Schweitzer Fachinformationen
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Sein Blick schweifte über das majestätische Panorama von Manhattan, sechsundsechzig Meter weiter unten. Da unterbrach ihn der Alarm.
Bei der Arbeit war ihm dieser hartnäckig pulsierende elektronische Warnton noch nie untergekommen, nur damals in der Ausbildung, als er den Sicherheitsschein gemacht hatte. Dank seiner Berufserfahrung und der technischen Ausgereiftheit der Millionen Dollar teuren Maschine unter seinem Hintern war ihm das schrille Geräusch in der kleinen Kabine bisher erspart geblieben.
Er zog die fünfundzwanzig mal zwanzig Zentimeter großen Monitore vor ihm zurate . ja, da blinkte jetzt ein rotes Licht.
Doch es musste sich um einen Fehlalarm handeln, war Garry Helprin überzeugt, völlig ungeachtet der hektischen Elektronik. Wahrscheinlich ein Sensor.
Und siehe da, wenige Sekunden später erlosch das Licht. Und das Geräusch hörte auf.
Er betätigte behutsam die Steuerung und ließ die achtzehn Tonnen schwere Last emporsteigen. Seine Gedanken kehrten zu der Frage von gerade eben zurück.
Dem Namen des Babys. Sein Vater hoffte auf William, und die Mutter seiner Frau wünschte sich Natalia, aber die würden es nicht werden. An den Namen gab es eigentlich nichts auszusetzen, doch Peggy und ihm schwebte für ihren Sohn oder ihre Tochter etwas anderes vor. Er hatte angeregt, sich mit den zukünftigen Großeltern einen Spaß zu erlauben. Und daher hatten sie am Ende beschlossen: Kierkegaard, falls es ein Junge wurde. Und Bashilda, falls sie eine Tochter bekamen.
»Du meinst Batseba«, hatte Garry gesagt, als Peggy den Vorschlag machte. »Aus der Bibel.«
»Nein. Bashilda. Mein imaginäres Pony, als ich zehn Jahre alt war.«
Kierkegaard und Bashilda, würden sie nun also behaupten und dann sofort das Thema wechseln. Die entsetzten Gesichter wären .
Der Alarm plärrte wieder los, und das Licht blinkte. Auf dem Bildschirm gesellte sich ein Warnfenster hinzu: die Lastmomentanzeige. Die Nadel wies nach links, darunter das Wort: Ungleichgewicht.
Unmöglich.
Der Computer kannte das Gewicht beider Ausleger haargenau: das des vorderen, der so lang wie eine Boeing 777 war, und das des hinteren, der die Kontergewichte aus Beton trug. In die Berechnung flossen dann sowohl die zu hebende Last ein als auch ihr Abstand von der Mitte des Krans, in dessen Führerhaus Garry saß.
»Komm schon, Big Blue. Echt jetzt?«
Garry redete oft mit den Maschinen, die er bediente. Manche von ihnen schienen darauf zu antworten. Dieser spezielle Baylor HT-4200 war eigentlich ziemlich geschwätzig.
Heute aber blieb er stumm, mal abgesehen von dem Warnsignal.
Und wenn hier oben der Alarm schrillte, dann gleichzeitig auch im Container der Bauleitung.
Das Funkgerät erwachte scheppernd zum Leben. »Garry, was ist da los?«, hörte er in seinem Kopfhörer.
»Einer der Lastmomentsensoren scheint zu spinnen«, erwiderte er. »Da vor fünf Minuten noch alles in Ordnung war, gibt es auch jetzt kein Problem. Es hat sich ja nichts geändert.«
»Vielleicht der Wind?«
»Nein, es liegt am Sensor, da bin ich .« Er verstummte abrupt.
Denn er spürte die Neigung.
»Verdammt«, rief er. »Es ist doch das Lastmoment. Der vordere Ausleger weicht null Komma drei neun Grad nach unten ab. Halt, jetzt null Komma vier.«
Rutschte die Last von ganz allein allmählich auf das Ende des blau lackierten Gitterauslegers zu? Hatte die Laufkatze sich von den Antriebskabeln gelöst?
Garry hatte noch nie von so etwas gehört.
Er sah nach vorn. Konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
Nun minus null Komma fünf.
Auf einer Baustelle ist nichts so umfassenden Vorschriften und regelmäßigen Kontrollen unterworfen wie die Stabilität eines Turmkrans, vor allem eines dermaßen hoch aufragenden, in dessen Radius sich ein halbes Dutzend Gebäude und Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Personen befinden. Die Last - in diesem Fall fünfzehn mal zehn Zentimeter große Flanschträger von insgesamt achtzehntausend Kilogramm - wird peinlich genau berechnet und mit den vorhandenen Gegengewichten abgeglichen, um sicherzustellen, dass dieser bestimmte Kran diese bestimmte Ladung heben und umsetzen kann. Sobald das gewährleistet ist, übernimmt der Computer und hält wie durch Zauberhand alles im Gleichgewicht, indem er die hinteren Betonplatten minutiös vor und zurück verschiebt, sodass die Nadel stets auf null zeigt.
Das Lastmoment .
Minus null Komma fünf eins.
Er schaute unwillkürlich nach hinten zu den Kontergewichten, obwohl er nicht mal wusste, was er zu sehen erwartete.
Folglich gab es auch nichts zu entdecken.
Minus null Komma fünf zwei.
Der Warnton schrillte weiter.
Minus null Komma fünf vier.
Er schaltete den Alarm aus. Die zugehörige Warnleuchte blinkte allerdings immer noch, und die Abweichung des Lastmoments wurde weiterhin angezeigt.
Minus null Komma fünf fünf.
»Das Diagnoseprogramm zeigt keine Sensorprobleme an«, meldete der Bauleiter.
»Vergiss die Sensoren«, sagte Garry. »Der Kran neigt sich.«
Minus null Komma fünf acht.
»Ich gehe auf Handsteuerung.« Er drückte den entsprechenden Knopf. Seit fünfzehn Jahren saß er für Moynahan Construction im Führerhaus eines Turmkrans, und davor hatte er als Pionier in der Armee gedient. Die digitale Unterstützung machte die Arbeit leichter und sicherer, aber ursprünglich hatte Garry alles von Hand erledigt, mit Tabellen und Diagrammen und einem am Oberschenkel befestigten Schreibblock, auf dem er seine Berechnungen vornahm - sowie natürlich einer Neigungsanzeige, deren Nadel ihm als Referenz diente. Nun betätigte er den Joystick und zog die Laufkatze etwas näher an die Mitte heran.
Dann schaltete er auf die Gegengewichte um und rückte sie ein Stück vom Turm weg.
Sein Blick blieb dabei beharrlich auf die Instrumente gerichtet, die immer noch eine Verlagerung nach vorn belegten.
Er schob die Gewichte, die insgesamt einhundert Tonnen wogen, noch weiter nach außen.
Das musste sich auf das Lastmoment auswirken.
Es ging gar nicht anders.
Falsch gedacht.
Zurück zum vorderen Ausleger.
Garry holte die Laufkatze dichter ans Zentrum. Die Flanschträger pendelten hin und her. Das war etwas zu schwungvoll gewesen.
Er schaute zu seinem Kaffee.
Sein bequem gepolsterter Stuhl war nicht mit einem Becherhalter ausgestattet, doch Garry, der Kaffee in allen Variationen liebte, hatte stattdessen einen an der Wand befestigt - natürlich weit weg von jeglicher Elektronik.
Die braune Flüssigkeit stand waagerecht; der Becher nicht.
Ein weiterer Blick auf die Lastmomentanzeige.
Volle zwei Grad Neigung nach vorn.
Er zog die Laufkatze mit den Flanschträgern noch näher heran.
Ah, na endlich.
Das Warnlicht ging aus, und die Neigungsanzeige wanderte allmählich zurück auf minus null Komma fünf, dann auf null, dann auf eins und langsam weiter, weil die Gegengewichte ganz außen hingen. Garry holte sie so weit wie möglich nach vorn.
Die Lastmomentanzeige verharrte bei eins Komma zwei.
Das war normal. Kräne sind so konstruiert, dass sie sich leicht nach hinten lehnen, wenn am vorderen Ausleger keine Last hängt, und zwar um ungefähr ein Grad. Ihre Standfestigkeit basiert hauptsächlich auf dem massiven Betonfundament - so bleiben sie senkrecht, wenn gerade nichts Schweres im Gleichgewicht gehalten werden soll.
»Geschafft, Danny«, meldete er über Funk. »Wir sind stabil. Aber das muss gleich mal überprüft werden. Wahrscheinlich irgendwas mit den Kontergewichten.«
»Alles klar. Ich glaube, Will ist aus der Pause zurück.«
Garry lehnte sich zurück, trank einen Schluck Kaffee, stellte den Becher wieder ab und lauschte dem Wind. Es würde eine Weile dauern, bis der Mechaniker hier eintraf. Um von unten zum Führerhaus zu gelangen, gab es nur eine einzige Möglichkeit.
Man musste den Turm emporklettern.
Aber die Kabine befand sich zweiundzwanzig Stockwerke über dem Boden. Was mindestens eine fünfminütige Ruhepause beim Aufstieg bedeutete, vielleicht sogar zwei.
Manche der anderen Bauarbeiter hielten Kranführer für untrainierte Weicheier, die vermeintlich den ganzen Tag auf ihrem Hintern saßen. Da hatten sie aber nicht an den Aufstieg gedacht.
Weil Garry gerade weder eine Last abliefern noch den Haken vorsichtig wieder nach unten lassen musste, konnte er den unbeschreiblichen Ausblick genießen. Dabei hätte er den größten Teil des Panoramas auch genauer benennen können: die fünf Bezirke der Stadt, ein beachtliches Stück von New Jersey, einen schmalen Streifen von Westchester und einen von Long Island.
Doch Ortsangaben wie diese interessierten ihn nicht.
Ihn faszinierten die Braun-, Grau- und Grüntöne, die weißen Wolken und das endlose Blau - allesamt viel satter und kräftiger als aus der Perspektive eines Fußgängers.
Schon als Junge hatte Garry Wolkenkratzer errichten wollen, hatte sie mit seinen Legosteinen gebaut und seine Eltern angefleht, sie mit ihm zu besichtigen, auch wenn die beiden sich auf den Aussichtsplattformen alles andere als wohlfühlten. Ihm aber gefielen nur die Orte ohne zusätzliche Absperrungen. »Weißt du«, hatte sein Vater mal gesagt, »manche Leute drehen hier oben durch und springen einfach in die Tiefe. Aus lauter Panik.«
Das...
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