1. Kapitel
Eine fremde Stimme forderte sie auf, nach Wien zu kommen. Bis vor zwei Tagen hatte sie Widerstand geleistet. Doch dann kamen die Geistererscheinungen.
Mitten in der Nacht war sie aufgewacht. Sie war allein im Schlafzimmer gewesen, da sich der Dämonenkiller gerade in Schweden aufhielt. Sie hatte sich aufgesetzt, und rund um ihr Bett hatten ein halbes Dutzend unheimlicher, halb durchsichtiger Gestalten gesessen, die mit langen Armen nach ihr gegriffen hatten. Sie hatte die Spukgestalten vertreiben wollen, doch es war ihr nicht gelungen; keiner ihrer Bannsprüche hatte eine Wirkung gezeigt. Dann waren die Gestalten von einer Minute zur anderen verschwunden, tauchten aber einige Minuten später wieder auf. Das Locken war stärker geworden. Die unbekannte Stimme befahl ihr, unverzüglich London zu verlassen und nach Wien zu fliegen. Coco dachte nicht daran, der Aufforderung zu folgen, obgleich sie tatsächlich einige Erbschaftsangelegenheiten in Ordnung bringen musste. Aber sie wollte warten, bis Dorian Hunter aus Schweden zurück war.
In jener Nacht hatte sie keinen Schlaf mehr gefunden. Ruhelos war sie im Zimmer auf und ab gegangen und hatte sich gefragt, was diese Geistererscheinungen und der Ruf bedeuten mochten.
Doch es war noch schlimmer gekommen. Leute, die sie auf der Straße sah, veränderten sich vor ihren Augen, wurden zu Bekannten, Familienmitgliedern, die schon lange tot waren. Einige der Geister griffen nach ihr, zerrten sie an den Haaren und schlugen auf sie ein. Und sie hatte keinen Gegenzauber, mit dem sie die Spukgestalten vertreiben konnte. Sie lauerten überall auf sie: auf den Straßen, im Auto und in der Jugendstilvilla. Niemand außer ihr nahm sie wahr, nicht einmal Phillip, der Hermaphrodit, der sonst ein feines Gespür für solche Dinge besaß.
Endlich war das Locken übermächtig geworden. Es blieb ihr keine Wahl mehr. Sie musste nach Wien. Sie packte einen Koffer, buchte den Flug und hinterließ, dass sie bei Skarabäus Toth, dem Anwalt ihrer Familie, unterkommen würde. Im Flugzeug hatten die Geistererscheinungen sie nicht verfolgt, aber sobald sie landete, war es mit der Ruhe erneut vorbei.
Coco schloss die Augen. Sie fühlte sich müde, wie gerädert. Nach einigen Minuten blickte sie aus dem Fenster. Es war dunkel geworden. Es schien ihr, als hätte sie Wien erst gestern verlassen. Nichts hatte sich an der Stadt verändert. Vor Kurzem noch hatte sie sich auf den Besuch ihrer Heimatstadt gefreut, doch davon konnte jetzt nicht mehr die Rede sein.
Ursprünglich hatte sie sofort zu Skarabäus Toth fahren wollen, hatte es sich dann aber anders überlegt. Sie wollte erst dem Haus ihrer verstorbenen Familie einen Besuch abstatten.
Der Fahrer fuhr langsam die Jagdschlossgasse entlang. Er suchte nach der Ratmannsdorfgasse.
»Die zweite Gasse nach rechts«, sagte Coco.
»Danke.« Der Fahrer fuhr rascher. »Sagen Sie mir bitte, wann ich halten soll.«
Coco verkrampfte die Hände im Schoß. Ihre Unruhe wuchs. Irgendetwas Furchtbares erwartete sie, doch sie konnte sich nicht vorstellen, was es war. Sie beugte sich vor, als der Taxifahrer in die Ratmannsdorfgasse einbog. An beiden Seiten der Straße standen alte Kastanienbäume, deren blattlosen Äste sich leicht im Wind bewegten.
»Bleiben Sie jetzt stehen!« Sie zahlte und stieg aus dem Wagen. Der Fahrer holte ihren Koffer aus dem Kofferraum.
Coco vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels und sah dem Taxi nach. Als es hinter der nächsten Kurve verschwunden war, hob sie den Koffer und ging auf das Villengrundstück zu. Ihr pechschwarzes Haar hatte sie aufgesteckt. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den dunkelgrünen Augen wurde von den Schatten fast vollständig verschluckt.
Sie blickte sich rasch um und überquerte die Gasse. Nach einigen Schritten blieb sie stehen und strich sich flüchtig mit der Zunge über die trockenen Lippen. Die mächtige Villa stand inmitten eines riesigen Gartens, der von einer zwei Meter hohen Steinmauer umgeben war.
Ihr Herz schlug schneller, als sie weiterging. Vor dem Gartentor blieb sie abermals stehen. Sie griff nach der Klinke. Das Tor war abgesperrt. Sie holte einen Schlüsselbund hervor und schloss auf, zögerte jedoch, in den Garten zu treten. Endlich überwand sie ihre Angst und drückte das Tor auf.
Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Ein breiter Weg führte schnurgerade zwischen hohen Tannen zum Haus. Coco betrat den Garten. Das Tor fiel hinter ihr krachend ins Schloss, und sie zuckte zusammen. Ein leises Rauschen lag in der Luft, das rasch lauter wurde. Es erinnerte an klagende Stimmen. Plötzlich wurden die Äste der Tannen geschüttelt. Das Heulen wurde durchdringender.
Coco wollte umkehren, den Garten verlassen, doch etwas hielt sie zurück; etwas Unbestimmbares trieb sie vorwärts. Sie lehnte sich vergeblich gegen den unheimlichen Zwang auf. Ihre Finger umkrampften den Koffergriff. Nach einem Dutzend Schritten hörte das Sausen und Brausen auf. Es war nun gespenstisch still.
Und dann sah sie die blauen Lichter. Sie schienen aus dem Boden zu kommen und wurden langsam größer. Anfangs waren sie faustgroß, nach einiger Zeit fußballgroß. Coco blieb stehen, als die Lichter auf sie zukamen. Es mussten mindestens zwanzig sein. Die Kugeln umtanzten sie, erhoben sich in die Luft und rasten auf sie zu.
Sie ließ den Koffer fallen. Jeder Gedanke fiel ihr schwer. Es war, als hätte sich eine Hand auf ihr Gehirn gelegt.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, und die blauen Lichter änderten die Form. Sie dehnten sich blitzschnell aus und wurden zu halbdurchsichtigen Figuren, die rasch Gestalt annahmen. Coco war von zwanzig Spukgestalten umringt, die nach ihr griffen. Sie starrte in hassverzerrte Gesichter, die ihr allesamt nicht unbekannt waren. Es waren Leute, die einmal in enger Beziehung zu ihr gestanden hatten; und alle waren schon seit einiger Zeit tot.
Sie sah ihre vier Brüder und ihre zwei Schwestern, dann erblickte sie ihre Mutter Thekla.
»Wer von uns wird dein Mörder sein?«, fragte Georg und riss ihr das Kopftuch herunter.
»Vielleicht bin ich es!«, schrie Vera, eine ihrer Schwestern, mit der sie sich nie verstanden hatte. Ihr Geist griff Coco ins Haar und riss ihren Kopf zurück.
»Lasst mich los!«, brüllte Coco und versuchte sich zu befreien.
Doch die unheimlichen Spukgestalten rückten immer näher. Kräftige Hände zerrten an ihrem Mantel und packten ihre Hände. Coco wehrte sich verzweifelt, aber die halbdurchsichtigen Gestalten ließen sich nicht abschütteln. Die Knöpfe ihres Mantels rissen ab. Brutal wurde ihr der Mantel über die Schultern gezogen. Eine Hand riss ihr die Halskette herunter, eine andere zerfetzte ihre Bluse. Finger nestelten an ihrer Hose und öffneten den Reißverschluss. Innerhalb weniger Sekunden war sie nackt.
Die Gestalten traten einen Schritt zurück und umtanzten sie. Coco spürte die beißende Kälte nicht. Ihr Körper schien zu glühen. Sie schloss die Augen, als die Untoten zu singen begannen.
»Wer wird dein Mörder sein, Coco«, grölten sie. »Wer? Wer?« Dann waren wieder die Hände an ihrem nackten Körper, eiskalt und feucht. »Ins Haus mit dir, Coco!«, brüllten die Spukgestalten. »Ins Haus mit dir!«
Sie bekam einen Stoß in den Rücken und taumelte auf das Haus zu. Die Gestalten stießen sie vor sich her, den Weg entlang. Coco torkelte wie eine Betrunkene. Sie wurde zur Glasveranda getrieben, und eine der Gestalten öffnete die Tür. Coco sprang die vier Stufen hoch und rannte in die Diele. Dann wandte sie den Kopf, und die unheimlichen Geschöpfe waren verschwunden.
Coco lehnte sich an den Türstock und rang nach Atem. Es war völlig dunkel im Haus; kein Laut war zu hören. Sie tastete nach dem Lichtschalter und drückte ihn nieder, doch die Beleuchtung flammte nicht auf.
»Komm in den Keller!« Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen.
Coco bewegte sich wie in Trance. Sie durchquerte die Diele, öffnete die Tür, die in den Keller führte, und stieg die Treppe hinab. In diesem Keller hatte ihre Familie Schwarze Messen abgehalten und unheimliche Beschwörungen vorgenommen.
»Bleib stehen, Coco!«, sagte die Stimme, die auf einmal wie das Rascheln von Papier klang.
Coco kannte diese Stimme, doch ihr Gehirn war noch immer wie gelähmt; sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Leise Schritte kamen näher, und eine welke Hand legte sich auf ihre Schultern. Coco zuckte zusammen.
»Komm mit!«
Coco konnte nichts sehen. Undurchdringliche Dunkelheit umgab sie. Die Hand verkrallte sich in ihrer Schulter und drückte sie vorwärts. Sie bewegte sich vorsichtig.
»Stehen bleiben!«
Coco folgte wieder. Sie hörte das Scharren eines Stuhls, der gegen ihre Kniekehlen gedrückt wurde.
»Setz dich, Coco!«
Sie nahm Platz und legte die Hände auf die Schenkel.
»Es ist gut, dass du seinem Ruf gefolgt bist.«
Coco runzelte die Stirn. Der Schleier über ihren Gedanken war verflogen. »Sie sind - Skarabäus Toth«, sagte sie stockend.
»Richtig«, bestätigte Toth.
»Was hat das alles zu bedeuten?«
»Kannst du es dir nicht denken, Coco?«
»Nein. Wer hat mich gerufen?«
»Das hat dich vorerst nicht zu interessieren«, schaltete sich eine zweite Stimme ein.
Coco richtete sich überrascht auf. Auch diese Stimme kannte sie nur zu gut.
»Graf Cyrano von Behemoth«, sagte sie fast unhörbar.
»Erraten«, krächzte der Graf.
Unwillkürlich schauderte sie. Behemoth war ihr Onkel, und sie war auf seiner Burg zur Hexe...