Schweitzer Fachinformationen
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Angesichts der aktuell heftig, vor allem im globalen Norden politisierten Identitäten dürften manche zu bedenken geben, die Chiffre Genosse ignoriere Geschlecht wie Abstammung gleichermaßen und transportiere eine männliche, weiße Gedankenwelt. Dieses Kapitel greift die damit verbundenen Fragen auf und verweist auf die Macht des Konzepts Genosse unter den Bedingungen des patriarchal-rassifizierten Kapitalismus. Ich werde spekulativ-synthetisch vorgehen und ziele weder auf eine lineare Geschichtsschreibung noch auf eine detaillierte Kritik der verschiedenen, real existierenden Sozialismen. Stattdessen isoliere ich Beispiele aus ihren Zusammenhängen und berge sie auf diese Weise für gegenwärtige Kämpfe um eine andere Zukunft. Anstatt in den Ruinen des Kommunismus zur Salzsäule zu erstarren, können wir die Ruinen nach den Hoffnungen und Lektionen der Vergangenheit durchstöbern und diese Überreste nutzbringend verwenden für unseren Organisations- und Aufbauprozess.
Kommen wir zunächst zum Männlichkeitsvorwurf: Obwohl er in den Publikumsgesprächen meiner Veranstaltungen häufig formuliert wird, halte ich die Idee für befremdlich, dass nur ein Mann Genosse sein kann. Ich denke sofort an: Rosa Luxemburg, Angela Davis, Alexandra Kollontai, Claudia Jones, Clara Zetkin, Sylvia Pankhurst, Dolores Ibárruri, Zhang Qinqiu, Marta Harnecker, Grace Lee Boggs, Leila Khaled, Luciana Castellina, Tamara Bunke . Zumindest einige dieser Namen dürften bekannt sein. Sie waren Frauen, und sie waren Genossen. In ihrem Klassiker Rassismus und Sexismus zählt Angela Davis einige der Aktivistinnen auf, die in den frühen Jahren der CPUSA aktiv waren: »>Mutter< Ella Reeve Bloor, Anita Whitney, Margaret Prevey, Kate Sadler Greenhalgh, Rose Pastor Stokes und Jeanette Pearl«.44
Wenn die Chiffre des Genossen weder hauptsächlich noch wesentlich männlich ist - sondern vielmehr generisch, typisch ist und die Form eines politischen Verhältnisses zwischen Menschen auf derselben Seite darstellt, die von gesellschaftlich vorgefundenen oder naturalisierten Identitäten abstrahiert, insofern sie ein gemeinsames Feld der Gleichstellung und Zugehörigkeit voraussetzt -, dann sind individuelle Namen (wie ich sie eben aufzählte) dafür wohl aber nicht das beste Argument. Dem individuellen Namen fehlt das für »Genosse« entscheidende Element der Relationalität. Eine bessere Entgegnung auf die Bedenken, »Genosse« sei männlich und abstrahiere faktisch nicht von gesellschaftlich vorgefundenen Identitäten, käme auf die vielen Frauen zu sprechen, die weltweit Teil des bewaffneten kommunistischen Kampfes waren und heute noch sind - etwa auf den Philippinen und in Indien, wie Arundhati Roy in ihrem Buch Wanderung mit den Genossen beschreibt.45 Noch überzeugender wird das Plädoyer gegen eine maskulinistische Verengung von »Genosse« vielleicht, wenn wir uns die große Bandbreite der Frauengruppen und -veranstaltungen in Erinnerung rufen, die im 20. Jahrhundert für kommunistische Kreise weltweit ebenso unabdingbar waren wie die unzähligen Kommissionen, Ausschüsse, Konferenzen und Veröffentlichungen zur Organisierung der Frauen. Die erste internationale sozialistische Frauenkonferenz beispielsweise fand 1907 statt. Alexandra Kollontai berichtet, das Hauptthema dieser lebendigen, dynamischen Konferenz sei das Arbeiterinnenwahlrecht gewesen, das sie befürwortet habe. Die Delegation der deutschen Genossinnen schlug vor, die Sozialdemokratie solle die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht um den Zusatz »ohne Unterschied des Geschlechts« ergänzen - denn dieses Recht hatten auch die männlichen Arbeiter in Europa noch nicht überall errungen. Die Forderung war umstritten. Kollontai bemerkt, »das Bewußtsein von der Wichtigkeit der politischen Gleichberechtigung der Proletarierinnen für die Interessen der gesamten Klasse hat sich noch nicht fest und sicher verwurzeln können.«46 Folglich könnten opportunistische Kompromisse zugunsten des allgemeinen Männerwahlrechts das Arbeiterinnenwahlrecht zurückstellen - zulasten der Klasseneinheit und eines größeren Stimmengewichts der Arbeiterklasse. Auch könnte, wie es in der britischen Suffragettenbewegung der Fall war, im starken Einsatz für die Fraueninteressen der Klassenkampf aus dem Blick geraten. Die Sozialisten müssten sich für das Arbeiterinnenwahlrecht einsetzen, erklärte Kollontai und zeigte sich zuversichtlich, dass die Erlangung des Frauenwahlrechts auch den männlichen Arbeitern und allen Frauen zugutekommen werde.
Wie Lenin in einem Gespräch mit Clara Zetkin nachdrücklich zum Ausdruck brachte, können Frauen ebenso Genossen sein, auch wenn er den Gedanken zurückwies, die Kommunistische Partei solle eine eigenständige Frauenorganisation aufstellen. Seine Haltung zur Frauenfrage deckt sich mit seiner Position zur Organisierung der verschiedenen Nationalitäten in Russland. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) wurde als Partei für das gesamte Proletariat gegründet, und im Jahr 1913 erläuterte Lenin, die Verhältnisse in Russland verlangten
unbedingt von der Sozialdemokratie den Zusammenschluß der Arbeiter aller Nationalitäten in ausnahmslos allen proletarischen Organisationen (den politischen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen, den Bildungsorganisationen usw. usf.). Nicht Föderation im Parteiaufbau, nicht Bildung nationaler sozialdemokratischer Gruppen, sondern Einheit der Proletarier aller Nationen in jedem Ort. Dabei soll die Propaganda und Agitation in allen Sprachen des in den betreffenden Orten lebenden Proletariats betrieben, der Kampf der Arbeiter aller Nationen gegen nationale Privilegien gleich welcher Art gemeinsam geführt werden, sollen die örtlichen und Gebietsorganisationen der Partei Autonomie genießen.47
Dasselbe Prinzip wandte Lenin auf die Frauenfrage an und sagte: »Wer Kommunistin ist, gehört als Mitglied in die Partei wie der Kommunist. Mit gleichen Pflichten und Rechten. Darüber kann es keine Meinungsverschiedenheit geben.«48 Gleichzeitig hielt er Kommissionen sowie »besondere Agitationsmethoden und Organisationsformen« für notwendig, deren Aufgabe es sei, die Arbeiterinnen, Kleinbäuerinnen und Kleinbürgerinnen zu wecken und mit der Partei zu verbinden. Für notwendig hielt er es auch, dass die Partei »Forderungen zugunsten der Frauen« aufstelle.49 Durch solche Forderungen demonstriere die Partei, dass sie die von Frauen erlittenen Demütigungen wahrnehme, dass sie das »Vorrecht des Mannes« begreife und verabscheue: »Daß wir alles hassen, jawohl, hassen und beseitigen wollen, was die Arbeiterin, die Arbeiterfrau, die Bäuerin, die Frau des kleinen Mannes, ja in mancher Beziehung sogar auch die Frau der besitzenden Klassen drückt und quält.«50
Dass Genossen auch Frauen und Frauen auch Genossen sind, wird ebenfalls klar, wenn wir uns die changierenden Ansichten zu Geschlechterrollen und Familienbild in Erinnerung rufen, die der Begriff »Genosse« transportiert hat. Einerseits haben wir die frühsowjetischen Experimente zur Abschaffung der bürgerlichen Familien- und Sexualnormen und zum Aufbau neuer, egalitärer Beziehungen im Geiste der Genossenschaftlichkeit und Solidarität. Genossenschaftlichkeit bedeutet hier, durch die Vergesellschaftung der Aufgaben sozialer Reproduktion diejenigen Praktiken abzuschaffen, die Frauen zu Menschen zweiter Klasse machen. Andererseits lässt sich auf die Jahre der amerikanischen Volksfront verweisen, in denen die Kernfamilie sowie die pädagogische Mutterrolle der Frauen und insbesondere deren Fähigkeit in den Vordergrund gestellt wurden, eine neue Generation klassenbewusster Kommunisten aufzuziehen.51 Wie die Kommunistische Partei der Sowjetunion, so vollzog auch die CPUSA Ende der 1930er-Jahre eine konservative Wende und distanzierte sich von ihrer Kritik der bürgerlichen Familie und ihrem Image als Fürsprecher der freien Liebe.52 Der damalige Mutterkurs der CPUSA hinderte Kommunistinnen jedoch nicht daran, chauvinistische Ehemänner zur Verantwortung zu ziehen. Zumindest »ein männlicher Kommunist wurde aus der Führungsriege entfernt, weil er die Mitwirkung an der Kinderbetreuung verweigerte«, wie Barbara Foley belegt.53 Auch wenn ihre Stärken und Rollen Unterschiede aufwiesen, in der Partei waren Männer und Frauen Genossen und konnten Gleichberechtigung durchaus erwarten. Übrigens attestiert auch die Populärkultur des Kalten Krieges, dass der Genosse nicht notwendigerweise männlich ist: Filme, Fernsehsendungen, Groschenromane, Zeitschriften und die Werbung kolportierten Stereotypen, die sich über die Androgynität der Genossinnen lustig machten, aber auch die fantasmatische Vorstellung verbreiteten, attraktive KGB-Agentinnen würden ihre Reize einsetzen, um gute Amerikaner zum Verrat an ihrer Regierung zu verführen.
In seiner Beschreibung der revolutionären Linken in den 1930er-Jahren hebt Murray Kempton die Genossinnen besonders hervor:
Die Erinnerung an die Dreißiger wird überragt von der Frau Genossin: Sie schien aus Fischbein gemacht und oft stärker als der Mann. Wenige von uns, die wir nicht so stark waren, wie wir es damals hätten sein müssen, werden jemals den Augenblick vergessen, in dem uns ein Racheengel, Agentin der Bewegung, zur Rede stellte und unserer Pflichten gemahnte, wie die ältere Schwester, die uns zum Essen ruft.54
Wie aus Kemptons Worten klar hervorgeht, waren Frauen zwar Genossen, aber die kommunistischen Männer wandten sich deswegen noch nicht mit...
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