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1. Kapitel
London, 1780
Der Mann mit der weißen Maske stellte ihr nach.
Amelia Benbridge wusste nicht genau, wie lange er ihr schon heimlich gefolgt war, aber dass er ihr folgte, stand außer Zweifel.
Ganz auf die Bewegungen des Mannes konzentriert, schlenderte sie am Rand des Langston-Ballsaals entlang und sah sich dann und wann mit gespieltem Interesse um, um den Mann genauer in Augenschein zu nehmen.
Bei jedem ihrer verstohlenen Blicke stockte ihr der Atem.
Eine andere Frau hätte inmitten dieses ganzen Trubels wahrscheinlich gar nichts bemerkt. Ein Maskenball mit all den schillernden Gestalten, den Geräuschen und Gerüchen konnte eine überwältigende Wirkung haben. Die leuchtend bunten Stoffe, die üppige Spitze . die Vielzahl der Stimmen, die versuchten, sich über das unermüdliche Orchester hinweg Gehör zu verschaffen . die unterschiedlichen Parfümdüfte, die sich mit dem Geruch von heißem Wachs aus den massiven Kronleuchtern vermischten .
Doch Amelia war nicht wie andere Frauen. Sie hatte die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens unter strenger Bewachung verbracht, und jeder ihrer Schritte war genau beobachtet worden. Wehrlos den Blicken anderer Leute ausgesetzt zu sein erzeugte ein seltsames, unverkennbares Gefühl. Amelia kannte dieses Gefühl zu gut, um sich zu täuschen.
Mit Sicherheit konnte sie indes sagen, dass sie noch nie von einem derart . faszinierenden Mann so genau gemustert worden war.
Denn er war faszinierend. Das ließ sich nicht leugnen, trotz der Entfernung zwischen ihnen und der Halbmaske, die den oberen Teil seines Gesichts verbarg. Allein schon seine Gestalt war beeindruckend - groß und wohlproportioniert, mit maßgeschneiderter Kleidung, die sich eng um seine muskulösen Schenkel und die breiten Schultern schmiegte.
An einer Ecke des Ballsaals angekommen, wandte sie sich um und veränderte sowohl für sich als auch für den Fremden den Blickwinkel. Sie blieb stehen und nutzte die Gelegenheit, um ihre Halbmaske anzuheben, die sie an einem mit langen, bunten Bändern verzierten Stab hielt. Während sie vorgab, den tanzenden Paaren zuzusehen, beobachtete und begutachtete sie in Wahrheit den Fremden. Das war ihrer Meinung nach nur fair. Wenn er sie ungeniert mustern konnte, so konnte sie das umgekehrt genauso.
Er war ganz in Schwarz gekleidet, bis auf die schneeweißen Socken, die Krawatte und das Hemd. Und die Maske. Ganz schlicht, ohne Verzierung oder Federn und nur mit einem schwarzen Satinband am Kopf festgebunden. Während die meisten anderen Gentlemen in bunte, schillernde Farben gehüllt waren, um Aufsehen zu erregen, schien die strenge, düstere Kleidung des Fremden wie geschaffen zu sein, um ihn im Schatten dunkler Nischen untertauchen zu lassen. Damit man ihn nicht bemerkte - was freilich unmöglich war. Im Schein der zahllosen Kerzen schien sein schimmerndes, dunkles Haar geradezu lebendig zu sein und lud eine Frau geradezu ein, ihre Finger darin zu vergraben.
Und dann sein Mund .
Amelia atmete scharf ein. Sein Mund war Fleisch gewordene Sünde. Wie in Stein gemeißelt waren die Lippen weder voll noch schmal, aber fest. Schamlos sinnlich. Umrahmt von einem kräftigen Kinn, einer scharf geschnittenen Kieferpartie und dunkler Haut. Vielleicht kam er aus einem anderen Land. Amelia konnte nur mutmaßen, wie sein Gesicht ohne die Maske aussah. Wahrscheinlich so betörend, dass es einer Frau den Schlaf raubte.
Doch neben den körperlichen Merkmalen faszinierte sie vor allem sein Gang - entschlossen, aber mit raubtierhafter Geschmeidigkeit und hoch konzentriert. Seine Bewegungen waren weder affektiert noch gelangweilt, wie man es bei Männern aus höheren Kreisen sonst häufig beobachtete. Dieser Mann wusste, was er wollte, und hielt sich nicht damit auf, seiner Umgebung etwas anderes vorzutäuschen.
Im Moment war er offenbar entschlossen, Amelia zu verfolgen. Sein intensiver Blick war wie ein heißer Atemhauch, der sie berührte - ihr Haar, ihren Nacken, ihre nackten Schultern und der dann ihre Wirbelsäule hinabglitt. Begehrlich.
Amelia hatte keine Ahnung, weshalb gerade sie die Aufmerksamkeit des Fremden erregte. Sie war durchaus hübsch, doch keineswegs attraktiver als die meisten anderen hier anwesenden Frauen. Ihr Kleid mit den raffinierten, silberfarbenen Spitzenunterröcken und den kunstvollen Blüten aus rosafarbenen und grünen Bändern war zwar bezaubernd, aber es gab weitaus faszinierendere Roben. Zudem wurde sie von Männern, die eine romantische Beziehung suchten, in der Regel nicht beachtet, da man allgemein davon ausging, dass ihre langjährige Freundschaft mit dem beliebten Earl of Ware irgendwann zum Altar führen würde. Wenn auch sehr langsam.
Was also wollte dieser Mann von ihr? Warum sprach er sie nicht einfach an?
Entschlossen wandte Amelia sich ihm nun vollends zu, senkte die Maske und starrte ihn unverhohlen an, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er gemeint war. Sie hoffte, seine langen Beine würden ihren entschlossenen Schritt wieder aufnehmen und ihn zu ihr bringen. Sie wollte sämtliche seiner Facetten kennenlernen - den Klang seiner Stimme, den Duft seines Eau de Cologne, die Wirkung ihrer Nähe auf seinen starken Körper.
Außerdem wollte sie wissen, was er von ihr wollte. Während ihrer gesamten mutterlosen Kindheit hindurch war Amelia von einem geheimen Ort zum nächsten gebracht worden; man hatte sie von ihrer Schwester und allen ihr nahestehenden Menschen getrennt, und ihre Gouvernanten hatten so häufig gewechselt, dass sich keinerlei emotionale Bindung entwickeln konnte. Aufgrund dieser Erfahrung misstraute sie allem Unbekannten. Das Interesse dieses Mannes war nicht normal und bedurfte einer Erklärung.
Ihr herausfordernder Blick verfehlte seine Wirkung auf ihn nicht. Sein ganzer Körper spannte sich an. Er erwiderte ihren Blick, und seine Augen glitzerten hinter der Maske. Einige lange Momente verstrichen, eine Zeitspanne, die Amelia kaum wahrnahm, weil sie ganz auf seine Reaktion konzentriert war. Gäste gingen an ihm vorbei, verdeckten ihn und gaben die Sicht wieder frei. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, sein Kiefer zusammengepresst. Gebannt beobachtete Amelia, wie sich sein Brustkorb unter einem tiefen Atemzug dehnte -
- als sie plötzlich unsanft von hinten angerempelt wurde.
»Bitte vielmals um Entschuldigung, Miss Benbridge.«
Stirnrunzelnd drehte sie sich um, um den Tölpel zu identifizieren, und sah sich einem Mann mit Perücke und rotbrauner Satinkleidung gegenüber. Mit ein paar Floskeln und einem knappen Lächeln tat sie die Sache ab, um sich sogleich wieder dem maskierten Fremden zuzuwenden.
Doch der war verschwunden.
Verwirrt blinzelte sie. Verschwunden. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, spähte in die Menschenmenge. Er war groß und mit extrem breiten Schultern gesegnet. Auch die fehlende Perücke war ein gutes Erkennungszeichen, doch so sehr sie sich bemühte, sie konnte ihn nirgends entdecken.
Wohin war er gegangen?
»Amelia.«
Die leise, kultivierte Stimme war ihr herzlich vertraut, und mit abwesendem Blick wandte sie sich dem attraktiven, ein Meter achtzig großen Mann zu, der jetzt neben ihr stand. »Ja, Mylord?«
»Wen sucht Ihr?« Der Earl of Ware ahmte Amelias Pose nach, indem er wie sie den Hals reckte. Jeder andere Mann hätte dabei lächerlich gewirkt, doch nicht der Earl of Ware. Egal, was er tat, er sah vom Scheitel seiner Perücke bis hin zu den diamantbesetzten Absätzen seiner Schuhe immer tadellos aus. »Es wäre wohl vermessen zu hoffen, dass Ihr nach mir Ausschau haltet.«
Verlegen lächelnd wandte sich Amelia dem Earl zu und hakte sich bei ihm unter. »Eher nach einem Phantom.«
»Ein Phantom?« Seine blauen Augen funkelten amüsiert hinter den Schlitzen seiner bemalten Maske. In Wares Miene spiegelte sich in der Regel entweder tödliche Langeweile oder warmherzige Heiterkeit. Doch Letzteres konnte nur Amelia in ihm wachrufen. »War es ein Schreckgespenst? Oder etwas Interessanteres?«
»Wenn ich das nur wüsste. Da war ein Mann, der mich verfolgt hat.«
»Alle Männer verfolgen Euch, meine Liebe«, erwiderte er mit leichtem Lächeln. »Wenn nicht auf zwei Beinen, dann zumindest mit Blicken.«
Tadelnd drückte Amelia seinen Arm. »Ihr verspottet mich.«
»Keineswegs.« Er zog eine arrogant geschwungene Braue in die Höhe. »Ihr wirkt oft so, als wäret Ihr ganz in Eurer eigenen Welt versunken. Eine Frau, die sich selbst genügt, übt auf Männer einen ungeheuren Reiz aus. Wir möchten in sie eindringen und uns mit ihr verbinden.«
Das intime Timbre in Wares Stimme entging Amelia nicht. Mit kokettem Augenaufschlag blickte sie zu ihm empor. »Schlingel.«
Er lachte, worauf sich etliche Gäste nach ihm umdrehten. Auch Amelia betrachtete ihn entzückt. Die Heiterkeit verwandelte den Earl von einem überdrüssigen, gelangweilten Aristokraten in einen lebensprühenden, anziehenden Mann.
Ware setzte sich in Bewegung und führte Amelia mit sich. Sie kannte ihn inzwischen sechs Jahre, seit seinem achtzehnten Lebensjahr. Sie hatte miterlebt, wie er zu dem Mann herangereift war, der er heute war, hatte beobachtet, wie er seine ersten zarten Bande knüpfte und sich durch seine Beziehungen zu Frauen verändert hatte, obwohl keine seiner Angebeteten ihn lange zu fesseln vermocht hatte. Sie sahen nur sein Äußeres und seinen Titel als Marquis, der nach dem Tod seines Vaters an ihn übergehen würde. Vielleicht hätte er mit dieser oberflächlichen Haltung...
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