Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Warschau im Sommer 2017: Wir sind mit Studierenden in die polnische Hauptstadt gereist. In unserem Seminar geht es um Aufstände in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert, und Warschau spielt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle. Während des Zweiten Weltkriegs war die Stadt der Ort gleich zweier Erhebungen gegen die deutsche Besatzungsmacht: dem jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto, der im April 1943 begann, und dem Warschauer Aufstand im August 1944. Zweimal griffen Menschen in Polen zu den Waffen und leisteten Widerstand. Beide Aufstände sind angesichts ihrer zentralen Bedeutung für die jüdische bzw. die polnische Erinnerungskultur in Deutschland viel zu wenig bekannt. In unseren Seminaren an der Universität erleben wir es immer wieder, dass unsere Studierenden die beiden Ereignisse verwechseln oder manchmal sogar noch nie von ihnen gehört haben.
Auf unserem Programm steht zuerst die Erinnerung an den Warschauer Ghetto-Aufstand des Jahres 1943. Mareike zum Felde, eine unserer damaligen Studentinnen, die hervorragend polnisch spricht, hat für uns eine Führung zu den Spuren der deutschen Vernichtungspolitik der Warschauer Juden und Jüdinnen vorbereitet. Unser Rundgang beginnt auf der Straße, die nach Mordechaj Anielewicz benannt ist, einem der Anführer des Widerstands. Hier befindet sich auch das Museum der Geschichte der polnischen Juden, das im April 2013 zum siebzigsten Jahrestag des Beginns des Ghetto-Aufstands eröffnet wurde. Der Ort für das Museum ist ganz bewusst gewählt, denn wir befinden uns im Viertel Muranów, wo in der Zwischenkriegszeit vor allem die jüdische Bevölkerung lebte. Gegenüber dem jüdischen Museum blicken wir auf das zentrale Denkmal für die jüdischen Kämpferinnen und Kämpfer: das Warschauer Ghetto-Ehrenmal. Ein erster Gedenkstein wurde bereits 1946 gelegt, als die Stadt noch komplett in Trümmern lag. 1948 wurde die Skulptur des polnisch-jüdischen Künstlers Nathan Rappaport enthüllt (siehe Kapitel 4). Die elf Meter hohe Stele zeigt Kämpfende des Ghettos, die zentrale Figur stellt Mordechaj Anielewicz dar. An beiden Seiten des Denkmals befindet sich jeweils eine Menora, der siebenarmige Leuchter, der das Judentum symbolisiert. Hier zeigt sich, dass gerade die Erinnerung an Widerstand, als sich Jüdinnen und Juden aus der Rolle der Opfer herausbegaben und zu Heldinnen und Helden wurden, durchaus vereinbar war mit der kommunistischen Art und Weise, sich des Krieges gegen die Deutschen zu erinnern. Bei unserem Besuch fallen uns die vielen frischen Blumen, Kerzen und Steine auf, die das Denkmal schmücken. Das Gedenken an die Ereignisse im Jahr 1943 ist bis heute lebendig. Für einen Großteil der vielen Besucherinnen und Besucher des Museums der Geschichte der polnischen Juden ist die Besichtigung des Denkmals Teil ihres Rundgangs. Die Wichtigkeit des Ghetto-Aufstands für die jüdische Erinnerung lässt sich auch daran ablesen, dass sich eine Replik des Ehrenmals in Yad Vashem in Jerusalem befindet, also am zentralen Ort der Erinnerung an den Holocaust in Israel, sie ist zudem Bestandteil der ersten sowjetischjüdischen Mahnmale. In Warschau bildet es die erste Station des Weges der Erinnerung an das Leid und den Kampf der Juden. Hierbei handelt es sich um einen bereits Ende der 1980er-Jahre eingerichteten Pfad, entlang dessen eine Vielzahl von Monumenten und Gedenktafeln an zentrale Ereignisse und Orte des Ghettos erinnern.
Als die Deutschen in Warschau einfielen, eroberten sie eine Stadt, die in ganz hohem Maße von ihrer jüdischen Gemeinde geprägt war. Mehr als 330 000 Jüdinnen und Juden lebten in der polnischen Hauptstadt und machten damit etwa ein Drittel der Bevölkerung aus, Warschau war das kulturelle, soziale und politische Zentrum des polnischen und europäischen Judentums. Mit der deutschen Besatzung begann für die lokale Bevölkerung eine Zeit der alltäglichen Gewalt und des Terrors. Die Entrechtung der Jüdinnen und Juden setzte umgehend ein, und ab November 1940 trieben die Deutschen ihre Ghettoisierung voran. Das Warschauer Ghetto - von den Deutschen wurde es als "Jüdischer Wohnbezirk in Warschau" bezeichnet - war das größte im von NS-Deutschland besetzten Europa. Hier wurde nicht nur die Warschauer jüdische Bevölkerung unter unvorstellbar grausamen Bedingungen eingepfercht, sondern auch andere Jüdinnen und Juden aus den besetzten Ländern wurden dort gefangen gehalten, bevor die überwältigende Mehrheit von ihnen in Vernichtungslager, in erster Linie nach Treblinka, deportiert wurde, um dort ermordet zu werden.
Für die Umsetzung ihres Vernichtungsplans setzten die Deutschen einen sogenannten Judenrat ein, an dessen Spitze sie Adam Czerniaków installierten, der vor dem Krieg in der Warschauer Stadtpolitik aktiv gewesen und 1931 in den polnischen Senat gewählt worden war. Er und seine Mitarbeiter wurden von den Nationalsozialisten gezwungen, bei der Unterdrückung, Entrechtung und schließlich der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Zuarbeit zu leisten. Aufgrund von Berichten von Überlebenden und aus Tagebüchern wissen wir einiges über das Leben und Sterben im Ghetto. Außerdem gibt es ein einzigartiges Archiv, das im Verborgenen von Emanuel Ringelblum aufgebaut wurde. Ringelblum war ein herausragender polnisch-jüdischer Intellektueller, ein Chronist und brillanter Historiker des polnischen Judentums, der jüdischen Kultur, der jiddischen Sprache. 1927 wurde er mit einer Arbeit über Die Juden in Warschau von den Anfängen bis zum Jahr 1527 an der Universität Warschau promoviert.
Die Verpflichtung, zu dokumentieren, Zeugnisse zu sammeln über das, was der jüdischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen angetan wurde - dieser selbst auferlegten Verpflichtung kam Ringelblum sogar in Zeiten der größten Not nach. Im Untergrund des Ghettos baute er ein Archiv auf, das es künftigen Historikergenerationen ermöglichen sollte, die Geschichte des Ghettos zu rekonstruieren. Und es gibt Memoiren von denjenigen, die als einige der wenigen überlebten. In Deutschland hat vor allem der berühmte deutsch-polnisch-jüdische Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiografie Mein Leben (1999) dazu beigetragen, die Wirklichkeit des Ghetto-Lebens einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland bekannt zu machen.
Reich-Ranicki wurde 1920 im polnischen Wloclawek geboren, verbrachte aber einen Großteil seiner Schulzeit in Berlin, wo sich seine tiefe Liebe zur deutschen Literatur entwickelte, die sein späteres Wirken in der Bundesrepublik bis zu seinem Tod im Jahr 2013 bestimmen sollte. Reich-Ranicki war einer von den etwa 17 000 polnischen Jüdinnen und Juden, die in der sogenannten "Polenaktion" 1938 aus Deutschland ausgewiesen wurden. Im November 1940 musste er ins Ghetto übersiedeln, wo er für die Jüdische Zeitung schrieb und für den Judenrat unter Vorsitz von Czerniaków übersetzte. Reich-Ranicki fertigte von seinen Übersetzungen für den Judenrat stets auch eine Kopie für das Archiv Ringelblums an. In seinen Erinnerungen schrieb er über ihn:
"[Ein] unermüdlicher Organisator war er, ein kühler Historiker, ein leidenschaftlicher Archivar, ein erstaunlich beherrschter und zielbewußter Mann. Immer hatte er es sehr eilig, unsere wenigen Gespräche waren leise, knapp und ganz sachlich. Wenn ich es recht bedenke, habe ich ihn nur flüchtig gekannt. Aber ich sehe ihn immer noch vor mir, ihn, Emanuel Ringelblum, den schweigsamen Intellektuellen."1
Tatsächlich gelang es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs, einen Großteil der Dokumente vor dem Zerstörungswillen der Deutschen zu verstecken und es so der Nachwelt zu bewahren, auch wenn nicht der gesamte Bestand wiedergefunden werden konnte. Ringelblum selbst führte außerdem Tagebuch, in dem er nicht nur seine Beobachtungen über die Ereignisse in Warschau festhielt, sondern auch die Nachrichten über die Deportationen von Jüdinnen und Juden aus anderen osteuropäischen Städten niederschrieb. Ringelblum dokumentierte, wie manche im Ghetto versuchten, ihren Lebensunterhalt durch Schmuggel mit der "anderen Seite" zu verdienen. Auch die inneren Konflikte der jüdischen Gemeinde beschäftigten ihn: So schrieb er am 18. März 1941, dass in der jüdischen Ghetto-Polizei besonders häufig konvertierte Juden dienten, die selbst antisemitisch waren. In der zweiten Hälfte des Jahres 1942, nachdem die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner des Ghettos ermordet worden war, sich aber noch viele Menschen im Ghetto versteckten, hielt Ringelblum fest: "Die jüdische Polizei ist oft grausamer als die Deutschen, Ukrainer und Letten. Sie haben mehr als ein Versteck aufgedeckt und versuchten katholischer als der Papst zu sein, um sich bei der Besatzungsmacht beliebt zu machen."2
Er äußerte auch scharfe Kritik an dem Judenrat unter Vorsitz von Czerniaków, der ihm besonders verhasst war. Dieser sei innerhalb dieser Institution eine unangefochtene Autorität: "sein Wort ist Befehl. Seine Edikte dürfen nicht in Frage gestellt werden. Im Allgemeinen haben sie das...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.