Schweitzer Fachinformationen
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»Grönland.«
Lincoln Rhyme starrte aus dem Salonfenster seines Stadthauses am Central Park West. In seinem unmittelbaren Blickfeld gab es zwei Objekte: einen komplizierten Gaschromatographen von Hewlett-Packard und, draußen vor dem großen Fenster aus dem neunzehnten Jahrhundert, einen Wanderfalken. Diese Raubvögel waren in der Stadt keine Seltenheit, denn es gab hier für sie reichlich Beute zu holen. Doch es war außergewöhnlich, dass sie so weit unten nisteten. Rhyme, so unsentimental, wie ein Wissenschaftler nur sein konnte - vor allem ein Kriminalforensiker wie er -, empfand die Anwesenheit der Tiere gleichwohl auf kuriose Weise als tröstlich. Im Laufe der Jahre hatte er sein Zuhause mit mehreren Generationen von Wanderfalken geteilt. Im Augenblick war Mom hier, ein prachtvolles Exemplar mit herrlichem braungrauen Federkleid, dessen Schnabel und Fänge wie Geschützbronze glänzten.
Eine ruhige, belustigte Männerstimme meldete sich zu Wort. »Nein. Du kannst mit Amelia nicht nach Grönland fahren.«
»Warum nicht?«, fragte Rhyme herausfordernd Thom Reston. Der schlanke, aber kräftige Mann war ungefähr genauso lange sein Betreuer, wie außen an dem alten Gebäude die Falken nisteten. Als Querschnittsgelähmter hatte Rhyme von den Schultern abwärts so gut wie keine Kontrolle über seinen Körper, und Thom ersetzte ihm nicht nur Arme und Beine, sondern war sehr viel mehr für ihn. Rhyme hatte ihn schon häufig gefeuert, Thom genauso oft von selbst gekündigt, und doch war er noch da und würde, das wussten beide tief im Innern, auch weiterhin bleiben.
»Weil ihr euch einen romantischen Ort aussuchen müsst. Florida, Kalifornien.«
»Klischee, Klischee, Klischee. Da können wir ja gleich zu den Niagarafällen fahren.« Rhymes Stirn legte sich in Falten.
»Was stimmt nicht mit denen?«
»Das würdige ich nicht mal einer Antwort.«
»Und was sagt Amelia dazu?«
»Sie hat es mir überlassen. Was ziemlich ärgerlich war. Weiß sie denn nicht, dass ich mir über wichtigere Dinge den Kopf zerbrechen muss?«
»Du hast doch neulich die Bahamas erwähnt. Du wolltest noch mal dorthin, hast du gesagt.«
»Zu dem Zeitpunkt war das auch so. Jetzt ist es das nicht mehr. Kann man denn nicht mal seine Meinung ändern? Das ist doch wohl kein Verbrechen.«
»Was ist der wahre Grund für Grönland?«
Rhymes Gesicht - mit der vorstehenden Nase und Augen wie Pistolenmündungen - hatte selbst etwas Raubtierhaftes, ähnlich wie die Vögel. »Was soll das denn heißen?«
»Könnte es sein, dass es einen praktischen Anlass für deinen Wunsch gibt, nach Grönland zu reisen? Einen beruflichen Anlass? Einen zweckdienlichen Anlass?«
Rhyme schaute zu der Flasche Single Malt Scotch, die knapp außerhalb seiner Reichweite stand. Er war zum größten Teil gelähmt, ja. Doch dank operativer Eingriffe und täglichen Trainings konnte er seinen rechten Arm und die Hand wieder eingeschränkt bewegen. Auch das Schicksal hatte geholfen. Der Balken, der ihm vor vielen Jahren an einem Tatort ins Genick gefallen war und dabei diverse Nervenstränge durchtrennt und gequetscht hatte, hatte einige am Rande liegende Nervenverbindungen intakt gelassen, wenngleich verletzt und beeinträchtigt. Rhyme konnte daher Gegenstände greifen - wie eine Flasche Single Malt Scotch, um ein beliebiges Beispiel zu wählen -, aber er konnte nicht aus seinem komplizierten Rollstuhl aufstehen und sie sich holen, falls Thom mal wieder Kindermädchen spielte und sie außerhalb seiner Reichweite hinstellte.
»Es ist noch keine Cocktailstunde«, verkündete der Betreuer, dem der Blick seines Chefs auffiel. »Also, Grönland? Raus damit.«
»Es wird unterschätzt. Heißt >grünes Land<, obwohl es weitgehend unfruchtbar ist. Überhaupt nicht grün. Und im Vergleich dazu Island, das >Eisland<? Ziemlich grün. Die Ironie gefällt mir.«
»Das ist keine Antwort.«
Rhyme seufzte. Es gefiel ihm nicht, durchschaubar zu sein, und noch viel weniger, dabei erwischt zu werden. Er würde sich auf die Wahrheit berufen. »Wie es scheint, hat die Rigspolitiet, die dänische Polizei, in Grönland recht wichtige Forschungen über ein neues System spektroskopischer Pflanzenanalysen angestellt. In einem Labor in Nuuk. Das ist übrigens die Hauptstadt. Man kann damit eine Probe viel genauer geografisch eingrenzen als mit den Standardverfahren.« Rhyme hob unwillkürlich die Augenbrauen. »Fast auf zellularer Ebene! Stell dir das mal vor! Wir glauben, alle Pflanzen seien gleich .«
»Ich nicht.«
»Du weißt, was ich meine«, erwiderte Rhyme ungehalten. »Diese neue Technik kann das Zielgebiet auf bis zu drei Meter bestimmen!« Er lächelte. »Stell dir das mal vor«, wiederholte er.
»Ich versuch's. Grönland - nein. Und hat Amelia wirklich gesagt, dass du allein entscheiden sollst?«
»Wird sie noch. Sobald ich ihr von der spektroskopischen Analyse erzähle.«
»Wie wäre es mit England? Das würde ihr gefallen. Läuft diese Sendung noch, die sie so mag? Top Gear? Ich glaube, das Original wurde eingestellt, aber es soll wohl eine neue Version geben. Sie würde darin eine tolle Figur machen. Die lassen die Leute auf eine Rennstrecke. Sie schwärmt doch andauernd davon, wie es wohl wäre, mit zweihundertneunzig Kilometern pro Stunde auf der falschen Straßenseite zu fahren.«
»England?«, spottete Rhyme. »Du widersprichst dir selbst. Grönland und England dürften in etwa gleich romantisch sein.«
»Das glaubst auch nur du.«
»Ich und die Grönländer.«
Lincoln Rhyme reiste nicht viel. Dabei hätte - trotz der praktischen Konsequenzen seiner Behinderung, die für gewisse Komplikationen sorgten - nach Ansicht seiner Ärzte gesundheitlich nichts dagegen gesprochen. Seine Lunge funktionierte bestens - er hatte sich vor Jahren selbstständig von einem Beamtungsgerät entwöhnt, an das eine halbwegs dezente Narbe auf seiner Brust erinnerte -, und solange das Pinkeln und Kacken - seine Worte - geregelt sowie für locker sitzende Kleidung gesorgt war, bestand nur geringe Gefahr, den Fluch aller Querschnittsgelähmten zu erleiden: eine autonome Dysregulation. Ein guter Teil der Welt war mittlerweile behindertengerecht gestaltet, sodass in den meisten Restaurants, Bars und Museen Rollstuhlrampen und angepasste Toiletten zur Verfügung standen. (Rhyme und Sachs hatten lächeln müssen, als Thom einen Artikel aus der Zeitung erwähnte, in dem es um eine Schule ging, die kürzlich eine solche Rampe und Toilette installiert hatte; das einzige Unterrichtsfach dort war aber Stepptanz.)
Nein, Rhymes Zurückgezogenheit und Abneigung gegen das Reisen lagen vor allem darin begründet, dass er ein Einsiedler war. Von Natur aus. Die Arbeit in seinem Labor - diesem ehemaligen Salon voller entsprechender Ausrüstung -, seine Lehrtätigkeit und die Artikel für wissenschaftliche Fachzeitschriften sagten ihm weitaus mehr zu als abgegriffene Sehenswürdigkeiten, die speziell für die Touristen aufpoliert wurden.
Doch angesichts der Pläne, die er und Sachs für die nächsten paar Wochen hatten, war es notwendig, Manhattan zu verlassen; sogar er räumte ein, dass man seine Flitterwochen nicht in der eigenen Heimatstadt verbringen konnte.
Die Entscheidung darüber, ob sie nun ein Labor für spektroskopische Pflanzenanalysen oder doch eher einen romantischeren Ort aufsuchen würden, musste jedoch auf später verschoben werden, denn es klingelte an der Tür. Rhyme schaute auf den Bildschirm der Überwachungskamera und dachte: Ach, sieh an.
Thom stand auf und kehrte einen Moment später mit einem Mann mittleren Alters in einem kamelhaarfarbenen Anzug zurück, der aussah, als hätte er in ihm geschlafen, was vermutlich nicht der Fall war. Er bewegte sich langsam, aber gleichmäßig, und Rhyme nahm an, dass er schon bald keinen Gehstock mehr benötigen würde, mochte dieser auch ein ziemlich schickes Accessoire darstellen. Schwarz mit einem silbernen Griff in der Form eines Adlers.
Der Mann sah sich im Labor um. »Ruhig hier.«
»Stimmt. In letzter Zeit gab es nur ein paar kleinere private Aufträge. Nichts Umwerfendes. Nichts Aufregendes. Nicht seit dem talentierten Mörder.« Ein raffinierter Täter hatte vor einer Weile Haushaltsgeräte und öffentliche Transporteinrichtungen sabotiert - mit tragischem und bisweilen schaurigem Ergebnis.
Lon Sellitto, Detective in der Abteilung für Kapitalverbrechen des New York Police Department, war einst Rhymes Partner gewesen - bevor man Rhyme zum Captain und Leiter der Spurensicherung befördert hatte. Heutzutage engagierte Sellitto ihn gelegentlich als Berater bei Fällen, die besondere forensische Fachkenntnis erforderten.
»Was guckst du so? Ich hatte nur noch sandfarben.« Sellitto wies auf seinen Anzug.
»Ich gucke gar nicht, ich träume so vor mich hin«, entgegnete Rhyme.
Was nicht stimmte, aber er hatte weder auf die seltsame Farbe noch auf die enormen Knitterfalten des Anzugs geachtet, sondern zufrieden festgestellt, dass Sellitto sich gut erholte, wenngleich der Giftanschlag schwere Nerven und Muskelschäden verursacht hatte - daher auch der Gehstock. Und obwohl der Detective seit jeher mit seinem Gewicht rang, gefiel er Rhyme mit wieder etwas mehr Fleisch auf den Rippen besser als vorher. Der Anblick eines ausgemergelten, aschfahlen Lon Sellitto war erschreckend gewesen.
»Wo ist Amelia?«, fragte Sellitto.
»Vor Gericht. Sie sagt im Fall Gordon aus. Seit heute früh. Müsste bald vorbei sein. Danach wollte sie...
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