Schweitzer Fachinformationen
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Keine Frau in meiner Familie übte je einen Beruf aus.
Und keine Frau in meinem ziemlich weitläufigen Clan blätterte meines Wissens jemals Stellenanzeigen durch oder rutschte nervös auf einem Stuhl herum, während eine ihr unbekannte Person sie nach ihrer »bisherigen Tätigkeit« befragte. Was sollte sie auch sagen? Dass ihre primäre Aufgabe darin bestand, zunächst Vater und Brüder zu versorgen und später Ehemann und Söhne?
Also war ich einigermaßen bestürzt, als meine Schwiegermutter mir einen hölzernen Kochlöffel in den Bauch drückte, sich beklagte, weil ich ihr noch keine Enkel geschenkt hatte, und schließlich meinte, ich könne mich ja auf andere Weise nützlich machen und mein Glück in der Arbeitswelt versuchen.
»Das Leben in Amerika ist teuer«, sagte sie und presste den Löffel so fest in meinen Unterleib, dass ich mich glücklich schätzen konnte, kein Kind unter dem Herzen zu tragen. »Wir sind hier nicht in Indien. In diesem Land arbeitet jeder.«
Da war es egal, dass meine Hochzeit nicht lange zurücklag und ich kaum alle Seidensaris und Silberbecher ausgepackt hatte, die zu meiner kleinen, aber achtbaren Aussteuer gehörten. Es zählte auch nicht, dass ich noch dabei war, mich an das Leben in einem fremden Land und mit einem Mann, den ich letztlich nicht kannte, sowie mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester zu gewöhnen. Und genauso wenig interessierte es, dass ich, soweit ich das verstand, in dieser Familie als frisch gebackene Ehefrau und Schwiegertochter Haushälterin, Köchin und Mädchen für alles spielen sollte.
All das hatte ich erwartet.
Aber ich hätte nie gedacht, dass jemand ? ausgerechnet eine überzeugte Hüterin der Tradition wie meine Schwiegermutter ? mir sagen würde, ich solle mir einen Job suchen.
In all den Frauengenerationen meiner Familie würde ich die Erste sein.
Eigentlich hätte ich mich wie eine Pionierin des weiblichen Rechts auf Unabhängigkeit fühlen sollen.
Doch ich hatte Angst.
Ob absichtlich oder zufällig ? meine Eltern hatten meinen Schwestern und mir nie viel von der Welt gezeigt. Ihrer Meinung nach gab es in Indien genug zu sehen und zu erleben; man brauchte das, was jenseits der Grenzen unseres Heimatlandes lag, nicht zu erkunden. Ein wenig lässt sich diese begrenzte Weltsicht vermutlich mit der vieler Amerikaner vergleichen, die ich bald kennen lernen sollte.
Und so empfand ich meine Ankunft im Tom Bradley Terminal des Los Angeles International Airport an einem dunstigen Tag zwei Monate davor als Schock. Den ganzen Flug über hatte ich, obwohl von meiner Hochzeit ein paar Tage zuvor träumend, nur mit Mühe die Sehnsucht nach meiner Familie unterdrückt, von der ich doch gerade erst weggegangen war.
Immer wieder wurde mir gesagt, wie glücklich ich mich schätzen könne, nach Amerika überzusiedeln, und wie viele meiner Landsleute alles dafür geben würden, in ein Land zu gehen, in dem es offenbar möglich war, im Handumdrehen vom einfachen Einwanderer, der in irgendeinem Geschäft arbeitete, zum wohlhabenden Motelinhaber aufzusteigen. Sanjay hatte mir ein Verlobtenvisum besorgt, weil er von unserem ersten Telefonat an überzeugt war, dass ich die Richtige für ihn sei. In Amerika, hatte er mir erklärt, müssten wir uns nur noch standesamtlich trauen lassen.
»Eine schlichte Feier, nichts Großes«, sagte er. »Dann hat alles seine Richtigkeit, und du gehörst zur Familie.«
Jetzt saß ich eingezwängt auf dem mittleren Sitz in einem bis zum letzten Platz gefüllten Flugzeug. Die eine Armlehne hatte mein Mann mit Beschlag belegt, die andere ein kräftiger Sikh mit Turban. Noch vor der Landung fühlte ich mich eingeengt und klein.
Im Terminal war ich dann nicht nur über die Masse der Menschen erstaunt, sondern auch über ihre Verschiedenheit. Das indische Fernsehen hatte mich nicht auf ihre Vielfalt, ihre fremden Hautfarben, Kleidungsstile und Kulturen vorbereitet: die schwarze Frau mit der knallengen Hose und den langen purpurfarbenen Fingernägeln, die meine Einwanderungsunterlagen überprüfte; der kindlich kleine Chinese mit der winzigen Brille, der darauf wartete, dass seine Mutter durch den Zoll käme; der fette Weiße, der seine Kinder anbrüllte, sie sollten ihm aus dem Weg gehen, damit er das Gepäck auf einen immer wieder wegrollenden Wagen hieven könne.
Schon der Flughafen war eine Welt, die ich nicht kannte und deren Teil ich nie werden würde, das wusste ich.
Eine Woche nach unserer Hochzeit in Delhi landeten Sanjay und ich in Los Angeles, wo er seit zwei Jahrzehnten lebte. In den nächsten paar Wochen würden er und ich allein sein, weil meine Schwiegereltern und Sanjays Schwester Malini in Indien geblieben waren, um herumzureisen und vermutlich auch Ausschau nach einem Ehemann für meine Schwägerin zu halten, die gerade zwanzig geworden war.
»Willkommen«, sagte Sanjay, als er die Tür hinter uns schloss. »Dies ist dein neues Zuhause.«
Das Haus lag in einer ruhigen Straße in Northridge, in einem allgemein unter dem Namen »Valley« bekannten Viertel. Das klingt ländlich klein und ein wenig altmodisch, aber tatsächlich ist die Gegend ziemlich weitläufig. Sanjay ließ das Gepäck auf den Boden fallen und bewegte sich in Richtung Couch, während ich stehen blieb und mich umsah.
Immerhin war es ein hübsches Haus, und dafür konnte ich dankbar sein. Eine meiner Freundinnen in Delhi hatte gerade eine arrangierte Ehe mit einem Mann in Chicago geschlossen, aber, als sie mit der Vorfreude einer jungen Braut dort ankam, feststellen müssen, dass er in einer Garage lebte.
Doch hier gab es genügend Platz: einen offenbar selten benutzten großen Wohnraum mit klobigen Möbeln, Marmortischen und Kristalllüster. Dazu ein getrenntes Esszimmer mit einem langen Tisch, hochlehnigen Holzstühlen und einer Vitrine, darin schimmernde Figurinen. In Indien hätte man dieses Haus einen Palast genannt, und mich hätte man beneidet, weil ich darin leben durfte.
»Komm, ich zeig dir mein . ich meine unser Schlafzimmer«, sagte Sanjay und ergriff meine Hand.
Es handelte sich um das Zimmer eines Mannes, der dem Jungenalter noch nicht gänzlich entwachsen war. Ein Durcheinander aus Kleidungsstücken und Zeitungen bedeckte den Boden, ein Fernseher mit riesigem Bildschirm stand in einer Ecke, und Fernbedienungen für eine ganze Reihe anderer Geräte lagen auf dem Tischchen neben dem Bett.
»Toll, was?«, grinste Sanjay.
»Ein bisschen unordentlich«, erwiderte ich.
»Warum sollte ich denn aufräumen, wenn jetzt meine Frau, meine neue biwi, das für mich erledigt?«, meinte er lächelnd.
Ich hatte meine Stimme in seiner Gegenwart noch nie erhoben, deshalb überraschte es mich umso mehr, als ich plötzlich laut wurde.
»Ich bin nicht dein Dienstmädchen!«, rief ich aus und spürte, wie wochenlange Anspannung und Angst meinen erschöpften Körper überwältigten. Ich wusste, dass ich mich wieder in die sanfte, unterwürfige Hindu-Frau der letzten Woche verwandeln sollte, aber dazu war ich einfach zu übermüdet.
»Glaub bloß nicht, dass du mich behandeln kannst wie ein Dorfmädchen, weil ich aus Indien komme und du in Amerika groß geworden bist«, sagte ich verärgert.
Sanjay zuckte zusammen. Offenbar erkannte er die übellaunige Frau vor sich nicht wieder. »Es war ja nur ein Scherz«, meinte er. »Warum führst du dich so auf?«
Ich ging zurück ins Wohnzimmer, wo ich einen Stapel Zeitungen von der Couch auf den Boden schob. Sobald ich saß, kamen mir die Tränen. Ich hatte noch Ohrensausen von der Landung, und meine Lippen waren rissig von der kalten Luft im Flugzeug. Was machte wohl meine Familie zu Hause in Indien? Hatte mein Vater schon seinen morgendlichen chai getrunken? Rügte meine Mutter die dhobi, weil sie wieder einmal eines ihrer Kleider ruiniert hatte? Kämmte Radha ihr langes Haar? Kümmerte Roma sich um den Haushalt? Lag Ria, in ein Buch versunken, auf ihrem Bett? Ich wusste, dass ich mich ? vorausgesetzt, es gab keine unvorhergesehenen Vorfälle oder Feierlichkeiten ? lediglich auf einen Indienbesuch jährlich freuen konnte. Andere Menschen lebten vierzig Minuten oder drei Stunden von ihren Eltern entfernt; ich würde sie ein Jahr lang nicht sehen.
Sanjay setzte sich vorsichtig neben mich aufs Sofa.
»Warum weinst du, Priya? Es war doch nur ein Scherz.«
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Deswegen weine ich nicht. Mir fehlt meine Familie. Ich weiß, dass ich deine Eltern als die meinen sehen soll, aber das kann ich nicht. Das hier ist nicht mein Zuhause. Was, wenn diese Entscheidung ein großer Fehler war und wir sie nicht mehr rückgängig machen können?« Ich wandte mich, immer noch weinend, von ihm ab.
Da spürte ich seine Hand auf meinem Rücken und meinem Haar, und ich hörte seinen Atem. Er schien nicht zu wissen, wie er weiter mit mir umgehen sollte.
»Roh-na«, sagte er schließlich sanft und bat mich noch einmal, nicht zu weinen. »Die Situation ist für uns beide neu. Wir schaffen das schon.«
Rückblickend halte ich das für den Beginn meines Ehelebens.
Zum ersten Mal litt ich unter Jetlag. Er war mir genauso fremd wie die Seekrankheit oder ein Kater. Und er ließ den Glauben in mir wachsen, dass es durchaus etwas für sich hatte, das ganze Leben in einer einzigen Zeitzone zu verbringen. Obwohl ich den Abend und den Schlaf kaum hatte erwarten können, endete die Nacht abrupt, bereits Stunden vor Sonnenaufgang. In diesem Augenblick fühlte ich mich am einsamsten und verletzlichsten, immer noch schockiert über die plötzliche Veränderung meines Lebens.
Später, als auch Sanjay aufwachte, erklärte er mir, wenn er mir...
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