.
Er öffnet den Glaskasten, in dem die heißen Fleischlaibe liegen wie schwitzende, gehäutete Tiere, und schneidet mit einem langen Messer zwei Scheiben Leberkäse ab.
Heute schon wieder nichts zu tun?
Was geht Sie das an?
Wieder lacht der Tiroler.
Man wird ja noch fragen dürfen. Essiggurken dazu?
Ein Umzug steht an, sagt Miko und nickt.
Der Tiroler klappt die fertige Semmel zu und holt eine Dose Cola aus dem Kühlschrank.
Mit deinem Onkel, natürlich. Sag dem Ludescher Bruno, wir hätten ihn vermisst am Dienstag. Und er soll dir auf die Finger schauen. Er mustert Miko, bevor er die Sachen auf die Theke stellt. Dass du Zwerg überhaupt Möbel schleppen kannst. Drei Euro zwanzig macht das.
Die Glastür geht wieder auf, und ich drehe mich um. Mein Bruder kommt mit seiner Cola und einem braunen Papiersack auf mich zu. Er öffnet die Dose und nimmt einen Schluck.
Was trinkst du heute?, frage ich.
Cola.
Und gestern?
Auch Cola.
Und morgen?
Keine Ahnung.
Ich sehe ihn an.
Und was machst du heute?
Räumung bei den Albrechts. Der Sohn will die Mansarde vermieten.
Gestern war Mittwoch. Vormittag im Büro, Nachmittag frei.
Und was hast du gemacht?
Er holt die Leberkässemmel aus dem Papiersack und beißt hinein.
Du bist komisch, sagt er mit vollem Mund.
Einen Moment lang schaue ich ihm beim Kauen zu. Als ich den zweiten Bus um die Ecke kommen höre, stecke ich den Spiegel zurück in die Handtasche und schüttle den Kopf.
Irgendwer muss anfangen, deine Geschichte auszumalen, sage ich.
Er nimmt noch einen Bissen von seiner Semmel und macht eine Kopfbewegung in Richtung Bus.
Bis dann, sagt er.
Als ich am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause komme, ist es noch hell, nur die Küche an der Ostseite des Hauses liegt schon im Dunkeln. Ich mache das Licht an und erschrecke kurz über die Gestalt, die so plötzlich vor mir sitzt, als ob sie erst durch das Drücken des Lichtschalters aufgetaucht wäre.
Astrid? Schon zurück? Ein Engel bist du.
Der Vater sitzt auf einem Hocker am Küchentisch, so nah an der Vase mit den Palmkätzchen, dass ihn die Zweige fast ins Gesicht stechen.
Nein, sage ich. Ich bin's.
Sein Lachen klingt wie bei anderen Leuten das Husten, wenn sie etwas im Hals haben.
Natürlich. Keine Abendschule heute?
Heute ist Donnerstag, sage ich.
Ja.
Montag und Donnerstag haben wir frei.
Ja. Richtig.
Richtig.
Er räuspert sich.
Den ganzen Nachmittag über hat sich jemand vor dem Haus zu schaffen gemacht. Ein Scharren und Klopfen, als ob der Garten umgegraben würde. Ich habe mich nicht hinausgetraut.
Wahrscheinlich ein Hund, sage ich.
Ich öffne den Kühlschrank und nehme eine...
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