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In den darauffolgenden Monaten durchlebte ich eine sehr schlimme Zeit der Traurigkeit, des Schmerzes und der Wut, dass meine Mutter einfach gegangen war. Innerlich schrie ich: »Jetzt ist es genug. Du warst lange genug tot, jetzt komm wieder!«
Ich verstand selbst nicht, was in mir ablief. Wieso konnte ich mich nicht einfach mit ihrem Tod abfinden? Wieso lief ich einer Frau in der Fußgängerzone hinterher, im Glauben, sie sei meine Mutter? Wieso war ich so unglaublich traurig, wenn ich in der Stadt erwachsene Frauen sah, die noch in Begleitung der eigenen Mutter sein durften? Am Muttertag liefen mir die Tränen die Wangen hinunter - wie gerne hätte ich meiner Mutter jetzt auch Blumen geschenkt!
Ich hatte Albträume, von denen ich nur wusste, dass sie sehr schlimm waren, und fühlte mich am Morgen wie gerädert, körperlich erschöpft und zerschlagen. Nach etwa einem halben Jahr hatte ich diese schlimme Zeit meiner tiefen inneren Ohnmacht überstanden. Heute weiß ich, dass diese Zeit bereits ein Vorbote meiner Erinnerungen war.
Mit dem Tod meiner Mutter war die begonnene Paartherapie zu meiner eigenen Therapie geworden. Einmal fragte ich die Therapeutin: »Wieso weiß ich so wenig von meiner Kindheit?« Ich hatte viele ihrer Fragen meine Kindheit betreffend nicht beantworten können. Sie gab mir zur Antwort, dass es eigentlich nur zwei Möglichkeiten gebe, wenn man an die eigene Kindheit fast keine Erinnerung mehr habe: »Entweder war sie stinklangweilig oder schrecklich.«
Dass meine Kindheit in einer Familie mit so vielen Geschwistern mit Sicherheit nicht stinklangweilig gewesen sein konnte, war für mich klar. Aber wieso hatte ich dann keine Erinnerung daran? War meine Kindheit etwa schrecklich gewesen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Und wenn ja, was war dann in meiner Kindheit derart schrecklich gewesen, dass ich mich nicht mehr daran erinnerte? Ich dachte: »So schlimm kann sie doch gar nicht gewesen sein, dass ich einfach alles vergessen habe.«
Anfang November 1996 befand ich mich für ein paar Tage in meinem Heimatdorf. Die Wohnung meiner Mutter im Erdgeschoss meines Elternhauses war seit ihrem Tod so geblieben, wie sie von ihr im Januar verlassen worden war. Ich wohnte während meines Aufenthaltes bei einem Bruder in der oberen Etage des Hauses. In diesen Tagen begann der Prozess meiner Kindheitserinnerungen.
Hintergrund der Aussage der Therapeutin ist die regelmäßige Beobachtung bei psychisch traumatisierten Menschen, dass die schlimmen Dinge, die man erlebt hat, vergessen werden - entweder sofort oder erst nach einer bestimmten Zeit. Man spricht von einer Dissoziativen Amnesie. Der Begriff Dissoziation (von lateinisch dissociare = trennen, scheiden) meint das teilweise oder vollständige Auseinanderfallen von psychischen Funktionen, die normalerweise zusammenhängen; in diesem Fall also Wahrnehmung, Bewusstsein und Gedächtnis. Sinn der Dissoziation ist der Schutz des Individuums vor einer Überflutung von Reizen, die zu einem psychischen Zusammenbruch führen würden. Hirnphysiologisch sind diese Vorgänge durchaus nachvollziehbar. Sie sind z. B. gut verständlich nachzulesen bei Michaela Huber: Trauma und die Folgen. Teil 1, ab S. 37.
An einem Abend war ich allein in der Wohnung und saß im Wohnzimmer des Anbaus, der durch einen Mauerdurchbruch mit dem ursprünglichen Elternhaus verbunden worden war. Von meinem Platz aus sah ich direkt in das Zimmer des Altbaus, das in meiner Kindheit unter anderem das Elternschlafzimmer gewesen war und später zum Schlafzimmer für meinen Vater, mich und meine Geschwister wurde. Ich hatte ein Gefühl, das ich nicht definieren konnte. In mir waren Angst, Panik, Ohnmacht, Bedrohung - aber ich wusste nicht, vor wem oder was.
Ich war wie gelähmt und es ging mir immer schlechter. Der Blick in diesen dunklen Raum wurde mehr und mehr zu einer mächtigen Bedrohung, die sich mir stetig näherte und mir die Luft zum Atmen nahm. Ich konnte es nicht mehr ertragen, diesen Raum zu sehen, war aber auch nicht mehr in der Lage, meinen Blick davon abzuwenden.
Ich brauchte Hilfe und irgendwie schaffte ich es, zum Telefon zu gehen und meinen Mann zu bitten, dass er kommen möge. Mein Bruder sprach kurz mit mir und zu ihm konnte ich nur noch sagen: »Ich habe Angst.« Wenig später trafen beide ein. Auf die besorgte Frage meines Bruders: »Was ist los?«, konnte ich nur sagen: »Ich weiß es nicht, ich hatte wahnsinnige Angst.«
Weitere Dinge geschahen, für die ich keine Erklärung fand. So konnte ich die Treppe vom ersten Stock am Abend einfach nicht nach unten gehen, obwohl ich es wollte. Ich hatte Angst, in den Keller zu gehen. Ich lief aus der Wohnung meiner Mutter hinaus, als wäre der Teufel hinter mir her. Ich wachte nachts panisch und schweißgebadet auf, aber ich hatte keine Erklärung dafür.
Zurück zu Hause, ging es mir nach dieser Reise zusehends schlechter. Immer mehr hatte ich das Gefühl, in einem tiefen Brunnen zu sitzen; der Himmel über mir wurde dunkler und dunkler. Ich kam an einen Punkt, an dem es mir so schlecht ging, dass ich meinem Leben ein Ende setzen wollte - ohne einen ersichtlichen Grund dafür zu haben! Vom Verstand her wusste ich, dass kein Mensch das Recht hat zu töten, weder sich noch andere. Und trotzdem saß ich da und hielt eine Rasierklinge an mein rechtes Handgelenk. Ich überlegte nicht mehr, was aus der Familie und meinen Kindern werden würde, ich wollte einfach nicht mehr leben. Ich war am Ende und hatte doch anscheinend gar keinen Grund dazu.
Kurz bevor ich zum tödlichen Schnitt ansetzen wollte, ging ich zu meinem Mann und fragte ihn, wie ich die Rasierklinge ansetzen müsse, um mich umzubringen. Ich denke, dass er aufgrund seiner eigenen Hilflosigkeit in dieser Situation zu mir sagte, dass wir genügend Bücher besäßen, in denen ich das bestimmt nachschlagen könne. Ich wurde ungeheuer wütend auf ihn - und das war gut. Diese Wut ermöglichte mir, wieder klarer zu denken. Plötzlich dachte ich an meine Kinder. Ich dachte an ihren Schmerz und ihre Trauer. Ich wusste, dass es ihnen nicht gut gehen würde, wenn ich mich tötete. Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass sie leiden müssten.
Doch ich wollte mein Vorhaben auch nicht aufgeben. Ein nicht zu beschreibendes Chaos war in mir, bis ich plötzlich zurück im Jetzt war. Ich brach innerlich zusammen, es war der absolute Ausnahmezustand. Ich ging zu meinem Mann und bat ihn, mich zu halten. Er fragte mich, was eigentlich los sei. Ich hatte keine Worte.
Dann war wieder Ruhe in mir und tiefer Friede. Irgendwann sagte ich zu ihm: »Ich habe Angst. Ich habe Angst vor mir selbst.« Dieses Gefühl war mehr als erschreckend, es war schrecklich. In mir hatte sich etwas verselbstständigt, das ich nicht in der Lage war aufzuhalten. Ich hatte mich töten wollen - etwas derart Unvorstellbares wollte ich tun! Ich hatte das Gefühl, im falschen Film zu sein. Es ging mir offenbar so schlecht, dass ich diesen Schritt hatte gehen wollen, dabei gab es doch keinen ersichtlichen Grund dafür!
Die Pionierin der Traumatherapie, Michaela Huber, hat in ihrem Buch Trauma und die Folgen eines der Kapitel wie folgt überschrieben: »Wieso erscheint traumatisierten Menschen der Tod oft näher als das Leben?« Das sagt ja schon aus, wie häufig Suizidimpulse und leider auch Suizide bei Menschen mit Trauma-Erfahrungen sind. Die Gründe können verschieden sein. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel das Empfinden aufgrund des erlebten Traumas - ob dieses nun schon bewusst ist oder nicht: »Ich kann das Leben nicht aushalten - es soll endlich aufhören, so wehzutun.«
Einige Tage nach diesem Vorfall tauchte ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Es stand wie eine Mauer in meinem Bewusstsein, dem ich fassungslos, voller Ohnmacht und sprachlos gegenüberstand. Im Rückblick gesehen war dieses erste Bild meiner Kindheitserinnerungen noch sehr harmlos im Vergleich zu den Bildern, die ab diesem Zeitpunkt unaufhörlich auftauchten. Etwa zwei Wochen konnte ich mit keinem Menschen darüber sprechen, doch es erschien immer wieder vor meinem inneren Auge und ich war ihm ausgeliefert.
Das war der Anfang meiner Kindheitserinnerungen.
Das Bild zeigte mich als etwa Siebenjährige im Bett meines Vaters. Er missbrauchte mich, ich weinte, ich wollte das nicht, aber ich hatte keine Chance gegen ihn. Er hörte nicht auf und sagte immer nur: »Aber du bist doch mein Mädchen.« Dann erweiterte sich das Bild. Meine Mutter kam nach oben, sie hatte einen meiner Brüder auf dem Arm. Ich flüchtete zu ihr. Er wollte mich zu sich zurückziehen, aber sie schob ihn mit aller Kraft zur Seite, nahm mich an der Hand. Wir gingen nach unten, während er oben schrie und tobte: »Keiner nimmt mir meine Kinder weg!«
Als wir fast unten waren, sah ich nach oben, denn er war plötzlich so still. Er war ein paar Stufen hinter uns auf der Treppe, sein Gesicht zu einer entsetzlichen Fratze entstellt, seine Augen hasserfüllt. Bevor ich schreien konnte, gab er meiner Mutter einen Stoß und wir fielen alle drei die letzten vier Stufen der Treppe nach unten. Heute weiß ich, dass meine Mutter daraufhin eine ihrer insgesamt drei Fehlgeburten erlitt. Für zwei dieser Fehlgeburten war mein Vater verantwortlich.
Nach diesem ersten Erinnerungsbild musste ich mit jemandem reden. Ich war in einem Zustand, den ich selbst nicht einordnen konnte. Ich hatte Bilder vor Augen, von denen ich bisher nichts wusste, aber sie waren so klar,...
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