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Dieses Geräusch.es ist so oft da. Ein fahrender Zug. Die dahinrollenden Räder des Zuges. Anfangs konnte ich mir nicht erklären, woher dieser Lärm kommt. Er weckte mich immer wieder mitten in der Nacht. Ich stand jedes Mal auf, öffnete die Fenster und versuchte, dessen Ursprung auszumachen. Vergebens. Es gab in der Nähe keine Gleise, keinen Bahnhof.
Ich hielt mir die Ohren zu, steckte den Kopf unter das Kissen. Nichts half. Dieser hartnäckige, monotone Lärm hörte einfach nicht auf.
Rat-ta-rat-rat-ta-rat.
Ich pflegte mich anzukleiden, aus dem Haus zu gehen und durch die leeren Straßen zu irren, um vor diesem monotonen Geräusch eines fahrenden Zuges möglichst weit wegzulaufen.
Das Geräusch begleitete mich. Es war da, um mich, in mir, nicht abzuschütteln. Es trieb mich zum Wahnsinn.
Auf einmal hörte es auf. Aber ich wusste, es würde wiederkehren. Mit jedem Mal lauter, hartnäckiger, unerträglicher.
In welchem von einer zufälligen Begegnung die Rede ist, bei der die Frage gestellt wird, ob unser Schicksal vorausbestimmt ist, erklärt wird, was ein Daimon ist und Schlüsse aus einigen Lebensirrtümern gezogen werden.
Anfang 2004 nahm ich an einer von der Europäischen Union organisierten internationalen Tagung im Belgrader »Park«-Hotel zum Thema »Verbrechen, Versöhnung, Vergessen« teil. Das Treffen verlief wie viele ähnliche großteils in einer akademischen Atmosphäre. Die meiste Zeit wurde für vergebliche Versuche vertan, der Natur des Bösen auf den Grund zu gehen und sein philosophisches, theologisches, ja menschliches Wesen zu bestimmen. Als das Böse bezeichnen wir Vielerlei - von Naturkatastrophen über Krankheiten bis hin zu gewaltsamem Tod, Kriegen, Verbrechen. Wenn ausschließlich von Verbrechen die Rede ist, hört man hauptsächlich die These von der Banalität des Bösen, aufgestellt von Hannah Arendt nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem. Viele der Sprecher hoben hervor, wie Frau Arendt nach dieser ihrer Erkenntnis endlich wieder in Ruhe schlafen konnte, in der Überzeugung, dass sich ein Verbrechen in den Ausmaßen des Holocaust nie mehr wiederholen würde, dies hingegen aber nicht auszuschließen wäre, handelte es sich beim Bösen um etwas Metaphysisches, dem menschlichen Begreifen völlig Unzugängliches. Während des Vortrags der verschiedenen Referate bemerkte ich jemanden in der letzten Reihe, der immer aufmerksamer lauschte, ohne dass er zu den Teilnehmern gehört hätte.
Die Abende nach den Sitzungen im weitläufigen Speisesaal des Hotels verliefen um Vieles entspannter und entkrampfter, und es ergaben sich interessante Gespräche, denn die meisten von uns kannten sich von früher, als wir in ein und derselben Heimat gelebt, ähnliche Schicksale und ähnliche Freundschaften geteilt hatten. Nachgerade anekdotenhaft wurden Geschichten von Kriminellen, Mördern und Einbrechern erzählt, die man aus den Gefängnissen entlassen und an die vorderste Front geschickt hat, von Nachbarn, die einander in frisch erwachtem, fanatischem religiösen und nationalen Hass abgeschlachtet haben. Das Böse konnte man sich entweder mit einer kriminellen Vergangenheit oder primitiver Veranlagung erklären, mit schlechter Erziehung und Bildung, mit einem Charakterfehler, der traditionellen Mentalität, den Manipulationen durch die Politiker, kurz mit all dem, was der menschlichen Natur eigen und ihr eben nicht fremd ist. All diese Geschichten waren von jenem Gedanken durchzogen, der einer Deutung des Bösen als etwas Irdisches, Simples, in der Tat Banales und Erklärbares entgegenkam.
- Verstehen heißt rechtfertigen - wandte eine Stimme entgegen dem allgemeinen Tenor des Gesprächs ein. - Dies sind die Worte eines großen Schriftstellers, der die ungeheuren Ausmaße des Bösen und des Verbrechens erfahren hat. Und der gesagt hat, dass man sich eine neue Sprache ausdenken müsse, wenn vom Bösen die Rede ist, denn mit unserer Sprech- und Denkweise könne man die Abgründe des Bösen nicht erfassen.
Für einen Augenblick herrschte Stille. Ich erkannte jenen Unbekannten wieder, der in der letzten Reihe des Konferenzraums gesessen hatte.
- Ich komme zu solchen Tagungen, auch wenn ich nicht eingeladen bin. Ich möchte mir da alle möglichen Deutungen anhören und versuchen, die Natur und die Macht von Verbrechen zu begreifen, gegen die nichts auszurichten ist und gegen die wir schicksalhaft machtlos sind.
Woanders hätten diese Worte wohl deplatziert gewirkt, ja tragikomisch, aber der Mann sprach ruhig und mit einer so hypnotisierenden Selbstsicherheit, dass zumindest für ein paar Augenblicke das allgemeine Gemurmel verstummte und die Anwesenden ihm aufmerksam zu lauschen begannen. Und er fuhr fort:
- Ich möchte ja, dass die Erklärung so einfach ausfällt, wie sie heute in einigen Ausführungen zu hören war: dass nämlich das Böse und das Verbrechen lediglich Handlungen von kriminellen Typen seien, von manipulierten Menschen und blindwütigen Fanatikern, gefangen in verbrecherischen Ideologien. Vermöchte ich davon überzeugt zu sein, woran Hannah Arendt glaubte, dann würde ich wahrscheinlich auch ruhig schlafen. Aber mein Traum ist nur ein schrecklicher, unablässiger Alb, denn solche Behauptungen sind ohne Beweis und ohne jede Untermauerung, sie wiegen uns lediglich in unseren Illusionen, dass wir das Verbrechen, so wir ihm ein menschliches Antlitz verleihen, auch schon unter Kontrolle gebracht hätten.
Der Kellner brachte zu jenem Zeitpunkt eine neue Runde Getränke, und die anfängliche Aufmerksamkeit verflog. Die Teilnehmer begannen sich wieder zu unterhalten, und jemand brachte, wie es in solchen Gesellschaften oft üblich ist, auf Kosten des ungebetenen Gastes einen unpassenden Scherz an. Niemand hörte mehr auf die eben erst begonnene Tirade. Da drehte sich dieser Mensch zu mir, der ich in der nächsten Nähe war, entschlossen, wenigstens einen Zuhörer für seine Geschichte zu finden.
- Das erste Mal begann ich über die Natur des Bösen nachzudenken, als ich noch ein Kind war und mit dem Grauen unbegreiflichen Sterbens konfrontiert wurde, ungerechten, sinnlosen Sterbens, wie auch immer. Wissen Sie, der Eine durchlebt ein ganzes Jahrhundert und sieht keinen einzigen toten Menschen, der Andere erstickt schier an einer pausenlosen Gegenwart des Todes, im Wachen und im Schlaf. Ich war zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann. Ich lebte mit den Eltern in einem Provinzstädtchen, das von den Deutschen besetzt wurde. In unser Haus wurde eine Familie von Volksdeutschen einquartiert. Sie hatten einen Sohn, der etwas älter war als ich. Wir begannen uns anzufreunden. Eines Tages sagt er mir, dass mein Vater verhaftet worden sei und zu Mittag zusammen mit anderen Geiseln erschossen werde. Ich erzähle das meiner Mutter, die sagt, dass das kindliche Hirngespinste seien und der Vater freigelassen werde. Aber mein neuer Freund nimmt mich am Arm: »Ich lüge nie, hab das von Vati gehört. Gehen und schauen wir!« Er führt mich zu einem aufgelassenen Fabrikshof, wir verstecken uns hinter einem Erdwall. Es hat nicht lang gedauert, da haben die Deutschen zwei Maschinengewehre aufgestellt und dann aus den Baracken eine Gruppe von Leuten geführt, die an den Händen gefesselt waren. Unter ihnen habe ich meinen Vater erkannt. Da, vor unseren Augen haben sie zu schießen begonnen. Ich sah, wie er fällt. Er war ein kräftiger, großgewachsener Mann, in den besten Jahren, kein einziges Mal krank. Dieser sinnlose Tod meines Vaters, dessen Zeuge ich wurde, begleitete mich durch meine ganze Kindheit und Jugend. Und das war das schrecklichste Gefühl: begreifen zu müssen, dass ein solches Verbrechen sinn- und grundlos geschieht, dass der Tod jemanden ereilen kann, der blindlings aus Tausenden ausgewählt wurde, zufällig von der Straße weggefischt. Und seine Mörder hat er nicht einmal kennengelernt, genauso wenig wie sie ihn, es war ein völlig absurder Tod, ein grauenhaftes Verbrechen. Von diesem Tag an verstummte ich, ich konnte nicht mehr sprechen, und es dauerte lang, bis ich das Sprachvermögen wieder zurückerlangte, dank der innigen Zuwendung meiner Mutter und der Fürsorge und Liebe meiner jüngeren Schwester.
Der Lärm am Tisch wurde größer, neue Weinflaschen wurden aufgetragen. Alle hatten auf den ungebetenen Gast vergessen, nur ich nicht, ich hörte mir teils aus Neugier, teils aus Höflichkeit seine Geschichte an.
- Jetzt ist mir, im Nachhinein betrachtet, klar, dass mein weiteres Schicksal durch diesen tragischen Vorfall vorgezeichnet war, dass er mir seinen Stempel aufgedrückt hat, den »scharlachroten Buchstaben«, der auf immer mein Leben markieren wird. Wissen Sie, eben das versuche ich Ihnen, die Sie sich in der Theorie mit den Fragen von Verbrechen und Strafe, von...
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