Schweitzer Fachinformationen
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Als die junge Journalistin Tuva Moodyson in das nordschwedische Gavrik zieht, erschüttert ein grausamer Mord die Kleinstadt. Die Tat trägt die Handschrift des Medusa-Killers, der vor zwanzig Jahren sein Unwesen trieb und nie gefasst wurde. Tuva weiß, dass diese Story ihre große Chance sein könnte. Doch die Journalistin hat zwei Handicaps: Sie ist gehörlos, und sie fürchtet sich vor dem Wald. Ihre Schwächen könnten ihr allzu leicht zum Verhängnis werden. Denn je tiefer sie in den rätselhaften Fall eintaucht, desto weiter muss sie sich in das Dickicht des Waldes vorwagen, wo ein Gegner auf sie wartet, der ihre dunkelsten Ängste übertrifft ...
Ein Elch tritt aus dem Dickicht zwischen den Tannen. Er ist riesig und wiegt bestimmt eine halbe Tonne, wenn nicht mehr. Ich stampfe auf die Bremse, und mein Truck erbebt, als sich die Winterreifen in den Schotter graben. Dann schiebe ich meinen Pferdeschwanz zur Seite und schalte meine Hörgeräte ein. Es ertönt die Einschaltmelodie des Herstellers, und ich kann hören. Der Elch ist dreißig Meter entfernt, enorm groß und steht einfach nur da.
Mein Motor brummt im Leerlauf. Ich denke an den Unfall meines Vaters vor zwölf Jahren, an das, was von seinem Wagen übrig war, und knalle meine Faust auf die Hupe. Lärm flutet meinen Kopf, aber es ist nicht das echte Geräusch, so wie jeder andere es wahrnehmen würde. Ich höre eines, das von den Kunststoffkringeln hinter meinen Ohren verstärkt ist. Die Hupe erfüllt ihren Zweck, und der Elchbulle trottet über den Weg. Seine Hoden hängen tief zwischen den knochigen braunen Beinen.
Ich beschleunige ein wenig und folge ihm. Mein Herz klopft zu schnell und zu stark. Der Elch wandert zu einem Sonnenflecken weiter vorn und bleibt stehen. Er ist prähistorisch, ein Riese, vollkommen wild, uralt und höher als mein gemieteter Pick-up. Ich bremse, boxe erneut auf die Hupe, doch das Tier sieht nicht verängstigt aus. Inzwischen keuche ich. Schweißperlen stehen auf meiner Stirn. Es ist nicht genug Sauerstoff im Wagen. Hier gibt es keine Polizei, und weder vor noch hinter mir sind Scheinwerfer zu sehen.
Das Fell auf dem Geweih schimmert in der Sonne, und dann schwenkt der Bulle seinen schweren Kopf in meine Richtung. Seine Haltung verändert sich. Um mich herum verdunkelt sich der Utgard-Wald, und der Elch stampft mit dem Huf auf, sodass die dünne Eisschicht auf einem Schlagloch zerbricht. Meine Scheinwerfer erfassen aufspritzendes Schmutzwasser, das auf sein Fell sprüht. Dann sieht er mich direkt an, senkt den Kopf und stürmt los.
Ich bremse, lege den Rückwärtsgang ein und drücke die dicke Gummisohle meines Stiefels mit Schwung aufs Gaspedal. Mein Schrei klingt fremd. Der Wagen braust rückwärts und schafft Raum zwischen mir und dem Elchbullen; zwischen meinem Gesicht und seinem; meiner gerunzelten Stirn und seinem steinharten Geweih.
Ich hole mein Handy aus der Tasche und lege es mir auf den Schoß, obwohl jeder weiß, dass man im Utgard-Wald kein Netz hat. Mein Blick huscht zwischen Windschutzscheibe und Rückspiegel hin und her. Ich versuche, gleichzeitig nach vorn und nach hinten zu sehen, und da ist eine flüchtige Bewegung zwischen den Bäumen, ein grauer Umriss, ein Mensch vielleicht, doch er ist sofort wieder verschwunden. Das ist alles meine Schuld. Ich hätte nicht hinter dem Elch herfahren dürfen. Durch sein Geweih sehe ich den trüben Himmel, und im Geiste rufe ich nach meinem Vater. Ich rumple durch Schlaglöcher und über Zweige, und diese dunklen Augen sind immer noch in meinem Scheinwerferlicht. Mit dreißig Stundenkilometern im Rückwärtsgang. Mein Handy rutscht von meinem Schoß und fällt klappernd in den Fußraum. Mein linker Reifen verfängt sich in einem Schlagloch, und ich muss scharf zur Seite lenken, um wieder rauszukommen. Da trifft das Geweih auf meine Stoßstange. Metallisches Kreischen schrillt in meinen Ohren, und ich kann nichts sehen. Ich fühle meinen Fettstift, der mir in den Oberschenkel sticht, und dann blenden mich Scheinwerfer im Rückspiegel.
Hinter mir in der Ferne ist ein Truck oder ein Traktor. Jemand kommt direkt auf mich zu. Das sollte mich freuen, tut es aber nicht. Dieser Weg ist nur breit genug für einen von uns. Das Geweih schabt wieder an meiner Kühlerhaube, und ich verziehe das Gesicht bei dem Kreischen. Mein Mund ist trocken, und mir ist heiß in meinem Pullover. Ich werde den anderen Wagen rammen, während mich von vorn der Elch rammt.
Und da höre ich den Schuss.
Der Elch prescht auf die Bäume zu, springt über einen Graben und flieht in den dunklen Wald. Das Letzte, was ich sehe, sind die Hinterläufe, dann nimmt ihn sich der Utgard-Wald zurück.
Meine Handflächen schwitzen, und das Lenkrad fühlt sich feucht und glitschig an. Ich bremse, lasse aber den Motor laufen. Das Fahrzeug hinter mir, vielleicht ein Quad von einem der Jagd-Teams, ist zwischen die Bäume abgebogen.
»Atme«, befehle ich mir. »Atme!«
Am ersten Tag der Elchjagd bin ich von einem Gewehrschuss gerettet worden. Vor drei Jahren in London hätte es dieses Geräusch in die Schlagzeilen geschafft und für Empörung gesorgt. Heute, hier in Värmland, in diesem Leben, ist es normal. Sogar beruhigend.
Ich ziehe mir den Pullover über den Kopf, der sich im Gurt verfängt. Eine ganze Weile kämpfe ich schwitzend und pustend mit dem Ding, bis ich mich befreit habe. Feine blonde Strähnen fliegen statisch aufgeladen mit auf.
Ich schiebe den Schalthebel nach vorn und fahre los. Nicht so schnell wie vorher und auch nicht so schnell, wie ich gerne würde, sondern vorsichtig, mit eingeschaltetem Fernlicht, während ich die dunklen Stellen seitlich des Weges im Auge behalte. Schließlich lenke ich den Truck hinauf auf die geteerte Straße und zurück zum Ort Gavrik. Der Verkehr auf der E16 ist noch dicht, doch von jetzt an werde ich auf der Schnellstraße bleiben. Keine Abkürzungen mehr über die Waldwege.
Ich bin müde und hungrig, und mein Adrenalinpegel fällt. Mir bleiben zweiunddreißig Stunden, um acht Aufmacher zu schreiben, bevor wir in den Druck gehen. Ich schalte das Fernlicht aus. Immer noch höre ich das Schaben des Geweihs an meinem Kühler. Ich passiere das Ortsschild von Gavrik, hinter dem die Straßenbeleuchtung beginnt. Die Zivilisation stellt sich nach und nach ein. Zuerst Katzenaugen und eine Mittellinie auf dem Asphalt, nun städtische Beleuchtung. Der unbeleuchtete Wald kann verdammt noch mal weit weg bleiben. Ich will Pflaster, Cafés, Kinos, Fast Food, Büchereien, Bars und Parkuhren. Ich will Vorhersehbares und von Menschen Gemachtes.
Zwischen dem McDonald's Drive-thru und dem Supermarkt biege ich auf die Storgatan, die Hauptstraße des Orts. Mein Puls beruhigt sich, aber immer noch habe ich Flashbacks vom Unfall meines Vaters. Und ich war nicht mal dabei. Meine Erinnerungen sind Lügen, Bilder, die sich über die Jahre verfestigt haben. Ich fahre weiter. Die zwei Schornsteine der Lakritzfabrik ragen Kirchtürmen gleich im Hintergrund auf. Die Geschäfte schließen gerade und Mitarbeiter verabschieden sich möglichst knapp voneinander, ehe sie mit hochgeklappten Jackenkragen zu ihren Volvos eilen, um nach Hause zu ihrer Fußbodenheizung und ihren Großbildfernsehern zu kommen.
Mein Parkplatz ist mit meinem Namen versehen, doch selbst wenn es nicht so wäre, würde das nichts machen. Dieser Ort ist überversorgt mit Parkmöglichkeiten. Zukunftsorientiert, obwohl keiner weiß, ob und wann diese Zukunft, in der Gavrik um fünfzig Prozent wachsen soll, kommen wird. Warum sollte sie? Die, die hier aufwachsen, gehen fort. Und wer mal zu Besuch war, scheint nie wiederzukehren.
Ich schließe meinen Wagen ab und öffne die Tür zum Gavrik Posten, dem Lokalblatt und meinem Arbeitsplatz. Wöchentliche Auflage: 6 000. Hier zu landen, hatte ich nicht erwartet, aber so war es gekommen. Ich hatte mich bei vier seriösen Zeitungen in einem Drei-Stunden-Radius von meiner Mutter vorgestellt und vier Angebote bekommen. Meine Mutter wohnt in Karlstad, und ihre Familie besteht nur aus mir, weshalb ich aus London heimkehrte, als sie krank wurde. Es ist nicht einfach; sie ist nicht einfach. Doch sie ist meine Mutter. Gavrik ist in der Nähe von Karlstad, aber nicht zu nahe, und von Lena, der halbnigerianischen Herausgeberin des Posten, kann ich einiges lernen. Der Empfang besteht aus einer Messingglocke über der Tür, zwei Sesseln, einer verstaubten Grünpflanze in einem Plastiktopf, einem Tresen samt einer Dose, in die diejenigen, die eine Zeitung rausholen, hoffentlich das Geld dafür stecken.
Lars, unser alteingesessener Lokalreporter, ist nicht da. Ich öffne die Klappe am Tresen - ein Kiefernholzbrett an quietschenden Angeln - und hänge meine Jacke auf. Meine Hände zittern noch. Dann streife ich meine Stiefel ab und schlüpfe in meine Büroschuhe. Im Büro vorn stehen zwei Schreibtische, einer für Lars, einer für mich. Außerdem gibt es noch zwei geschlossene Büros hinten, von denen eines Lena und das andere Nils gehört, unserem minderbemittelten Anzeigenakquisiteur. Alles in allem ist es ein Drecksloch von einer Redaktion, dennoch bringen wir jeden Freitag eine ziemlich anständige Lokalzeitung heraus.
Ich möchte nicht in Gavrik wohnen, tue es aber. Meine Mutter braucht mich, auch wenn sie es nicht einmal ansatzweise offen aussprechen würde. Inzwischen sind ihre Knochen und ihr Blut befallen, und wenn ich Kleinigkeiten tun kann - ihr die Rosenöl-Handcreme besorgen, die sie mag, ihr aus ihrem Lieblingskochbuch vorlesen, weil sie Lesen zu sehr ermüdet, oder ihr frische Zimtbrötchen bringen -, tue ich es. In alldem bin ich nicht gut; es liegt mir nicht so, wie es ihr anscheinend immer gelegen hatte. Aber ich tue, was ich kann. Und eines Tages, eines halb traurigen, halb glücklichen Tages, werde ich in die richtige Welt zurückkehren, in eine Stadt - irgendeine Stadt, je größer, desto besser.
»Tuva Moodyson«, sagt Nils, der aus seinem Büro tritt. Sein Haar ist gegelt wie das eines Teenagers und sein Hemd so dünn, dass ich seine Brustwarzen sehe. »Was ist mit dir los? Hast du daheim eine schnelle Nummer geschoben, oder was?«
Ich setze mich und bemerke, dass mir das T-Shirt noch vor Schweiß an der Haut haftet und mein Haar durcheinander ist; einige Strähnen kleben...
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