Schweitzer Fachinformationen
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Der Schwächeanfall ist vorüber. In der Küche gibt sie Pascha zu fressen. Er vertilgt sein Trockenfutter und macht sich daran, sich zu putzen. Sein Fell ist stellenweise spärlich. Er wird alt. Komischer Name für einen Kater, hat Tamas gesagt, als sie ihn zu sich genommen hat, ich bin eifersüchtig. Sie hat sich nicht getraut, ihn zu fragen, worauf. Nestan hatte das Kätzchen unter der Motorhaube eines Autos gefunden und es ihr gerade gebracht. Vor ihm hatte sie Hunde gehabt.
Dzarlo, in ihrer Kindheit, folgte ihr überallhin. In Batumi schwamm er neben ihr her. Eines Tages war er zu einer Gruppe von Jungen gerannt. In ihrem letzten Sommer in Georgien. Im Sommer, als sie fünfzehn Jahre alt war. Sie hatte ihn gerufen, aber er hatte nicht reagiert. Ihre Cousins und Cousinen waren ohne sie gegangen. Sie hatte ihren Mut zusammengenommen und war auf die Jungen zugesteuert, die in der Nähe des Damms im Sand saßen. Sie redeten laut auf Russisch, mit georgischem Akzent. Sie waren älter. In Badehosen. Dzarlo hatte sich zu Füßen des größten von ihnen gesetzt und schaute ihm zu, wie er ein Eis aß. Der Junge ließ sich von dem Hund anstarren. Er hatte einen dicken, schwarzen Haarschopf, ohne Locken. Einen beinahe mageren, muskulösen Körper. Sie stand angezogen neben ihnen. Sie trug einen Hut mit Bändern. Sie hielt den Blick auf die Sandkörner gerichtet. Sie hätte den Hund gern am Halsband gepackt, aber sie hatte Angst, sich lächerlich zu machen, wenn er sich weigerte, ihr zu folgen. Als der Junge Dzarlo sein angebrochenes Eis hinhielt, schien er ihre Anwesenheit zu bemerken und starrte sie an. Obwohl sie ihn überragte - er saß und sie stand -, schaute er sie von oben herab an, und sie hatte ihn ungehobelt gefunden.
Dzarlo, wir gehen, hatte sie gesagt und auf dem Absatz kehrtgemacht.
Sie hörte es lachen. Dzarlo hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Der Junge streichelte ihm den Kopf. Das hatte sie wütend gemacht. Sie war umgekehrt und hatte am Halsband des Hundes gezogen. Der Junge war aufgestanden, er war viel größer als sie. Sie hatte seine elegante Lässigkeit verabscheut.
Er ist starrköpfig, hatte er gesagt, diesmal auf Georgisch. Ich begleite dich, dann wird er uns folgen.
Für wen hielt er sich? Sie hätte gern protestiert, ihren wachsenden Zorn zum Ausdruck gebracht. Aber sie hatte nichts gesagt, und sie waren Seite an Seite die Kais entlanggegangen, Dzarlo hinter ihnen her. Die anderen Jungen hatten ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt.
Ich heiße Tamas. Und du?
Tamuna.
Sie hatte ihm, einem Vertrauensbeweis gleich, auf Anhieb ihren Kosenamen genannt und es sofort bereut. Er hatte nichts dazu gesagt. Er war nicht geschwätzig. Sein Schweigen hatte sie mit Schrecken erfüllt. Sie hatte gesagt: Auf Wiedersehen, ich denke, mein Hund wird mir jetzt folgen.
Ich begleite dich nach Hause, das ist doch selbstverständlich.
Er schien sich über sie lustig zu machen, zog ständig die Augenbrauen hoch. Aber er hatte Wort gehalten und sie bis nach Hause zurückbegleitet. Sie hatte befürchtet, dass jemand sie sehen könnte, aber es schien niemand in der Nähe zu sein. Er hatte sich vorgebeugt, um sich von dem Hund zu verabschieden, und sie dabei angestoßen. Als er sich wieder aufrichtete, hatte sie sich gezwungen, ihm fest in die Augen zu blicken, um ihm ihre Verachtung kundzutun. Er hatte die Lider zusammengekniffen, ein schmales Lächeln angedeutet und war mit einem Kopfnicken hinter den Häusern verschwunden. Dzarlo hatte sich zu ihren Füßen hingelegt, den Kopf auf ihrem Schuh.
Der Hund war mit ihren Großeltern in Georgien geblieben. Sie hat sie nie wiedergesehen. Keinen der drei. Sie kennt nicht einmal ihr genaues Todesdatum.
Sie will gerade mit dem Frühstück anfangen, als das Telefon klingelt. Zehn vor zehn. Sie hat es lieber, wenn man sie nicht vor zehn Uhr anruft, sie nimmt sich gern Zeit. Oft lässt sie das Telefon klingeln, und dann fragt sie jeden, der später anruft: Warst du das, der kurz vor zehn Uhr angerufen hat? Sie spürt die leise Gereiztheit in ihren Antworten: Nein, sie wissen doch, dass man nicht vor zehn anrufen soll. Sie ärgert sich, dass sie es nicht lassen kann, ihnen diese Frage zu stellen. Wahrscheinlich wäre es besser, einfach abzunehmen, statt es klingeln zu lassen, weil es noch nicht zehn ist. Sie lässt ihren Milchkaffee stehen und geht dran. Sie braucht eine Weile, um den Apparat zu erreichen, das wissen alle. Zumindest beim ersten Anruf des Tages. Danach nimmt sie das tragbare Telefon mit und legt es neben sich auf den Tisch, zwischen die Bücher, die Zeitungen und die Spielkarten.
Hallo. Ihr Hallo klingt wie ein Röcheln.
Geht es dir nicht gut?, fragt Tsiala.
Sie wartet eine Weile und bringt dann heraus: Doch, doch, ich war gerade beim Frühstück.
Wenig sprechen, Kräfte sparen.
Alles Gute zum Geburtstag!, sagt Tsiala. Ich wollte die Erste sein, die dir gratuliert. Bin ich die Erste?
Sie versichert ihr, dass sie die Erste ist, ja.
Ich muss los, bin spät dran, bis nachher.
Sie behält den Hörer in der Hand und bleibt auf einer Ecke des Sofas sitzen. Die Vorhänge sind noch geschlossen. Am Abend vorher, als es dunkel wurde, ist sie durch das ganze Zimmer gegangen, hat die Lampen angemacht und die Vorhänge zugezogen. Ein beruhigendes Ritual. An manchen Tagen wartet sie, bis Mohamed kommt, um sie wieder zu öffnen. Er arbeitet in dem Lebensmittelladen unten im Haus. Er hat den Schlüssel. Er kommt herein. Seine hohe Gestalt, seine gemessene Stimme beruhigen sie. Er putzt, bringt die Einkäufe hoch, bereitet den Kaffee für den nächsten Morgen vor. Sie braucht dann nur noch auf den Knopf der Maschine zu drücken. Die Brote streicht sie sich selbst. Er kommt aus Marokko, er war Koch im Königspalast, bevor er nach Frankreich kam, er redet oft vom Exil und der Familie, die er zurückgelassen hat. Sie hört ihm zu, sie zwingt ihn manchmal, davon zu reden, wie schlecht er im Palast behandelt worden ist. Er erzählt, widerstrebend. Danach wirft sie sich ihr Drängen vor. Sie selbst redet nie von den Gründen ihres Exils.
Sie zieht die Vorhänge auf. Das Tageslicht blendet sie einen Moment lang. Ihr Blick fällt auf ihr Abbild in dem kleinen Spiegel über dem Tisch. Eine dunkelhaarige Frau, helle, lustige Augen, hervorstehende Wangenknochen, der Mund offen, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie wendet sich ab und schaut in den Himmel, auf die Baumwipfel vor den Fenstern, die der Wind bewegt. Die Wolken bilden jeden Tag neue Figuren. Die Straße ist ruhig. Sie hat das Vorbeiziehen der Kinder verpasst. Sie folgen ihren noch schläfrigen Eltern und verschwinden schlurfend in der Schule an der Ecke. Ihr Geschrei später im Pausenhof besänftigt sie, macht sie weniger besorgt. Eines Tages hat ein kleines Mädchen sie auf ihrem Balkon bemerkt, hat beobachtet, dass sie es beobachtete, und ihr unauffällig zugewinkt. Das wiederholte sich öfter, und eines Morgens erzählte es anderen davon. Seitdem richten die Kinder Grüße an sie, die sie erwidert. Die Eltern sehen nichts. Das ist eine Sache unter ihnen. Es sind fünf, sie weiß nicht, in welcher Verbindung sie zueinander stehen, zwei Jungen, drei Mädchen, und sie kann ihre Gesichter nicht genau erkennen. Sie denkt, dass eines von ihnen im Haus wohnt. Es verschwindet immer vor dem Eingang.
Von dem Tisch aus, an dem sie sitzt, kann sie das ganze Wohnzimmer überblicken, den Balkon, ein Stück Straße, Himmel, Bäume, das Haus gegenüber, die Hochbahn.
Die Notizbücher, die Tsiala ihr geschenkt hat, sind noch verpackt. Tsiala drängt sie zum Schreiben, nötigt sie ein wenig, so wie sie es mit Mohamed tut. Sie würde ihr die Freude gerne machen, erzählen, aber sie schafft es nicht. Sie nimmt die Notizbücher aus ihrer Verpackung, trinkt ihren Milchkaffee aus. Es sind hübsche Notizbücher, mit sehr feinem Papier. Sie nimmt einen Kugelschreiber, setzt rechts oben das Datum hin. Ihr Geist beginnt zu schweifen, ihre Gedanken zerstreuen sich.
Wenn sie manchmal redet - ihrem Gedächtnis gestohlene Geschichten -, sagt Tsiala: Das ist besser als nichts. Es ist wichtig für uns, für mich jedenfalls. Sie öffnet die Balkontür und tritt hinaus. Das Telefon klingelt erneut. Diesmal hat sie den Apparat in der Hand, sie lässt sich in den Korbsessel fallen und nimmt ab.
Hast du gut geschlafen? Ich komme um elf, um alles herzurichten, sagt Nestan.
Elf Uhr, ist das nicht ein bisschen früh?
Freust du dich wenigstens? Es klingt, als wäre es dir lästig.
Ach, Geburtstage, weißt du, aber ich bin glücklich, euch alle zu sehen.
Alles Gute zum Geburtstag, sagt Nestan beinahe widerwillig, dann: Früher mochtest du Geburtstage.
Sie versucht im Kopf nachzurechnen, seit wie vielen Jahren Tamas und sie sich nicht mehr gesehen haben. Vielleicht wird er nicht kommen. Es ist ein Gefühl wie ein Déjà-vu. Sie hat auf ihn gewartet, gehofft, umsonst. Im letzten Moment war Paris nicht sein Ziel gewesen. Sie hat nie aufgehört, auf ihn zu warten. Er hatte Verspätung. Immer. Verspätung auf georgische Art.
Bis nachher, sagt Nestan und legt auf.
Sie hat nicht zugehört, hofft, dass sie Nestan nicht verletzt hat. Genatswale. Sie murmelt das georgische Kosewort. Das Telefon klingelt erneut. Es ist Reziko.
Ich bin so froh, dich zu hören. Wie geht es dir?
Es geht mir besser. Und du? Wie fühlst du dich? Ich wäre heute Abend so gern bei euch gewesen.
Reziko wird nicht dabei sein können, er lebt weit weg. Es ist besser so, auf diese Weise vermeiden sie die Reibereien des Alltags. Sie muss Nestan verletzt haben. Sie unterhalten sich eine Weile. Mohamed kommt herein, eine rote Rose in der Hand. Sie legt auf, sie dankt ihm für seine...
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