Schweitzer Fachinformationen
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Das Haus meiner Mutter Barbara liegt auf einer kleinen Anhöhe unweit des Dorfzentrums. Es ist von einem dichten Kiefernwald umgeben. Wie stramme Soldaten stehen sechsundsechzig schlanke Bäume mit hohen, grünen Kronen um das Haus herum und beschützen es. Die Einzige, die außer mir durch diesen Wald darf, ist Vulpecula, meine Gefährtin, eine alte Füchsin, die darin ihren Bau hat. Dringt ein anderer Mensch oder ein anderes Tier ein, facht der Wind die Fichten an und sie verscheuchen alles mit gefährlich knarzenden Geräuschen. Verlässt der Eindringling das Terrain nicht freiwillig, lassen die Bäume schwere, morsche Äste und dicke Fichtenzapfen auf ihn fallen. Täglich fahren immer wieder Dorfbewohner und Touristen an diesem Haus vorbei, ohne zu ahnen, was hinter seinen schlammgrauen Mauern passiert. Oder, sagen wir besser, passiert ist.
Meine Mutter sagt, sie habe es überwunden, sodass sie nicht mehr daran denken müsse und auch nicht mehr davon träume. Ich glaube ihr kein Wort. Niemand würde diese Dinge, die hier drin vor sich gegangen sind, einfach vergessen. Wenn ich sie danach frage, winkt sie ab. Dann wechselt sie das Thema, beginnt zu erzählen: von ihrer Kindheit und von dem Weißen Mann, von ihren kindlichen Fantasien. Sie erzählt Geschichten über die Schicksale der Männer, die im Jahr 1645 als Krämer umhergingen und als Hexer verraten, verfolgt, verurteilt und getötet wurden. Wenn sie von Bartlmä Oberkofler, dem Lebenfierer, von Urban Penn, dem Hackprettler, und von Matthäus Perger, dem Lauterfresser, erzählt, dann erhellt sich das Gesicht meiner Mutter. Dann ist sie nicht mehr vierhundert Jahre alt, sondern ein verliebtes junges Mädchen.
Der Frühling 2024 ist besonders kalt. Die Temperaturen in Klobenstein, diesem Örtchen am Ritten auf etwa 1.200 Meter Meereshöhe, schaffen es nicht über die zehn Grad hinaus. Ich lasse das Auto auf dem Parkplatz gegenüber dem großen, alten Haus stehen, überquere die Straße und drücke vorsichtig die Klinke des Gartentors hinunter. Das Scharnier des Tores quietscht, ich wollte es längst ölen, doch ich vergesse es immer wieder. Ein leises Rauschen geht durch den Fichtenwald, die Bäume begrüßen mich, die Füchsin huscht kurz in einiger Entfernung zwischen den Bäumen hindurch, ich kann ihren roten Schweif erkennen.
Ich trage die Einkäufe und den Suppentopf in die Küche, die gleich neben der Eingangstür liegt. Der Herd ist kalt, ich mache Feuer. Das Holz rußt, eine schwarze Schwade schlägt mir entgegen und brennt in den Augen. Bald kommt die knisternde Wärme.
Die Dielen verraten meine Schritte auf den hölzernen Stufen, die nach oben führen. Zwei leere Räume, dann kommt das Schlafzimmer meiner Mutter, in dem sie sich nun schon seit über einem Jahr die meiste Zeit aufhält. Ich betrete es leise, meine Augen müssen sich erst an die Finsternis gewöhnen. Ich erahne Mutter unter den Wolldecken, die sich auf ihrem schmalen Bett türmen. Ihr Körper bildet einen kleinen Hügel.
Ich decke sie vorsichtig auf, ihr langes weißes Haar ist sorgfältig zu einem Zopf gebunden. Der Zopf ist ihr sehr wichtig. Das Haar sei ihr letztes Kapital, sagt sie. Sie hat kein Geld mehr, und wenn sie eines Tages dann stirbt, soll ich den Zopf verkaufen und das Geld behalten. "Was für ein makabres Erbe", sage ich dann immer. Ich werde ihr die Haare jedenfalls nicht abschneiden, sondern Mutter in ihrem Garten beerdigen, damit sie eins mit ihren Bäumen wird. Damit ist sie auch einverstanden, sagt sie, und ich bin froh, dass wir uns in diesem Punkt zumindest einig sind.
"Was hast du mir mitgebracht?", fragt sie. Ihr Blick ist grau und schläfrig.
"Gemüsesuppe. Ich muss sie nur noch aufwärmen", antworte ich.
"Du bist ein gutes Kind", entgegnet sie. Ungeduld brennt in ihrer brüchigen Stimme, sie will mir unbedingt wieder eine Geschichte erzählen, das merke ich. "Wovon soll ich dir erzählen?"
"Vom Lebenfierer", antworte ich und helfe ihr in den Rollstuhl, obwohl ich die Geschichte schon in- und auswendig kenne.
"Mein gutes Kind", wiederholt sie und streichelt vorsichtig den weißen Zopf, zupft ein wenig an ihren Spitzen, so, als wolle sie nachsehen, ob ihr Haar vielleicht ein bisschen gewachsen ist.
"Aber erst, wenn du vorher einen Teller Suppe isst", ergänze ich.
Sie antwortet nicht.
Ich schiebe sie bis an die Treppe, dann trage ich sie in die Küche, in der sich die Wärme des Herdes bereits ein wenig ausgebreitet hat. Ich schütte die Suppe in den gusseisernen Topf, stelle ihn aufs Feuer und rühre vorsichtig um.
*
Die Suppe ist warm, ich schenke ihr ein und sehe zu, wie sie Löffel um Löffel zu sich nimmt. Ich esse auch ein wenig davon, obwohl mir mein Mittagessen noch im Magen liegt. Ein kleines, anerkennendes Lächeln zeigt mir, dass es ihr schmeckt.
Sie isst ihre Suppe auf und legt zufrieden den Löffel neben den Teller.
Es war in Mühlbach im Pustertal, im Frühjahr 1646. Der Lebenfierer war dem Bauern Meinhard noch nie so ganz geheuer gewesen. Dennoch hatte ihn das Mitleid gepackt. Meinhard war aus der Tür herausgetreten, gegen den Rat seiner Frau Anne, um dem Vagabunden mit dem schwarzen Spitzbart einen Kanten Brot und einen Kelch Wein anzubieten.
"Hab Dank, Bauer, der Herrgott wird's dir vergelten, wenn es dann so weit ist", sagte der Herumtreiber mit einem Grinsen und entblößte dabei seine letzten, schwarzen Zähne. "Hast nicht noch ein Gewand übrig? Oder ein gutes Holz? Ich bin Krämer, wie du weißt. Wenn du es mir schenkst, dann will ich dich in mein Nachtgebet einschließen und dich vor den Wettern verschonen. Es wird ja gleich schon wieder ein Unwetter kommen, ich spür es in den Knochen."
"Ich biete dir meinen Wein und mein Brot, und du bettelst weiter? Dass du dich nicht schämst, Lebenfierer", entgegnete der Bauer und wollte ihn schon wieder vom Hofe jagen.
"Was regst dich denn so auf, Bauer, du bist schließlich kein Armer. Ich muss mich da durchschlagen. Pfui, soll dich und dein Weib doch ." Er beendete den Satz nicht, sondern nahm seinen Hut ab, der einst weiß gewesen sein musste. Sein dreckiges, spärlich von schwarzen Haaren bedecktes Haupt kam zum Vorschein. Dann lächelte er schief, ganz so, als wolle er dem Hausherrn plötzlich doch lieber schmeicheln. "Sag, Bauer, kann ich diese Nacht im Stadel bei deinem Vieh verbringen?"
"Solang du mich mit deinen Betteleien verschonst, mach's dir ruhig im Stroh bequem. Aber morgen in der Früh bist du weg, Lebenfierer, sonst komm ich mit dem Gewehr und zeig dir den Weg!"
Der Lebenfierer hob beschwichtigend die Hand, an seinen Armen klapperten allerlei selbst gemachte Schmuckstücke, die er den Menschen feilbot, sobald sie ihm über den Weg liefen. Dann verbeugte er sich vor dem Bauern und beschwichtigte: "Ist schon gut, im Morgengrauen will ich sowieso weiterziehen."
"Dass du dich überhaupt noch hier herumtreibst", meinte der Bauer dann, während er den Stadel öffnete. "Angezeigt hat man dich, das macht schon lang hier die Runde. Wär ich du, würde ich schnellstens das Weite suchen."
"Ach", winkte der Lebenfierer ab, "alles nur Gerüchte. Ich habe meinen Bruder geschickt, sich umzuhören und mir dann Bericht zu erstatten. Er hat mir gesagt, dass mein Name nicht bekannt sei. Und wo soll ich denn hin? Meine Heimat ist hier. Und nun dank ich dir, Bauer, ich werd mein Lager da hinten bei den Kälbern aufschlagen. Wenn es sie bläht, wird's fein warm drumherum." Der Lebenfierer lachte scheppernd und schlug dem Bauern zum Dank auf die rechte Schulter. Dann nahm er seinen löchrigen Sack, ging in den Stadel und legte sich ins Stroh.
Der Bauer verließ den Stadel, ohne ihm eine angenehme Ruhe zu wünschen. Kein Wort glaubte er ihm, was wusste dieser schon? Und was war ihm selbst überhaupt in den Sinn gekommen, den Hexenmeister auch noch bei sich aufzunehmen? Er sah sich selbst schon in der Zelle schmoren, auf den Schragen gebunden, die Fragen des Mühlbacher Gerichts mit gequältem Gesicht beantwortend. Er stellte sich vor, wie seine Frau, vom Lebenfierer der Hexerei denunziert, auf dem Scheiterhaufen lichterloh brannte.
Schon wollte er umkehren und den Lebenfierer doch noch aus dem Stadel treiben, da hörte er das leise Schnarchen. Nun, sollte er eben die Nacht hier verbringen, er würde ihn schon nicht verraten, schließlich hatte er, Meinhard, ihm ja auch Unterschlupf, Wein und Brot gegeben. Es würde schon alles gut gehen, dachte der Bauer und sah in den Himmel hinauf. Der Himmel war strahlend blau. Warum der Lebenfierer behauptet hatte, ein Unwetter zu spüren, verstand er nicht.
Später, die Nacht war schon hereingebrochen, beschloss Meinhards Frau Anne, im Stadel noch einmal nach dem Rechten zu sehen. Ihr Mann war bereits schlafen gegangen, müde von der vielen Arbeit, die er tagsüber verrichtet hatte. Sie zündete die Kerze an, schlüpfte in die filzenen Schuhe und näherte sich langsam dem Stadl, wo das Vieh und der Lebenfierer die Nacht verbrachten.
Durch eine Ritze im Holztor erkannte sie das Flackern, der Lebenfierer hatte wohl eine Kerze angezündet. Er war wach, sie hörte drinnen Stimmen. Hatte dieser Lump etwa noch jemanden in den Stadel gelassen? Nein, da war nur die eine Stimme. Was...
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