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Der Verteidiger näherte sich dem leeren Zeugenstand, neben dem Lincoln Rhyme in seinem motorisierten Rollstuhl saß, und sagte: »Mr. Rhyme, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie nach wie vor unter Eid stehen.«
Rhyme runzelte die Stirn und musterte den stämmigen schwarzhaarigen Anwalt, der mit Nachnamen Coughlin hieß. Dann setzte er eine nachdenkliche Miene auf. »Mir war gar nicht bewusst, dass der Eid durch etwas beeinträchtigt worden sein könnte.«
Lächelte die Richterin etwa ein wenig? Rhyme konnte es nicht genau sehen. Er befand sich unten im Saal und sie saß ein ganzes Stück höher und seitlich hinter ihm.
Der Eid vor der Aussage war Rhyme schon immer wie theatralisches Gefasel vorgekommen, sogar ohne den Zusatz »so wahr Ihnen Gott helfe«.
Schwören Sie feierlich, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit?
Wieso musste der Schwur feierlich abgelegt werden? Und was sollte nach dem ersten Mal »Wahrheit« diese doppelte Redundanz? Wie wäre es mit: »Schwören Sie, dass Sie nicht lügen werden? Falls doch, nehmen wir Sie fest.«
Viel effizienter.
Er lenkte nun ein. »Ich bestätige, dass ich unter Eid stehe.«
Der Prozess fand vor dem New York Supreme Court statt - der ungeachtet des Namens zu den eher niedrig angesiedelten Gerichtshöfen des Staates zählte. Der Saal war mit verschrammtem Holz vertäfelt und an den Wänden hingen Bilder von früheren Richtern, anscheinend zurück bis in die Zeit der Reconstruction. Der Ablauf der Verhandlung war jedoch absolut zeitgemäß. Auf den Tischen von Anklage und Verteidigung gab es Laptops und Tabletcomputer und auch die Richterin hatte einen schmalen hochauflösenden Monitor vor sich stehen. Im ganzen Raum war kein einziges Gesetzbuch zu sehen.
Die meisten der ungefähr dreißig Zuschauer hatten sich wohl wegen des berüchtigten Angeklagten hier eingefunden, ein paar vielleicht auch wegen Rhyme.
»Ich komme nun zum Kern meines Kreuzverhörs«, sagte Coughlin, den Rhyme auf etwa fünfzig schätzte, und blätterte in seinen Notizen. Auch wenn es hier keine Bücher gab, so mussten die Akten auf den Tischen von Verteidigung und Anklage doch mindestens vierzig Kilo wiegen.
»Danke, Sir«, sagte die Richterin.
Die Arbeit als Kriminalist, als forensischer Wissenschaftler zur Unterstützung strafrechtlicher Ermittlungen, findet nur zum Teil im Labor statt. Der andere Teil der Aufgabe ist die Präsentation. Die Anklage benötigt einen Sachverständigen, der die Erkenntnisse gut verständlich darlegt und dann geduldig und wirksam die Einwände der Verteidigung pariert. Sollte ein Zeuge durch den Verteidiger auseinandergenommen werden, kann ein guter Staatsanwalt ihn mit einer ergänzenden Befragung bisweilen rehabilitieren, aber es ist besser, gar nicht erst in eine solch missliche Lage zu geraten. Lincoln Rhyme war von Natur aus zurückhaltend und fühlte sich im Labor bei Weitem am wohlsten, aber er war nicht völlig in sich gekehrt. Die Selbstdarstellung vor den Geschworenen und das Rededuell mit dem Anwalt des Angeklagten machten ihm durchaus Spaß.
»Sie haben ausgesagt, dass am Schauplatz von Leon Murphys Ermordung keine Fingerabdrücke meines Mandanten hinterlassen wurden, korrekt?«
»Nein, habe ich nicht.«
Coughlin legte die Stirn in Falten und zog einen großen Schreibblock zurate, der präzise Notizen enthalten mochte - oder Kritzeleien oder ein Rezept für Rinderbrust. Rhyme hatte nämlich Hunger. Es war zehn Uhr vormittags und er hatte sein Frühstück verpasst.
Coughlin warf einen kurzen Blick auf seinen Mandanten. Viktor Antony Buryak, zweiundfünfzig. Dunkelhaarig wie sein Anwalt, aber kräftiger und mit blasser Haut. Er trug einen maßgeschneiderten dunkelgrauen Anzug und eine burgunderrote Weste. Seltsamerweise wirkte Buryaks Gesicht überhaupt nicht bedrohlich. Rhyme konnte ihn sich gut dabei vorstellen, wie er bei einem kirchlichen Wohltätigkeitsbasar am Pfannkuchenstand arbeitete, die Namen aller Eltern kannte und den Kindern einen Extraspritzer Ahornsirup spendierte.
»Soll ich Ihnen Ihre Aussage vorlesen lassen?« Coughlin, der sich Rhyme genähert hatte wie ein Hai seiner Beute, hob eine Hand.
»Nicht nötig. Ich kann mich daran erinnern. Ich habe ausgesagt - unter Eid, nur zu Ihrer Beruhigung -, dass von den am Schauplatz von Leon Murphys Ermordung gesicherten Fingerabdrücken keiner Ihrem Mandanten zugeordnet werden konnte.«
»Was genau ist der Unterschied?«
»Sie sagten, ich hätte behauptet, Ihr Mandant habe am Tatort keine Fingerabdrücke hinterlassen. Er kann aber eine Million Fingerabdrücke hinterlassen haben. Das Team der Spurensicherung hat schlicht keinen davon gefunden.«
Coughlin verdrehte die Augen. »Beantrage Streichung.«
Richterin Williams wandte sich an die Geschworenen. »Sie werden Mr. Rhymes Antwort außer Acht lassen. Aber versuchen Sie es erneut, Mr. Coughlin.«
Der Anwalt wirkte verärgert. »Mr. Rhyme, an dem Tatort, an dem der verurteilte Schwerverbrecher Leon Murphy erschossen wurde, wurden keine Fingerabdrücke meines Mandanten entdeckt, richtig?«
»Das kann ich nicht beantworten, denn ich weiß nicht, ob das Opfer ein verurteilter Schwerverbrecher war oder nicht.«
Coughlin seufzte.
Die Richterin räusperte sich.
»Aber das mit dem >nicht entdeckt< kann ich bestätigen«, sagte Rhyme.
Coughlin und Buryak sahen sich an. Der Mandant blieb insgesamt ruhiger als sein Anwalt. Letzterer kehrte zu seinem Tisch zurück und schaute nach unten.
Rhyme stellte fest, dass einige der Geschworenen ihn anstarrten. Mutmaßlich wegen seiner Verfassung. Er hatte gehört, dass manche Verteidiger sich insgeheim über seine Anwesenheit beschwerten, denn als Querschnittsgelähmter im Rollstuhl, so glaubten sie, würde er indirekt Sympathien für die Anklage generieren.
Doch was sollte er machen? Er war nun mal auf den Rollstuhl angewiesen und von Beruf Kriminalist.
Rhymes Augen richteten sich auf den Angeklagten. In der Geschichte des hiesigen organisierten Verbrechens war Buryak eine einzigartige Figur. Ihm gehörten in der Stadt mehrere Unternehmen, aber den größten Teil seines Geldes verdiente er auf andere Weise, nämlich mit einer ungewöhnlichen Dienstleistung für die Unterwelt. Er war dadurch vermutlich für mehr Tote verantwortlich als irgendeine andere Verbrecherbande in der diesbezüglich sehr reichhaltigen Kriminalgeschichte New Yorks.
Das Volk des Staates New York gegen Viktor Buryak hatte jedoch nichts damit zu tun. Hier ging es nur um einen einzigen Vorfall, ein einziges Verbrechen, einen einzigen Mord.
Leon Murphy war erschossen worden und zwar ungefähr eine Woche nachdem er sich mit dem Leiter eines Lagerhauses getroffen hatte, das Buryak gehörte. Murphy war ein psychotischer Möchtegerngangster, der sich als eine Art Nachfahre der Westies empfand, jener brutalen irischen Bande, die einst über Hell's Kitchen in Manhattan geherrscht hatte. Und dem Leiter des Lagerhauses hatte er nachdrücklich seinen Schutz angeboten.
Es erwies sich als eine wirklich schlechte Geschäftsidee, ausgerechnet dieses Produkt an ausgerechnet diesen Kunden verkaufen zu wollen.
»Haben Sie bei Leon Murphys Leichnam Fußspuren gefunden?«, fragte Coughlin. »Oder neben der Stelle, an der die Patronenhülse gefunden wurde?«
»Der Leichnam lag im Gras, sodass keine Fußabdrücke gesichert werden konnten. In der Nähe der Patronenhülse wurden von den Technikern hingegen Fußspuren entdeckt, aber aufgrund eines Regengusses kurz vorher ließ sich die Art des Schuhs nicht mehr feststellen.«
»Sie können demnach nicht aussagen, dass die Fußabdrücke meines Mandanten am Tatort gefunden wurden?«
»Meinen Sie nicht, dass sich das von selbst aus meinen Ausführungen ergibt?«, fragte Rhyme sarkastisch. Er hatte gelernt, dass man Anwälte ungestraft piesacken durfte. Das war in ihrem Honorar inbegriffen.
»Mr. Rhyme, sichert die Spurensicherung des NYPD routinemäßig DNS an Tatorten?«
»Ja.«
»Und haben Sie am Schauplatz von Leon Murphys Ermordung irgendwelche DNS-Spuren meines Mandanten gefunden?«
»Nein.«
»Mr. Rhyme, Sie haben das Projektil analysiert, von dem Mr. Murhpy getötet wurde, korrekt? Ein Bleigeschoss?«
»Und Sie haben auch die Patronenhülse untersucht?«
»Das ist korrekt.«
»Und um welches Kaliber hat es sich gehandelt?«
»Neun Millimeter Parabellum.«
»Und Sie haben ausgesagt, dass die Felder und Züge, also die Spuren des Laufs, darauf hindeuten, dass die Waffe eine Glock siebzehn war.«
»Es war definitiv eine Glock und das Modell siebzehn ist am wahrscheinlichsten.«
»Mr. Rhyme, haben Sie oder einer der Ermittler, mit denen Sie zusammengearbeitet haben, die relevanten staatlichen und bundesweiten Waffendatenbanken auf Einträge meines Mandanten überprüft?«
»Und hat er jemals eine Glock besessen, speziell das Modell siebzehn?«
»Keine Ahnung.«
»Bitte erläutern Sie das, Mr. Rhyme.«
»Er könnte ein Dutzend davon besitzen.«
»Euer Ehren«, sagte Coughlin. Er klang leicht gekränkt darüber, dass Rhyme ihn so unfair behandelte.
Hätte Viktor Buryak etwa beinahe gelächelt?
»Mr. Rhyme.« Die Geduld der Richterin war allmählich erschöpft.
»Er hat gefragt, ob sein...
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