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»Herwarth! Gestern war ein Monstrum im Café«
Die Poesie setzt sich aus, weil sie nicht weniger ist
als eine Analogie der Existenz - ein objektloses, offenes Wagnis.
. Existenz und Poesie sind in ihren Grundbewegungen
miteinander solidarisch.
Peter Sloterdijk
I.
Die letzte Augustwoche des Jahres 1911 beginnt. Eine Frau geht nach Hause. Sie geht ins Café, in ihr Café. Oder sollte man sagen: Sie geht zur Arbeit?
Nur die Lebensbürger glauben, dass das drei grundverschiedene Dinge sind, ein Zuhause, eine Arbeit, ein Café. Und Thomas Mann. - Wann arbeiten diese Leute eigentlich?, fragte er beim Besuch des Lokals, um dessen Tische lauter Menschen seines Berufs saßen.
Jetzt! Jetzt arbeiten sie. Die nicht mehr ganz junge Frau mit dem schwarzen, halblangen Haar will einen Brief schreiben. Zuerst einen, bald noch einen, am Ende drei. Drei sind verabredet. Drei Briefe direkt aus dem Café.
Die etwas heruntergekommene Gaststätte im Kaiserstil des napoleonischen Frankreich, von Passanten auch »Café Größenwahn« genannt, trägt ihr übliches Einheits-Nikotingelb vom Rokokostuck bis zu den Vorhängen. Die oft mit Ölfarbe oder Buntstiften kleiner und großer Künstler bemalten Marmortische stehen wie gewohnt auf ihren gusseisernen Füßen. Die Spiegel sind halb erblindet, die Polster waren einmal rot. Die Zeitungen tragen den Aufdruck »Gestohlen im Café des Westens« und werden vom Zeitungskellner Rudolf Rattke, dem »roten Rudi«, verwaltet, der - sagt man - mehr von Literatur versteht als alle anwesenden Literaten zusammen. Auch bezahlt er nicht selten die Rechnung der Briefschreiberin und ihres Mannes. Dafür vermerkt die Briefschreiberin manchmal in ihrer Korrespondenz, wenn Herr Rattke etwas gesagt hat oder Grüße ausrichten ließ.
Der Vermerk »Gestohlen im .« ist weit mehr als ein Misstrauensantrag. Er ist ein begründeter Misstrauensantrag. Auch verschmähen die neuen Dichter kein Manuskriptpapier. Nicht Zeitungsränder, nicht Caféhausrechnungen. Sie mag besonders Telegrammformulare. Telegrammformulare passen gut. Denn die neuen Gedichte der neuen Dichter sind, genau gelesen, Telegramme. Bloß kein Wort zu viel, aber das: weltsprengend!
Ein Brief ist etwas anderes. Sie kann den ersten auch nachher im Bett schreiben, vielleicht macht sie das sogar, sie schreibt gern im Bett. Hauptsache, es wird ein echter Caféhausbrief. Und ein Liebesbrief, einer, wie ihn die Welt noch nicht gelesen hat! Und die Welt soll ihn lesen. Im »Sturm«, dem Zentralorgan der Berliner Moderne. Letztlich wird er überhaupt nur zum Mitlesen geschrieben und sie wäre die Letzte, das zu leugnen.
Eine Frau schreibt ihrem Mann, der verreist ist - nichts ist natürlicher. Eine Frau schreibt ihrem Mann, der verreist ist, als Lektüre für alle? Nichts ist unnatürlicher. Aber sie ist eine öffentliche Frau. Sie ist eine Dichterin. Und ihr Mann - ihr zweiter Mann - ist ein öffentlicher Mann, nämlich der Chefredakteur des Zentralorgans. Warum sollte ihre Liebe da nicht öffentlich sein?
Der Dichter wird nicht zuletzt dadurch definiert, dass er öffentlich liebt, und er besitzt dafür auch eine Entschuldigung: die Form.
Else Lasker-Schülers Mann Herwarth Walden ist nach Norwegen gefahren, begleitet von seinem Rechtsanwalt.
Walden hat die Reise nötig, denn es ist anstrengend, eine Avantgardezeitschrift herauszugeben. Wenige wissen das besser als seine Frau und sein Rechtsanwalt Curt Neimann. Der muss die Prozesse führen, in die sein weitgehend mittelloser Mandant immer wieder verwickelt wird.
Im Café des Westens. Von links: Anna Scheerbart, Samuel Lublinski, Salomo Friedlaender alias Mynona, Paul Scheerbart, Else Lasker-Schüler und Herwarth Walden. © Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur
Walden kann im September zum dritten Mal nacheinander die Miete der ehelichen Wohnung nicht zahlen. Dreimal nicht zahlen können ist sehr gefährlich, denn dann verliert man nicht nur seine alte Wohnung, sondern findet auch keine neue mehr. Weil man auf die schwarze Liste kommt.
Norwegen ist ein guter Ort, die schwarze Liste zu vergessen. Die Reise bezahlt der Rechtsanwalt. Die Daheimgebliebene nennt ihn nur das »Kurtchen«. Ihr Mann und das Kurtchen waren einmal Schulfreunde, jetzt ist das Kurtchen der Schatten ihres Mannes. Auch darum spricht sie im Brief gleich beide an: Lieber Herwarth! Liebes Kurtchen!
Der Liebesbrief ist nicht nur deshalb ungewöhnlich, weil ihn schon am 2. September 1911 alle im »Sturm« lesen können, sondern auch, weil die im Café zurückgelassene Ehefrau darin ihrem Ehemann nicht von ihrer Liebe zu ihm berichtet, sondern darüber, in wen sie sich - in seiner Abwesenheit - gerade verliebt hat: Ich habe nämlich noch nie so geliebt wie diesmal. Wenn es Euch interessiert: .1
Es interessiert die Leser des »Sturm« sehr. Die »Briefe nach Norwegen« entstehen. Es werden viel mehr als nur drei.
Wenn der letzte geschrieben ist, ist im Leben der Else Lasker-Schüler nichts mehr, wie es war.
II.
Sie hat große dunkle Augen und einen schmallippigen Mund. Viele finden ihre Augen schön, den Mund eher nicht.
Sie ist noch immer knabenhaft schlank. Vor ein paar Monaten ist Else Lasker-Schüler zweiundvierzig Jahre alt geworden, aber niemand hat ihr zum Zweiundvierzigsten gratuliert. Das liegt daran, dass niemand von dieser Zahl weiß. Sie glaubt, es sei besser so. Auch schreibt man Liebesbriefe aus Cafés besser mit Anfang, Mitte dreißig.
Alle Welt hält sie für Anfang, Mitte dreißig. Und manchmal denkt sie wie alle Welt. Wenn sie siebenundfünfzig ist, wird alle Welt ihr zum Fünfzigsten gratulieren, dem Geburtstagskind ist das unangenehm. Und wenn sie siebenundsechzig wird .
Die Bürger, solche, die ihre Briefe so ängstlich vor Fremden hüten wie ihr Eigentum und über alles »privat« schreiben, mag man nach Ziffern ehren. Die Bürger mögen sich ihre Jahre als Verdienst anrechnen, aber wer zählt einer Weltenerfinderin die Jahresringe nach? Gratulanten haben keine Ahnung vom Schöpfertum. Ihre bloße Existenz ist eine Leugnung dessen, was sie preisen möchten. Das missfällt der Zweiundvierzigjährigen.
Das Kurtchen und ihr Mann sind fast zehn Jahre jünger als sie.
Herwarth Walden war immer ein getreuer Chronist dessen, was seine Frau über die Liebe weiß. Und dass sie mehr darüber weiß als fast alle anderen und dass sie es tiefer weiß, dass sie es so sagen kann, als habe noch nie jemand vor ihr geliebt - auch dafür hat er sie geheiratet. Das war 1903. Dass sie es immer neu wissen würde, nahm er in Kauf.
Im letzten Sommer lasen alle im soeben begründeten »Sturm«:
Leise sagen -
Du nahmst dir alle Sterne
Über meinem Herzen.
Meine Gedanken kräuseln sich,
Ich muß tanzen.
Immer tust du das, was mich aufschauen läßt,
Mein Leben zu müden.
Ich kann den Abend nicht mehr
Über die Hecken tragen.
Im Spiegel der Bäche
Finde ich mein Bild nicht mehr.
Dem Erzengel hast du
Die schwebenden Augen gestohlen;
Aber ich nasche vom Seim
Ihrer Bläue.
Mein Herz geht langsam unter
Ich weiß nicht wo -
Vielleicht in Deiner Hand.
Überall greift sie an mein Gewebe.
Das ist angewandte Ozeanographie. Welcher Mann, der das liest, und sei es der eigene, dürfte glauben, dieses »Du« sei er? Höchstens ein Partikel darin könnte er, Herwarth Walden, sein. Er ist Künstler und Bewunderer genug, das zu wissen.
Kurz darauf hat die Essener »Rheinisch-Westfälische Zeitung« das Gedicht nachgedruckt. Sie hatte auch etwas darunter geschrieben: »Vollständige Gehirnerweichung, hören wir den Leser - leise sagen.« Eine Hamburger Zeitung druckte nun das Gedicht und dazu die Nachbemerkung der »Rheinisch-Westfälischen«.
Klage!, riet Walden seiner Frau.
Niemand versteht Else Lasker-Schüler besser als ihr Mann. Und niemand verteidigt sie besser. Natürlich öffentlich, im »Sturm«: »Ich habe nichts dagegen, daß die Herren Kunst komisch finden. Ich werde sie aber daran hindern, ihren Geist an Kunst aufzugeilen. Ich werde mich in ihre Verstandesregion hinunterbegeben und ihnen beweisen, daß Impotenz keine Gesundheit ist. Kranke Laien halten sich oft für gesund. Sie sollen aber nicht exzentrisch werden wollen . Sie sollen im Lande bleiben und sich redlich mit Vermischtem nähren . Kunst muss vor Prostitution geschützt werden. Denn Kunst fordert Liebe.«2
Und wenn seine Frau liebt, weiß Herwarth Walden, ist das Kunst.
Das Café unterteilt sich in das Schwimmer- und das Nichtschwimmerbecken. Im Ersten sitzt, wer schon einen Namen hat, im zweiten sitzt, wer gern einen hätte. Die Ersten können ihre Rechnung zahlen, die Nichtschwimmer oft nicht einmal das. Sie ist gewissermaßen eine nichtschwimmende Schwimmerin. Wasserkakao ist am billigsten. Gewiss bestellt die Briefschreiberin das Übliche und beginnt den ersten...
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