Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Jenny
Jenny hob ihre Jeans und das zerknüllte T-Shirt vom Boden auf und zog sich an.
»Wie spät ist es?«, kam es mit gedämpfter Stimme von Elliot, der halb unter der Bettdecke verborgen lag.
»Viertel nach sechs. Ich muss vor der Arbeit noch nach Hause und mich umziehen.« Sie legte ihre Armbanduhr um und griff nach ihrem Handy.
»Sehen wir uns in der Redaktion?« Er hob den Kopf, kniff im Sonnenlicht, das durch die dünnen Vorhänge strömte, ein Auge zu.
Sie nickte. Er sah sie die ganze Zeit an, und sie hatte das Gefühl, als erwartete er noch irgendetwas. Dass sie ihm einen Kaffee bringen und ihm einen langen Abschiedskuss geben sollte, oder was auch immer richtige Paare eben taten, wenn einer von ihnen das Bett verließ, in dem sie beide die Nacht verbracht hatten. Stattdessen lächelte sie ein »Bis nachher!« und ging aus dem Zimmer.
Ein Immobilienmakler hätte Elliots Wohnung vielleicht als »bijou« bezeichnet. Ein Wohnzimmer mit Kochecke, ein Schlafzimmer und ein Bad. Doch sie war aufgeräumt und gemütlich, und von der Küchenzeile aus konnte man über die Dächer von Saint Peter Port bis zum Meer sehen, das in der Ferne glitzerte. Sie drehte den Wasserhahn auf. Die Leitungen quietschten und vibrierten, und nach ein paar Sekunden kam stotternd lauwarmes Wasser. Sie wartete, bis es gleichmäßig floss, spülte eine Tasse aus dem Spülbecken ab und füllte sie mit kaltem Wasser. Die Weingläser von gestern Abend trockneten neben dem Becken, daneben stand eine halb ausgetrunkene Weinflasche. Eine zweite, das wusste sie, lag leer im Recyclingeimer unter dem Spülbecken.
Sie hatten sich ein Muster angewöhnt. Ein paar Drinks nach der Arbeit, noch ein paar mehr bei ihm zu Hause. Bett. Der erste »Morgen danach« war ein bisschen peinlich gewesen, sie hatten beide so getan, als habe sich überhaupt nichts geändert, hatten das Ganze mit einem Lachen abgetan. Keiner von ihnen hatte Bedauern geäußert, keiner hatte angedeutet, dass es mehr sei als Spaß. Inzwischen, dachte sie bei sich, hatten sie eine Linie überschritten. Es war zur Routine geworden. Sie hatten bisher nicht weiter darüber gesprochen. Sie traf sich nicht mit anderen, doch er hatte sie nicht darum gebeten. Er flirtete noch immer regelmäßig mit anderen Frauen. Sie hatte ihn nicht gebeten, das zu lassen.
Jenny lehnte sich an den Frühstückstresen. Sie sollte sich eine eigene Wohnung suchen. Ihre Mum, Margaret, hatte angeboten, ihr Geld zu leihen, für eine Anzahlung. Selbst dann würde sie Mühe haben, den Kredit für eine Wohnung wie diese hier von ihrem Reportergehalt zu bezahlen. Sie brauchte eine Gehaltserhöhung. Oder einen neuen Job.
Elliots Wecker piepste hinter der Schlafzimmertür, und sie hörte das Bett knarren, als er aufstand. Sie spülte die Tasse noch einmal aus, stellte sie auf das Abtropfgestell und ging.
Die Wohnung befand sich im obersten Stock eines Reihenhauses auf halber Höhe der Mount Durant, einer steilen Hügelstraße. Nebenan kündeten ein eingeschlagenes Fenster und leere Bierflaschen noch immer von der Party am Samstag, die laut Elliot gestern in den frühen Morgenstunden von der Polizei beendet worden war. Am unteren Ende der Straße ging der Asphalt in Kopfsteinpflaster über. Links und rechts führten winzige Gässchen hinter die Häuser, zu Treppen mit ungleichmäßigen Stufen und verborgenen Häuserreihen; Wäscheleinen waren zwischen den Mauern gespannt, und Müllcontainer versperrten den Weg.
Ein paar Schleierwolken zeigten sich an einem ansonsten wolkenlosen Himmel. Der Juni war warm und trocken gewesen, und nichts deutete darauf hin, dass sich daran im Juli etwas ändern würde. Die erste Woche hatte Rekordtemperaturen gebracht, gestern zweiunddreißig Grad. Die Channel News hatten ihr Programm mit einem Clip beendet, in dem der Meteorologe des Senders versucht hatte, auf dem Gehsteig vor dem Studio ein Spiegelei zu braten. Die Touristen, die hier Sommerurlaub machten, fanden es toll. Ebenso die Eisverkäufer und die Läden, die Strandutensilien verkauften. Dem Rest der Bevölkerung jedoch wäre es recht gewesen, wenn die Hitze mal Pause gemacht hätte, dachte Jenny.
Ihr Auto parkte vor dem Cove, einer berüchtigten Bar. Eine Gruppe Teenager mit Bierflaschen hatte sie angeglotzt, als sie es gestern Abend dort abgestellt hatte. »Nette Karre«, hatte einer der Jungen bemerkt, und ein anderer hatte halblaut »Wohl eher nette Titten« gemurmelt, ehe die ganze Bande losgekichert hatte wie die Schuljungen, die sie höchstwahrscheinlich waren. Jenny hätte es ihnen glatt zugetraut, ihren Wagen nur so aus Spaß zu zerkratzen; sie sah nach, bevor sie einstieg. Abgesehen vom Gestank nach Pisse und lauwarmem Bier schien alles in Ordnung zu sein.
Im Innern des Wagens roch es nach ihren feuchten Schwimmsachen, die in einem Rucksack auf dem Rücksitz steckten. Gestern Abend war sie schwimmen gewesen, kurz bevor Elliot angerufen hatte. Rasch warf sie einen Blick auf die Uhr. Erst halb sieben; sie hatte noch Zeit, schnell ein paar Bahnen zu schwimmen, bevor sie nach Hause fuhr, um sich umzuziehen.
Ihr Handy meldete sich. Ganz schön früh für eine SMS. Sie war von Stephen.
Knochenfund in Derrible Bay. Könnten menschl. Überreste sein. Fahren gerade rüber. Halte dich auf dem Laufenden.
Die Erregung, die Jenny jedes Mal im Bauch spürte, wenn sie Wind von einer neuen Story bekam, wurde von einem Gefühl der Furcht gedämpft. Menschliche Überreste. Es war erst ein paar Monate her, dass der Leichnam von Amanda Guille in der Bordeaux Bay am Strand gefunden worden war. Aber dieser Fall war abgeschlossen; der Mörder war tot. Die Schusswunde in Jennys Schulter war verheilt.
Sie las die SMS noch einmal. Die Derrible Bay lag auf Sark, einer winzigen Insel, fünf Kilometer lang und anderthalb Kilometer breit. Sie lag knapp fünfzehn Kilometer östlich von Guernsey, ungefähr eine Stunde mit dem Boot. Dort gab es keinen Flughafen und auch keine Autos. Man konnte sich nur zu Fuß, auf dem Fahrrad oder in überteuerten Pferdekutschen fortbewegen. Als Kind hatte Jenny dort jeden Sommer etliche Wochen verbracht. Die Vorliebe ihrer Eltern für Ruhe und Frieden kombiniert mit ihrer Abneigung dagegen, weiter als ein paar Kilometer von zu Hause wegzufahren und dem Wunsch, nirgendwo hinzufliegen, wenn es sich vermeiden ließ, hatten die Insel zum idealen Ferienziel gemacht.
Das »wir«, von dem Stephen redete, schloss ohne Zweifel DCI Michael Gilbert mit ein, seinen Kollegen bei der Polizei von Guernsey, den Detective, mit dem Jenny eng zusammengearbeitet hatte, als sie Nachforschungen über Amanda Guilles Tod angestellt hatte. Seitdem war Michael zu einem Freund und häufigen Besucher in dem Haus geworden, das Jenny mit ihrer Mutter teilte. Zuerst hatte er ein Auge auf Jennys Genesung gehabt, und dann, als es ihr wieder gut ging, war er oft auf eine Tasse Tee vorbeigekommen oder war, wie in letzter Zeit meistens, zum Abendessen geblieben. Noch immer kam er offiziell, um sich zu vergewissern, dass es Jenny gut ging, doch sie wussten beide, dass er sehr viel mehr daran interessiert war, sich mit ihrer Mutter zu unterhalten. Michael hatte sich angewöhnt, Margaret in der Küche zu helfen; die beiden plauderten und lachten, und das Radio und das Pfeifen des Teekessels übertönten ihre Worte fast. Jenny überlegte, ob sie wohl über ihre Beziehung redeten. Ob man sich, wenn man erst mal über fünfzig war, den ganzen Quatsch sparen und ein ehrliches Gespräch darüber führen konnte, wo es hingehen sollte.
Rasch schielte sie noch einmal zu ihren Schwimmsachen auf dem Rücksitz. Das musste warten. Sie würde sich diese Story nicht entgehen lassen, egal, wie unwohl sie sich dabei fühlte. Diesmal, versicherte sie sich selbst, würde sie nicht in den Nachrichten auftauchen. Sie würde sie nur schreiben.
Und außerdem hatte Jenny noch einen weiteren Grund, nach all den Jahren wieder einmal nach Sark fahren zu wollen.
Seit sie herausgefunden hatte, dass bei den Ermittlungen zum Tod ihres Vaters möglicherweise nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, hatte sie seine Schritte zurückverfolgen, hatte mit den Menschen reden wollen, die ihn zuletzt gesehen hatten. Laut Polizeibericht war Charlie Dorey ums Leben gekommen, nachdem er auf dem Rückweg von Sark über Bord gegangen war. Dass Charlie an jenem Tag auf Sark gewesen war, war unbestreitbar. Dass man sein Boot Stunden nach seinem Verschwinden vor der Insel treibend aufgefunden hatte, war ebenfalls eine Tatsache. Es war das mit dem Über-Bord-Fallen, was Jenny nicht glauben konnte. Das wäre Charlie niemals passiert.
Sie öffnete die Tür und trat ins Haus. Margaret saß am Küchentisch, ein Buch in der einen und eine Scheibe Toast mit Hefeaufstrich in der anderen Hand.
»Morgen, Schatz.«
»Morgen, Mum.« Jenny küsste ihre Mutter auf die Wange und schenkte sich eine Tasse Tee ein.
»Wie geht's Elliot?« Margarets Tonfall war ganz beiläufig, doch Jenny wusste, dass hinter dieser Frage eine Menge steckte.
»Gut, danke. Ich geh schnell duschen.«
»Hat er etwa was dagegen, dass du ein paar Sachen bei ihm lässt? So würdest du doch morgens Zeit sparen.« Betont lässig blätterte Margaret eine Seite um.
»Willst mich wohl loswerden, wie?« Jenny hatte es scherzhaft gemeint, doch Margaret blickte gekränkt auf.
»Natürlich nicht! Ich finde es wunderbar, dass du hier wohnst. Solange du nicht meinetwegen hierbleibst.«
»Ich weiß, Mum. Du hast wieder Boden unter den Füßen. Ich auch. Bald...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.