Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Tankleuchte brannte seit 50 Kilometern, als mir die Hälfte meiner Ersparnisse, etwa fünf Pfund, von einem Mann abgenommen wurden, dessen Job es war, den Leuten, die nach Oslo hineinfahren wollten, eine Maut abzuknüpfen - eine Praxis, von der ich dachte, sie sei im Mittelalter ausgestorben. Zumindest war der Mann nett. Ich erkundigte mich nach einem Ort, an dem ich über Nacht parken könnte, und er nannte mir einen See namens Maridalsvannet, der gleichzeitig als inoffizieller Campingplatz für Wanderarbeiter diente. Ich kam in der Dämmerung dort an, und schon bald kreuzten die Wanderarbeiter paarweise mit Bierdosen in der Hand auf, lehnten sich an meinen Transporter und starrten mich an, bis ich die Tür zumachte und mich in meinem Schlafsack auf mein improvisiertes Bett legte.
Der Mann im orangefarbenen Overall hatte recht gehabt mit dem Wetter. Ich erwachte in einem viel heißeren Land, fuhr Richtung Stadtzentrum und suchte lange nach einem halbwegs bezahlbaren Parkplatz. Letzten Endes stellte ich den Transporter in einer Seitenstraße vor einem Schild ab, das ich nicht verstand, und hoffte das Beste. Ich hatte größere Sorgen. Ich war nicht in der Lage, etwas zu essen, und mir war schlecht vor Angst, als ich mein Cello aus dem Schrank und auf meinen Rücken hievte. Es gibt Cellokoffer aus Carbonfaser, leicht und glänzend. Meiner war aber noch aus Sperrholz. Die Gurte waren schon vor langer Zeit gerissen und durch Lederriemen ersetzt worden, die nun wie ein altmodisches Folterinstrument in meine Schultern schnitten. Ich hatte einen Hocker aus Holz mit einem Loch oben drin, den ich so gerade mit einer Hand tragen konnte. In der anderen Hand hielt ich eine rote Baskenmütze aus Wolle. In letzter Minute stopfte ich mir noch den Zettel mit Aase Gjerdrums Telefonnummer in die hintere Hosentasche.
Abgesehen von einer überraschend großen Anzahl von Mädchen in Bikinis war Oslo menschenleer. Alle Läden hatten geschlossen, und jeder lag in der Sonne, um nach einem unvorstellbar langen und deprimierenden Winter fieberhaft Vitamin D zu tanken. Ich fragte mich, ob es in Norwegen zu diesem Zweck staatliche Feiertage gab. Überall lagen Sonnenanbeter, auf dem Bürgersteig, auf den grasbewachsenen Inseln in großen Kreisverkehren, auf Flachdächern, auf Holzbänken, ausgestreckt auf steinernen Statuen. Sie richteten sich auf und starrten mich neugierig an, als ich mit meiner Fracht an ihnen vorbeischlurfte und mir innig wünschte, ich hätte statt des Cellos ein Instrument gelernt, das klein war und sich leicht verstecken ließ, wie eine Geige oder ein Kazoo.
An einem großen Brunnen vor dem Eingang zur U-Bahnstation Nationaltheatret blieb ich schließlich stehen. Ich fand ein schattiges Plätzchen und setzte mich auf den Hocker. Um mich herum strömten massenhaft Menschen vorbei. Eigentlich lag mir nichts ferner, als mein Cello vor ihnen auszupacken und zu spielen. Doch wenn ich nicht den Rest meiner Tage in Oslo verbringen und langsam verhungern wollte, blieb mir nichts anderes übrig. Ich spannte den Bogen und fuhr den Stachel aus. Einige der Menschen blieben stehen und sahen mir zu. Ob Straßenmusik in Norwegen verboten war? Ich nahm das Cello, legte die Mütze auf den Boden und versuchte zu lächeln. Niemand lächelte zurück. In meinen Ohren hörte ich ein Rauschen wie das des Meeres.
Ich beschloss, das Menuett aus der ersten Suite von Bach zu spielen, weil es einfach, berühmt und das einzige Stück in Dur war, das mir einfiel. Stücke in Dur sind die, die fröhlich klingen, im Gegensatz zu Stücken in Moll, die schwermütig wirken. Natürlich war fast alles, was ich auswendig konnte, in Moll.
Es lief nicht gut. Auf einem Cello gibt es keine Bünde, und es war quasi unmöglich, mit schwitzenden und vor lauter Adrenalin zitternden Händen die Finger an den richtigen Stellen auf die Saiten zu setzen, selbst wenn ich daran gedacht hätte, das Instrument erst zu stimmen. Irgendwie schaffte ich es bis zum Ende, ließ dann den Bogen fallen, beugte mich hinunter, um ihn aufzuheben, und hätte mich fast übergeben. Auf der anderen Seite des Brunnens entdeckte ich eine Telefonzelle. Ich erwog, Ben anzurufen und ihn zu fragen, ob er mir Geld für das Fährticket nach Hause leihen könnte.
Vor mir tauchten zwei Kinder auf, die kicherten und einander zwickten. Ihre Mutter kam hinzu, gab ihnen einen Klaps und warf zwei Münzen in die Mütze. Ich versuchte, mich zu bedanken, aber als ich den Mund öffnete, brachte ich keinen Laut hervor. Langsam fragte ich mich, ob ich ernsthaft verrückt geworden war. Ich stand auf, packte das Cello wieder in den Koffer, steckte die zwei Münzen ein, zusammen 12 Kronen, etwa 1,20 Pfund, nahm den Hocker und die Mütze und ging zur Telefonzelle.
12 Kronen reichten nicht aus, um Ben anzurufen. Also konzentrierte ich mich darauf, meine Kieferstarre zu lösen, die so ausgeprägt war, dass meine Zähne schmerzten. Ich lief und lief, ohne auf meine Umgebung zu achten. Ich lief, bis ich am Rande eines Gewässers stand, das sich später als Oslofjord herausstellte. Ich setzte mich unter ein riesiges Plakat von Munchs »Der Schrei«. Dort versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen, während Yachten an ihrer Vertäuung zerrten, gewaltige Kreuzfahrtschiffe wie schwimmende Wohnblöcke fest verankert auf dem Wasser trieben und Leute in Cafés mit bunten Sonnenschirmen Eis aßen oder kaltes Bier tranken. Ich bemerkte, dass ich Hunger hatte, und fragte mich, ob 12 Kronen für ein alkoholisches Getränk ausreichen würden.
12 Kronen reichten nicht aus für ein alkoholisches Getränk, aber es war genug für einen Anruf bei Aase Gjerdrum. Ich fing fast an zu weinen, als sie sagte, ich riefe genau zum richtigen Zeitpunkt an. Da Sonntag war (das erklärte die ganzen geschlossenen Geschäfte und die Sonnenanbeter), hatte sie Zeit, sich mit mir am Oslofjord zu treffen. Wir gingen in eins der Cafés mit den bunten Sonnenschirmen. Aase bestellte zwei Flaschen Arctic Beer und ein paar Lachsbrote und breitete dann eine große Norwegenkarte auf dem Tisch aus.
»Damit wir sie genau studieren können«, sagte sie, und ihr hübsches Gesicht strahlte.
Ich wusste, dass Aase mit einem bekannten norwegischen Schriftsteller verheiratet war. Was ich nicht wusste, war, dass ihr Sohn, Erling Kagge, ein berühmter norwegischer Entdecker war. Der erste Mann, der es je zum Nordpol, zum Südpol und auf den Gipfel des Mount Everest geschafft hatte.
»Er ist über den Atlantik, um Kap Hoorn, in die Antarktis und zu den Galapagos-Inseln gesegelt.« Aase lächelte fröhlich. »Zum Südpol hat er nicht einmal ein Funkgerät mitgenommen.«
Ich versteckte mich hinter meinem Lachsbrot.
»Er hat gerade ein Buch geschrieben. Es heißt >Philosophy for Polar Explorers<.«
Ich griff nach meinem Arctic Beer.
»Wo übernachtest du?«
Ich nannte ihr den Maridalsvannet. Die Wanderarbeiter erwähnte ich lieber nicht.
»Du campst?«
Ich hatte Aase eine E-Mail geschrieben, bevor ich losgefahren war. Sie wusste von meinem Plan, mir mit Straßenmusik die Reise zur Mitternachtssonne zu finanzieren. Vielleicht hatte sie erwartet, dass ich in Hotels schlief.
»Ich habe einen Transporter. Einen leuchtend gelben Transporter.«
»Also fährst du?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, du hast viel Zeit mitgebracht. Die Straßen im Norden sind nicht sonderlich gut, und die Entfernungen sind immens.«
Ich nahm einen großen Schluck Arctic Beer.
»Weißt du viel über Norwegen?«
»Ich weiß, dass es nur sehr wenige Menschen gibt.«
»Ja, das stimmt, und mehr als die Hälfte davon lebt hier im Südosten. Auch Stavanger und Bergen sind wichtige Städte. Im Norden trifft man nach Trondheim praktisch niemanden mehr.«
Bei genauerer Überlegung schien das nicht gerade der ideale Ort für den Beginn einer Straßenmusikerlaufbahn zu sein.
Aase breitete die Karte auf dem Tisch aus und zeigte auf Orte, als sei ich eine wohlhabende Touristin statt einer obdachlosen Bettlerin, die sich eine unmögliche Aufgabe gestellt hat.
»Die Fjorde sind natürlich ein Muss, und die Nationalparks sind wunderschön. Ich bin selbst noch nie am Polarkreis gewesen. Es ist zu weit weg.«
Ich sagte nichts.
»Willst du noch etwas essen?«
Aase bestellte drei Stücke Kuchen und zwei weitere Flaschen Arctic Beer. Es sei relativ neu, dass man in Cafés Bier kaufen konnte, sagte sie. Die Prohibition hatte bis weit in die 1950er Jahre angedauert.
»Wir waren trotzdem ein ziemliches Trinker-Land«, meinte sie. »Die Leute haben einfach illegal zu Hause Schnaps gebrannt.«
Laut Aase wurde das Arctic Beer in der nördlichsten Brauerei der Welt in der nördlichsten Universitätsstadt der Welt hergestellt. In Tromsø.
»Wir nennen es das Paris des Nordens.«
»Warum?«
»Das wirst du schon sehen.«
Ich schluckte.
»Wie weit ist es von hier bis nach Tromsø?«, fragte ich.
»Ungefähr 2000 Kilometer.«
Ich nahm einen großen Schluck Bier.
»Weißt du was? Ich glaube nicht unbedingt, dass .«
Ich verstummte.
»Weißt du, wie der Untertitel von Erlings Buch lautet?«
»Nein«, sagte ich.
»>Was man in der Schule nicht beigebracht bekommt.<«
Sie tätschelte mir die Hand.
»Weißt du, Erling war nicht gerade der Klassenbeste. Nicht einmal im Sport. Er war einfach nur ein Träumer. Und das bekommt man in der Schule nicht beigebracht.«
»Ein Träumer zu sein?«
»An seine Träume zu...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.