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Falsche Heimkehr - In der Folge drängte mein Deutschprofessor Christoph S. darauf, dass ich mich dem Schreiben auch als offiziellem Beruf zuwenden sollte. Wusste er, dass ich aus dem Arbeitermilieu kam und auch später Unterstützung brauchen würde? Woher sollte ich den Mut nehmen und mich finanziell auf dünnes Eis wagen? Konnte ich überhaupt Schriftsteller werden?
Noch immer war weit und breit kein Vorbild aufgetaucht, an dem ich mich hätte orientieren können. Der monströse Guido Bachmann, dem keine Obszönität zu schreiend, keine Übertreibung zu groß und keine Grenzüberschreitung zu kühn war, konnte es nicht sein. In meiner Umgebung gab es keinen schreibenden Onkel, keine schriftstellernde Tante, meine Familie ging nie ins Theater, las keine Bücher, und nie hatte einer ein Gedicht aufgesagt.
Als ich meiner Mutter meine Schreibversuche gestand, weil ich einen ersten kleinen Text veröffentlicht hatte, sagte sie zu meiner Überraschung, sie kenne den Schriftsteller Hermann Burger, er habe einige Klassen unter ihr dieselbe Schule besucht. Darauf telefonierte sie mit ihm, dem ich bereits aufgefallen war, weil er, damals Literaturredaktor bei der Lokalzeitung, meine Aphorismen in den Aarauer Neujahrsblättern gelesen hatte.
Meine Mutter gab mir ein zerblättertes Büchlein, es war die gleichnamige Geschichte des Außenseiters Bork, ein rätselhafter und unverstandener Geselle, ein Fremder im Dorf, der zuletzt vom Hagel erschlagen wird. Bork, dachte ich bei der Lektüre, könnte auch ein verkapptes Selbstportrait des Autors sein, er musste auch etwas mit mir und dem Dorf zu tun haben.
Ich lernte Burger bei einer Lesung in Aarau kennen. Anders als Bachmann redete er klug und gebildet wie ein Universitätsprofessor, ohne jeden Anflug von Unsicherheit, behindert allenfalls durch ein leises Lispeln, das, wie ich später erfuhr, durch eine seiner Medikamenteneinnahme geschuldeten Gaumentrockenheit verursacht wurde. Er redete so hochgestochen, dass ihn die Hälfte des Aarauer Publikums nicht verstand. Ich hätte mir nie vorstellen können, so einer zu werden, wie er einer war, aber ich war von seinen Büchern fasziniert. Geradezu süchtig verschlang ich Schilten, Diabelli und Blankenburg.
Viel später, nach seinem Tod, las ich seine letzten Romane, in denen ich, zu meiner Verwunderung, in eine Welt zurückversetzt wurde, die ich peinlich genau kannte: mein Dorf. Mehr als zehn Jahre vor mir war Hermann Burger, in derselben dörflichen Enge aufgewachsen wie ich, schreibend wieder in sein Dorf zurückgekehrt. Seine Welt der Zigarren, der Enge und der Zwänge des oberen Wynentals, die er literarisch umsetzte, war mir absolut vertraut. Ich erkannte alles wieder, gerade auch in seiner zur Kenntlichkeit entstellten sprachlichen Verfremdung: Dieses Konglomerat von taubjalousieigen Kopfbauten, Satteldachfabrikhallen und Lagerhäusern bildete das Dorfzentrum von Menzenmang, der Ziegelschrot regierte über das versunkene Reich der von der Grünau bis zur Hauptstraße (.).[6] An dieser Stelle der Lektüre stockte ich, und zwar wegen einer unglaublichen Koinzidenz, denn die Grünau lag nur einen Steinwurf von meinem Großelternhaus entfernt, dem Tubakhuus, in dem ich aufgewachsen war. Ich stieß immer weiter auf Gemeinsames, zum Beispiel auf seine Tante Lili Pfendsack am Ölberg, bei der ich jahrelang Blockflötenunterricht genommen hatte, oder auf die beiden Geschwister Merz mit ihren Ohrenschnecken in der Dorfpapierwarenhandlung, bei denen auch ich meine Weihnachtskalender und Abziehbildchen gekauft hatte: Der Laden war der Inbegriff einer verschollenen Landpapeterie, in der verjährte Bestseller, Glückwunsch- und Kondolenzkarten den Nachmittag verschliefen.[7] Selbst dem ovalen Kässeli der Bank, in dessen Schlitz mit den beweglichen Gebisszargen und dem schwarzen Schild >Bank< in Menzenmang ich jeden gesparten Franken verschwinden ließ, widmete er einige Zeilen.[8]
Dieser Schriftsteller überschrieb meine Kindheit. Indem ich ihn las und in seinen Texten in mein Dorf zurückpilgerte, wurde ich an meine Kinderjahre erinnert. Straße um Straße, Ecke um Ecke begegnete mir jenes Selbst, dem ich seit dem Ende meiner Jugend entkommen wollte. Auf dem zugefrorenen Weiher, wo Der Puck spielte, war auch ich Schlittschuh gelaufen. Und der jährlich im Dorf gastierende Nationalzirkus Knie war das Ereignis auch meiner Kindertage gewesen. Wie konnte es sein, dass wir dieses Dorf so ähnlich erlebt hatten, wo wir doch so verschieden waren? Der Schriftsteller war ein angesehener Literat und Redaktor der einzigen Lokalzeitung, er residierte in einem noblen Pfarrhaus, chauffierte einen Ferrari Testarossa, während ich in meiner Bruchbude in Basel als Student froh war, der Enge des Dorfes entkommen zu sein.
Aber sein Heim-Weh war mir keine Heimatlust. Ich war im Dorf aufgewachsen, aber das Dorf hatte mich nie ganz als zugehörig betrachtet. Was mich von Burger unterschied, war meine Herkunft. So konnte ich mich bei allen Übereinstimmungen des Eindrucks nicht erwehren, dass er mein Dorf verklärte. Als Patient verschiedener psychiatrischer Anstalten, unter anderem auch der berüchtigten Klinik in Königsfelden, diente ihm die Rückkehr ins Dorf als Zugang zu seiner verschütteten Kindheit: Ja, so >querschössig< ich als kleiner Stumpen dem Stillen-Tal-grüß-dich tausendmal entwachsen war, so reumütig variantenreich wollte ich zurückkehren, habe ich doch in meiner Biographie immer nur einen Zug von Menzenmang entfernt gewohnt (.).[9]
Dieser Mann aus Wörtern war eben, anders als ich, im Dorf zu Hause gewesen, oder, wie er es formulierte: do usse, bueb, bisch deheime. Trotzdem fühlte auch er sich nicht ganz zugehörig: Ned schwyzer, sondern patient sy und nome luege war meine Devise, wenn ich in der niedrigen, großen Bauerngaststube mit den blank polierten Nussbaum-Achtertischen den Jassern zuschaute (.).[10] Wie fast jeder Mann im oberen Wynental hatte er immer eine Zigarre im Mund und war schon rein äußerlich nicht von einem Einheimischen zu unterscheiden. Aber er gehörte deswegen nicht ganz zu ihnen, weil seine hochgezüchtete Intelligenz, seine überbordende Kreativität und seine Sensibilität ihn von der Dorfgemeinschaft absonderten. Ich wusste, wie es sich anfühlte, Außenseiter zu sein, ich konnte ihm nachfühlen, wenn er sein Ich aufs Spiel setzte, den Trickser gab, den Kartenspieler, den Zauberer und lispelnden Selbstdarsteller. Ich verstand sehr gut, warum er auf seine Randständigkeit mit einer artifiziellen Sprachstrategie reagierte, mit der er die Wirklichkeit in sein Universum zurückholte. Denn er verwandelte seine Heimat in Sprache, entzog ihr den realen (Leidens-)Kern und machte sie zu etwas Künstlichem.
Wer schreibend sich verhält, kann dem Reiz nicht widerstehen, potenzielle Daseinsformen zurechtzubiegen, Lebensläufe auszuprobieren. Wie wäre ich als Tabakkaufmann herausgekommen, wie als Drehorgelspieler, wie als Leiter einer Hausiererschule?[11] - Das traf meine hybride Identität, denn die Frage, wer ich geworden wäre, wenn ich in Trinidad gelebt hätte, hatte mich nie ganz losgelassen.
Der Tabak, den Burger maßlos konsumierte, war auch mein Kindheitsaroma. Der Schriftsteller aber war kein gewöhnlicher Nikotinsüchtiger, er war ein richtiger Kenner:
Was ich hier demonstrativ vorrauche, um mich von Pegasus in den Tabakwolken beflügeln zu lassen, ist ein waschechter Brenner-Stumpen, prismatisch gewickelt und konisch zulaufend, 40 Prozent Brasil, 9 Prozent Malawi, 14 Prozent Havanna, 8 Prozent Domingo, 12 Prozent Java, 17 Prozent Sumatra, Deckblatt aus Cru das Almas.[12]
Mein Großvater Eddie, der Stumpenarbeiter bei Villiger, hätte diese Tabakprovenienzen nie aufzählen können, er hätte sich diese Zigarren gar nicht leisten können, sondern er rauchte ein Leben lang Villiger Verschnitt, bis er daran erkrankte. Der Schriftsteller dagegen inszenierte sich als Dynastiezugehöriger der Zigarrenfirmen, in denen meine Großeltern sich ein Leben lang abgerackert hatten, und täuschte so die nahe und nicht ganz nahe Umgebung über seine Herkunft. Dabei interessierte er sich weder für die Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen, ihren kläglichen Lohn, ihre sparsamen Ferien, noch für die Herkunftsländer der Tabakblätter oder gar für die Menschen, die den Tabak anbauten und ernteten. In seiner Welt kamen weder die Sklaverei noch die Tropen vor, und dieses Verdrängen entsprach ganz der damaligen Zeit.
Für mich, der ich die ersten zwölf Monate meines Lebens auf einer ehemaligen Sklavenplantage verbracht hatte, war die Tabakpflanze keine Obsession, die den Gaumen und den Kopf reinigt, Schmerzen und Müdigkeit vertreibt, Zahnweh und andere Wehwehchen stillt, und sie war auch kein Mythos. Vielmehr war sie ein Kolonialprodukt, an dem das Blut der Sklav*innen klebte. Ich konnte das Kraut nicht vom Unrecht seiner Gewinnung trennen, geschweige denn von der Ambivalenz, die es im Leben meiner Großeltern dargestellt hatte. Die Verarbeitung von Tubak hatte ihnen ein Auskommen ermöglicht, und zugleich war die Tabakindustrie, Burger und Villiger, der Grund für ihr lebenslanges Darben und zuletzt ihre Krankheiten.
Burgers...
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