Erstes Kapitel
»Die gewöhnliche religiöse Hochzeit wurde und wird noch immer nach langen Beratungen, der Auswertung von Horoskopen, dem Zusammentragen günstiger Vorzeichen sowie der Übereinstimmung gewisser vielversprechender körperlicher Eigenschaften von den Eltern der Brautleute arrangiert . Während der Mann mindestens zwanzig Jahre alt sein sollte, sollte die Frau kurz vor ihrer Pubertät verheiratet werden.«
A. L. Basham in: The Wonder that was India
Meine Großmutter wurde zwei Tage vor ihrem zehnten Geburtstag verheiratet. Meine Mutter fand ihren Mann mit zwanzig. Wenn ich also davon ausging, daß sich das akzeptable Alter zum Heiraten mit jeder Generation um zehn Jahre nach hinten verschob, dann hätte ich mein Jawort spätestens mit dreißig geben müssen.
Inzwischen war ich aber schon dreiunddreißig und weit davon entfernt, in den heiligen Stand der Ehe zu treten. Genau dieser Umstand, über den niemand in meiner Familie besonders glücklich war, trübte die Freude ausgerechnet auf der Hochzeit meiner zweiundzwanzigjährigen Cousine Nina und führte dazu, daß sich der bis dahin zurückgehaltene Unmut schließlich Bahn brach.
Nina war, wie man bei uns sagte, »über das Seil gesprungen«. Sie war bedeutend jünger als ich, und doch heiratete sie vor mir. Andererseits, hob Ninas Mutter bei der Gelegenheit hervor, wie lange glaubte eine Frau denn auch, warten zu können?
Ich bemühte mich, zu lächeln und ein glückliches Gesicht zu machen. Nicht daß ich unglücklich gewesen wäre. Lediglich die Hitze machte mir an diesem schwülen Maiabend zu schaffen, und ich war ein wenig nervös, zumal ich bemerkte, wie sich unter meinen Achseln auf dem Stoff meines Sari feuchte, silbergraue Halbkreise abzuzeichnen begannen. Ich hätte mir doch das Deo besorgen sollen, das mir mein Hautarzt empfohlen hatte ? es hätte die Schweißbildung mindestens um die Hälfte reduziert, wenn nicht ganz unterdrückt. Statt dessen mußte ich nun die Oberarme an meinen Körper pressen, um die verräterischen Flecken zu verstecken. Mein Sari und die dazu passende Bluse waren in einem Blaßrosa gehalten ? nicht gerade eine Farbe, um Schweiß zu kaschieren. Es war ein cremiges, zartes Rosa, das an den perlmuttenen Schimmer von Muscheln erinnerte oder an die Haarbänder kleiner Mädchen. Knapp sechs Meter Stoff waren um meinen fitneßstudiogestählten Körper gewickelt, geheftet und gekräuselt, was mich nach meinem Dafürhalten wie ein rotleuchtendes, gefülltes Omelett aussehen ließ. Das zumindest gab ich jedem zur Antwort, der mir vorschwärmte: »Wie hübsch du heute bist, Anju!«
Den ganzen Abend war ich hektisch damit beschäftigt gewesen, den Sitz der Blumen in meinem Haar zu kontrollieren. Sie waren nicht echt, sondern aus Papier, erstanden in einer dieser Bretterbuden, die es in Bombay an jeder Straßenecke gab, und die einzelnen Blüten waren kaum halb so groß wie ein Fingernagel. In meiner aufwendigen Hochfrisur steckte mindestens ein Dutzend davon. Das war nicht gerade meine Vorstellung von dezentem Chic. Aber mein Friseur hatte darauf bestanden: »Deine Cousine heiratet. Da brauchst du etwas Schmuck.«
Zum Glück war dezenter Chic auch nicht das Gebot der Stunde im Jhulelal-Tempel, in dem Nina in Anwesenheit von dreihundert Menschen ? die meisten von ihnen hatte sie nie zuvor gesehen ? ihrem Zukünftigen in Kürze das Jawort geben sollte. Ich fühlte mich unwohl, exponiert mit den anderen Angehörigen vorn bei der Braut zu stehen, ich, die ältere, unverheiratete Cousine, und ich war mir der neugierigen Blicke der Leute durchaus bewußt ? sicher, sie wollten sehen, was ich anhatte, mehr noch aber wollten sie herausfinden, ob sich in meinem Gesicht ein Anflug von Schmerz oder Eifersucht abzeichnete, wo doch schon wieder eine jüngere Verwandte von mir heiratete. Ich schloß meine Augen für einen Moment, atmete tief ein und fand meine Mitte, wie man es mir jeden Mittwoch in meinem Hatha-Yoga-Kurs zeigte. Darauf wurde mein Lächeln ein wenig breiter und blieb es auch während der ganzen Zeremonie.
»Du bist die nächste«, flüsterte meine Tante Mona, die zweite Cousine meiner Mutter, mir ins Ohr. Sie grinste mich an und offenbarte dabei zwischen den Schneidezähnen eine Lücke in der Größe Ost-Timors. So unattraktiv der Anblick auch war, galt dieser Spalt doch als Symbol des Glücks. Jeder Gesichtsleser, der sein Chapatti-Brot wert war, wußte, daß je breiter die Lücke, desto großzügiger Fortuna. »Mach dir keine Gedanken, Beti, es wird nicht mehr lange dauern, und dann bist du an der Reihe«, sagte sie und klopfte mir dabei tröstend auf den Rücken. »Armes Mädchen. Jetzt heiratet schon wieder eine deiner Cousinen vor dir. Aber mach die bloß keine Sorgen, Gott wird deine Gebete erhören. Es ist alles nur eine Frage des Karmas. Ts, ts, ts.« Ich lächelte höflich, wie ich es in all den Jahren gelernt hatte, und wunderte mich insgeheim, daß sich mein Selbstbewußtsein in den vergangenen Tagen noch nicht vollständig in Luft aufgelöst hatte. Seitdem ich vor einer Woche in Bombay angekommen war, war mir vieles zuteil geworden: Rat, Zuneigung, Mitgefühl, am häufigsten aber Mitleid und Trost. So wie jetzt von Tante Mona, die mir ihren Zuspruch mit einer solchen Grabesstimme zuraunte, als hätte man soeben Multiple Sklerose bei mir diagnostiziert. Meine Verwandtschaft kam keine Sekunde auf die Idee, mich nach meinem spannenden, unabhängigen Leben in New York zu fragen, was ich dort tat, wer meine Freunde waren, ob ich ein Ticket für das Broadway-Stück »The Producers« erstanden hatte, als Matthew Broderick und Nathan Lane noch mitspielten.
Statt dessen wurde ich unablässig gefragt, warum ich noch nicht verheiratet war.
Ich wandte mich wieder Nina zu, die in ihrem Traum von Hochzeitssari wirklich hinreißend aussah. Er war ebenfalls rosafarben, aber ihr Rosa war ein viel festlicheres: satter, kräftiger, dunkler, aufwendig mit Gold bedruckt ? es war das Gewand einer Braut. Um ihr in der Mitte gescheiteltes, glänzendes schwarzes Haar hatte sie ein Tuch aus dem gleichen Stoff gelegt, und ihre makellose weiße Stirn war mit winzigen roten Punkten bemalt, die sich in Bögen um ein aus Gold und Diamanten gefertigtes Bindi schmiegten. Mit einer ihrer großzügig mit Henna gefärbten Hände strich sie sich eine Strähne zur Seite, die ihr über die halbgeschlossenen Augen gefallen war. Nina betete, benommen von der Hitze und dunkelrot im Gesicht. Sie und ihr Bräutigam saßen ? ihre Eltern jeweils neben sich ? vor einem hellen, orangezüngelnden Feuer, beide tief in Gedanken versunken, während der Priester unserer Familie, der Maharischi Girdhar, einen Endlosmonolog auf Sanskrit vor sich hin murmelte, den außer ihm niemand verstand.
Die Zeremonie war fast vollzogen, und was jetzt noch folgte, war seit jeher mein absolutes Lieblingsritual: Der Bräutigam tauchte seinen Finger in eine Schale mit Sindoor, rotem Zinnoberpulver, und strich damit den Scheitel seiner Braut entlang, als wollte er sagen: »Du gehörst jetzt mir. Wir sind füreinander bestimmt.« Dabei sah er sie mit einem Blick an, aus dem nicht unbedingt Liebe sprach und auch keine Ergebenheit, mir kam es eher wie eine Mischung aus Stolz und furchtsamer Scheu vor. Aber was auch immer genau es war, es wirkte aufrichtig, aus Dankbarkeit geboren. Zudem schien er erleichtert. Er hatte es geschafft, er hatte die perfekte Frau gefunden. Nun würde der Spaß losgehen, und später würden sie ihre erste gemeinsame Nacht verbringen, sich sogar zum ersten Mal küssen.
Der Bräutigam hatte Ninas Herz erobert, ohne sich wirklich darum bemüht zu haben. Sie erlag seinem Aussehen, seiner Größe (er war einen Meter achtzig), seiner umgänglichen, zuvorkommenden Art. Es war ein abgekartetes Spiel. Sie haben sich zweimal getroffen und verlobten sich. Das war vor fünf Wochen.
Das Paar stand auf, bereit, sich zu umarmen und die Ringe auszutauschen. Nina senkte den Kopf vor ihrem frischangetrauten Ehemann, der sie aufgeregt wie ein Archäologe betrachtete, der soeben über einen besonders seltenen Fund gestolpert war, den er kaum abwarten konnte zu untersuchen. Innerhalb von Sekunden waren die beiden von einer Traube Gratulanten umringt, die sie herzten, küssten, ihnen die Hände schüttelten, in erster Linie jedoch, um aus der Nähe einen Blick auf die Kette zu erhaschen, die Ninas Eltern ihr geschenkt hatten, und die genaue Anzahl Karat des Diamantrings abzuschätzen, den Ninas Bräutigam ihr auf den schlanken Finger ihrer linken Hand geschoben hatte.
Auch für mich war es an der Zeit, mir den Weg durch die Menge zu dem Paar zu bahnen. Die Gerüche vermischten sich, und ich hatte das Gefühl, mich in einer Wolke aus Schweiß, Kurkuma, Paan-Blättern und Pantene-Haaröl zu bewegen, hier und da glaubte ich auch einen Hauch des einst beliebten Parfüms »Charlie« wahrzunehmen, das jemand fünfzehn Jahre in seinem metallenen Küchenschrank der Marke Godrej aufbewahrt hatte. Ich schüttelte mich kurz, ging dann weiter, und als ich bei den Eheleuten ankam, nahm ich all meine Sympathie und meinen guten Willen zusammen und umarmte sie.
»Du siehst großartig aus, Liebes. Ich freue mich so für dich. Gott schütze dich«, sagte ich und küsste Nina auf die warme, weiche Wange.
»Didi Anju«, flüsterte sie und nahm meine Hand. Ich liebte es, wenn sie mich »Didi« ? große Schwester ? nannte. »Als ich um das Feuer lief und mein Gelöbnis ablegte, habe ich auch für dich gebetet. Du bist die nächste. Ich habe Gott angerufen, und Gott erhört die Gebete einer Braut.«
Die liebenswerte Unschuld ihrer Worte hätte mich fast zum Weinen gebracht, aber Tränen hätten an dieser Stelle als ein Zeichen der Sehnsucht und Trauer...