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Klein-Montmartre - so wird die Gegend um Mariaberget im Westen des Stockholmer Stadtteils Slussen auch genannt. Dieser kleine Bezirk ragt mit seinen steilen Pflasterstraßen, seinen langen Treppen und alten Steinhäusern in Rotbraun und Ocker über den Dächern der Stadt auf. Im Norden fallen die Felsen schroff zu Söder Mälarstrand und Riddarfjärden ab, und oben am Hang gibt es prachtvolle Hausfassaden mit kleinen, schiefen falunroten Holzhäusern, üppigem Grün und einer verschlungenen Promenade. Touristen und frisch verliebte Paare schlendern hier oft entlang und genießen den atemberaubenden Blick über die Stadt. In den Straßen von Mariaberget drängen sich kleine Geschäfte und Galerien neben Cafés und Restaurants, und die Menschen, die herkommen, verstehen schnell, warum viele der großen Dichter und Künstler dieser Stadt im Laufe der Jahrhunderte hier gelebt und gewirkt haben.
Nun, Mitte November, prasselte ein ausdauernder grauer Regen auf die Dächer. Der erste Schnee des Winters schien noch in weiter Ferne zu liegen, aber die wunderbare Zeit von Licht und Glitzern stand kurz bevor, und ausnahmsweise würden die Einwohner dieses Jahr ein weißes Weihnachtsfest erleben. Nicht nur in den pittoresken Gassen von Mariaberget, sondern fast überall im ganzen Land.
Doch davon ahnte Alice natürlich noch nichts, als sie im ersten Stock in einem der Vierparteienhäuser im Westteil von Mariaberget durch die hauchdünnen Gardinen lugte. Und selbst wenn sie es geahnt hätte, wäre ihre entschlossene Miene wohl lediglich einer mürrischen gewichen. Weihnachten war das Letzte, woran sie denken mochte, als sie zu den düsteren Wolken hochsah, die sich über den Dächern der Stadt zusammenballten. In der Ferne grollte dumpfer Donner, und schwere Regentropfen liefen in dicken Klumpen die Fensterscheiben hinab.
»Eine bessere Gelegenheit wird es wohl nicht mehr geben«, murmelte sie und holte tief Luft, wie um ihre Lunge mit Kraft und Mut zu füllen. Sie würde es schaffen. Bei diesem Wetter müsste die Stadt doch wie ausgestorben sein. Ehe sie sich die Sache anders überlegen konnte, schloss sie die Gardinen, ging hinaus in die Diele und schnürte sich die Joggingschuhe zu. Wenn alles nach Plan lief, würde sie in einer Stunde wieder zu Hause sein. Aber was, wenn sie in einer Warteschlange landete, oder schlimmer noch, Bekannten begegnete . Nein, an so einem Tag würden doch alle zu Hause bleiben? Oder sie waren bei der Arbeit. Nichts durfte schiefgehen. Alice füllte ihren Bauch mit Sauerstoff, bis er rund war wie ein Ballon, und hielt für zwei Sekunden die Luft an, dann atmete sie langsam durch die Nasenlöcher aus. »Ich schaffe das.«
Sicherheitshalber zog sie sich eine graue Schirmmütze über den aschblonden Pagenschnitt. Wobei von Pagenschnitt wohl kaum noch die Rede sein konnte. Früher, vor der Katastrophe, wie sie das, was ihr zugestoßen war, in Gedanken nannte, hatte sie sich die Haare alle sechs Wochen zu einer goldblonden Farbe mit helleren Strähnchen tönen lassen. Irgendwann hatte der Friseur gar nicht mehr gefragt, wie viele Zentimeter abgeschnitten werden sollten. Sie endeten nun immer in einer scharfen Linie knapp unter dem Kinn. Zusammen mit der Hornbrille, einer schwarzen Jacke, einer schmalen schwarzen Hose und einer Auswahl an einfarbigen Blusen in gedämpften Tönen wirkte Alice intellektuell genug, um einigermaßen mit den Kolleginnen und Kollegen der literarisch anspruchsvolleren Abteilungen des Verlages mithalten zu können. Das Speckröllchen in der Mitte, gegen das sie jahrelang erfolglos gekämpft hatte, beeinträchtigte den Look natürlich, und vielleicht war das der Grund, warum . Nein, so oberflächlich konnte doch nicht einmal er sein. Ironischerweise hatten die Ereignisse des vergangenen Jahres ihr den Appetit geraubt, was zur Folge hatte, dass ihr Muffinbauch nun umwerfend flach war. Bauch und Taille waren allerdings nicht zu sehen unter der ausgebeulten Trainingshose, den verschlissenen T-Shirts und den sackartigen Pullovern, in denen sie sich vergrub. Die Haare band sie mittlerweile nur noch nachlässig zu einem Haarknoten im Nacken zusammen, aus dem regelmäßig lockige Strähnen um die Ohren entwischten. Ein geschickter Friseur würde wohl schon mit einem kurzen Blick ausrechnen können, wie bei den Jahresringen an einem Baumstamm, vor wie vielen Monaten sich zuletzt eine Schere durch diese strapazierten Haare hindurchgearbeitet hatte. Coronafrisur, so wurde das offenbar genannt. Sollten doch alle glauben, dass das der Grund war, wenn sie wider Erwarten Bekannten über den Weg liefe.
Die Sonnenbrille - konnte sie die aufsetzen oder wäre das zu auffällig? Vermutlich. Sie legte die Brille zurück in den kleinen Korb auf der Kommode neben der Wohnungstür und streifte sich die Kapuze der Regenjacke über den Kopf. Bevor sie die Tür hinter sich zuzog, überflog sie noch einmal die Einkaufsliste - zuerst ein paar Dinge im Kaufhaus Åhléns, danach Apotheke und auf dem Heimweg noch zur Post.
»Igitt, das ist ja widerlich«, murmelte Alice, als in dem halb vollen Warenhaus All I want for Christmas aus den Lautsprechern dröhnte. Es waren noch über zwei Wochen bis zum ersten Advent, aber Stockholms Innenstadt schien es kaum noch erwarten zu können. Auf dem Sergels torg waren die riesigen beleuchteten Elche und Tannen aufgebaut, in den Einkaufsstraßen die stimmungsvolle Weihnachtsbeleuchtung angebracht und jeder einzelne Winkel in den Schaufenstern vollgestopft mit Glitzer, Wichteln, Tannenzweigen und funkelnden Lichterketten. Alice war davon ausgegangen, dass so früh morgens und bei dem Regen die Menschen lieber zu Hause blieben, aber schon jetzt herrschte in den Gängen der Geschäfte ein ziemliches Gedränge.
Bevor sie die Sicherheit der Wohnung verließ, hatte Alice sich genau überlegt, in welcher Reihenfolge sie ihre Erledigungen hinter sich bringen wollte, aber jetzt war ihr Kopf leer, und sie musste sich alle Mühe geben, um nicht zu hyperventilieren. Was war jetzt an der Reihe? Sie wühlte in ihrer Jackentasche nach dem Einkaufszettel, konnte ihn aber nicht finden. Sie suchte in ihrer Handtasche und in allen anderen Taschen, aber der Zettel blieb verschwunden! Atmen, jetzt nicht in Panik geraten, Alice!, sagte sie sich und suchte noch einmal, diesmal konzentrierter. Da war er doch! Sie atmete auf und überflog die Liste. Genau, ein neuer Wasserkocher. Der uralte in der kleinen Wohnung, die sie von einer Verwandten einer ehemaligen Kollegin mieten konnte, hatte mittlerweile seinen Geist aufgegeben. Sie wollte sich gerade umdrehen, als ihr brutal in die Seite gestoßen wurde.
»Passen Sie doch auf!« Ein Herr mittleren Alters in dunklem Mantel und kariertem Schal warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Entschuldigung«, sagte Alice zum Rücken des Mannes, während der, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen, weiter durch das Gewimmel lief. »Pass doch selbst auf«, murmelte sie und ging zu den Informationsschildern bei den Rolltreppen. Sie hatte gerade erst die zur nächsten Etage betreten, als Mariah Careys schmachtende Stimme George Michaels schnulzigem Refrain von Last Christmas weichen musste. »O nein, nicht auch noch das!« Alice biss sich in die Lippe. »Das ist einfach zu viel.«
Am Ende der Rolltreppe lief sie nur die paar Schritte zur nächsten, die sie wieder nach unten brachte. Mit hämmerndem Herzen verließ sie das Warenhaus - weg von dem Gedränge, weg von den Menschen, den kitschigen Weihnachtsliedern und den quälenden Erinnerungen.
Nachdem sie sich in der Wohnung in Mariaberget in Sicherheit gebracht hatte, ließ Alice sich auf den Hocker bei der Eingangstür sinken und atmete zweimal tief durch. Sofort füllten sich ihre Nasenlöcher mit dem Geruch abgenutzter Polstermöbel. Obwohl sie bereits seit einem halben Jahr hier wohnte, konnte sie sich unmöglich daran gewöhnen. Sie hatte schon mehrmals in der ganzen Wohnung Staub gewischt und geputzt, aber weder das noch ausdauerndes Lüften schien dem Geruch von alter, eingesperrter Luft gewachsen zu sein. Sie hatte diese Zweizimmerwohnung möbliert von Wilmas Großmutter mieten können, die leider die Treppen nicht mehr schaffte und deshalb in eine Seniorenwohnung hatte umziehen müssen. Wie lange Alice hier bleiben könnte, war noch unklar, aber jedenfalls ein gutes Stück ins neue Jahr hinein, hatte die ehemalige Kollegin versprochen.
Was für ein Desaster! Zwei jämmerliche Erledigungen hatte sie geschafft, bevor die Panik sie in die Flucht getrieben hatte. Was stand nun noch auf der Liste, außer Wasserkocher und neuer Gesichtscreme? Genau, Apotheke und Post. Lebensmittel bestellte sie online und ließ sie zu sich nach Hause bringen. Alice seufzte beim Gedanken an die letzte Lieferung. Der Bote war sicher neu im Job, denn er hatte mindestens zehnmal geklingelt und war erst bereit gewesen, sich zu entfernen, als sie am Ende ihre Anwesenheit eingestanden und die Wohnungstür geöffnet hatte. Das ganze Treppenhaus musste das schrille Klingeln gehört und sich gefragt haben, was denn bloß los sei. Die meisten Boten klingelten einmal und machten sich dann auf den Weg zur nächsten Adresse, aber dieser Typ nicht. Er war garantiert nicht einen Tag älter als zwanzig und schien die Sache mit der sozialen Distanz absolut nicht begriffen zu haben. Ob man um einen anderen Boten bitten könnte? Sonst würde er sicher beim nächsten Mal wieder vor der Tür stehen und starrsinnig auf den Klingelknopf drücken, bis sie sich blicken ließ. Im Moment hatte sie immerhin Lebensmittel genug, und nach einem kurzen Abstecher zu Apotheke und Post würde sie mindestens eine Woche lang das Haus nicht mehr...
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