Die Mord-Clique
Alicia blieb stehen und bekam es plötzlich mit der Angst zu tun, obwohl sie die unregelmäßigen Schritte kannte.
So ging nur einer: Caspar Richberger, der Blinde. Er zog das linke Bein nach. Im Haus verzichtete er meist auf seinen Stock, so auch jetzt, denn das harte Aufschlagen des Stockendes vernahm Alicia nicht zwischen den Schritten.
Alicia hatte die Schritte schon oft gehört, überhaupt erkannte sie alle sechs Bewohner des Hauses an ihren Schritten. Diesmal aber empfand sie das Geräusch als störend, wenn nicht als beängstigend. Es hallte durch die verschwommene Düsternis des Flurs. Niemand hatte das Licht eingeschaltet. - Draußen regnete es. Ein kühler, grauer Sommertag neigte sich seinem Ende entgegen. Längst hatte die Dämmerung ihren Schleier über das Land gelegt, in wenigen Minuten würde es finster sein, und dieses Zwielicht störte Alicia irgendwie .
Den Grund konnte sie selbst nicht sagen. Es war mehr das Gefühl. Alicia bezeichnete sich als sensibel. Sie arbeitete gern mit Menschen zusammen, kam auch mit den drei Ehepaaren ausgezeichnet zurecht und wurde von ihnen trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre voll akzeptiert.
Sie wusste selbst nicht, was sie zu diesen Schritten sagen sollte. Eigentlich hätte sie dem Blinden entgegenlaufen müssen, um ihn die Stufen der Treppe hochzuführen. Er nahm nie den alten Gitteraufzug, eine Marotte von ihm.
Doch Alicia blieb stehen. Sie hielt sich vor einer offenen Nebentür auf, die in die große Küche führte, wo die Mahlzeiten zubereitet wurden. Die Köchin hatte schon längst Feierabend. Wer jetzt noch etwas essen wollte, bediente sich selbst.
Die Schritte des blinden Mr. Richberger näherten sich der Treppe. Ja, er würde nach oben in seine Wohnung gehen, wo Diana, seine Frau, bestimmt schon sorgenvoll auf ihn wartete.
Auch hörte sie ihn atmen. Es war mehr ein Stöhnen. Mr. Richberger war kurzatmig, an seiner Stelle wäre Alicia nicht die Treppe hochgegangen und hätte den Lift benutzt.
Richberger gehörte zu den starrsinnigen Typen. Er musste seinen Weg gehen und ließ sich durch nichts und niemand davon abbringen. Wie leicht konnte er in der Dunkelheit stolpern und sich bei dem Sturz etwas brechen.
Nein, das durfte Alicia nicht zulassen. Als sie sich entschlossen hatte, das Licht einzuschalten, da befand sich Mr. Richberger bereits auf der Treppe.
Auch dort besaß er seinen typischen Gang. Immer sehr langsam und tastend. Wenn er sich am Geländer festhielt, setzte er auch gleichzeitig einen Fuß hart auf. Dieses Geräusch und sein Nachgreifen mit den Fingern am Handlauf waren synchron.
Alicia ließ ihn drei Stufen gehen. Erst dann löste sie sich aus ihrer lauschenden Haltung und lief zum Lichtschalter.
Es war ein altes Haus mit großzügig angelegten Fluren und Räumen. Hinter der Eingangstür begann eine kleine Halle. Sogar zwei Säulen stützten hier die Decke, von der als Lampe ein großer Kronleuchter herabhing. Der strahlte plötzlich auf. Das Licht der Lampen brach sich in den gläsernen Tropfen, die von den Armen des Kronleuchters herabhingen. Die Diele wurde bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, aber auch die breiten Stufen der nach oben führenden Treppe wurden von dem Licht überflutet.
Caspar Richberger stand schon auf der vierten Stufe. Er hielt sich nicht am Geländer fest, sondern hatte sich in die Nähe der Wand gedrückt, wo die Stufen etwas breiter waren.
Das sah Alicia erst, als sie sich der Treppe bis auf eine bestimmte Distanz genähert hatte. Verwundert blieb sie an deren Fuß stehen und schaute gegen den Rücken des Blinden, der seinen rechten Fuß wieder anhob und die nächste Stufe betrat.
Alicia wollte ihn ansprechen und hatte den Mund bereits geöffnet, als sie etwas sah.
Auf dem hellen Holz der Stufen erkannte sie dunkle Flecken. Die Flüssigkeit war nach unten geklatscht und hatte sich beim Aufprall sternförmig verteilt.
Dunkle Flüssigkeit - rot aussehend. Das konnte nur eines bedeuten, und Alicia wusste auch sofort Bescheid.
Blut!
Ihre rechte Hand fuhr hoch, sie presste den Handballen gegen die Lippen und schaute auf den Rücken des Blinden. Der hatte sie nicht gehört, er ging weiter, und es tropfte auch auf die nächste Stufe, die er betrat. Das Mädchen hörte das Aufklatschen. Sie sah, wie der Tropfen zerplatzte und löste die Hand von den Lippen. Langsam sank der Arm nach unten. Scharf musste sie Luft holen, bevor sie den Blinden dann überhaupt ansprechen konnte. »Mr. Richberger, Sie bluten ja!«
Der Blinde blieb stehen, kaum dass Alicia seinen Namen aussprach. Er sah so aus, als würde er den Worten lauschen, um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich eine bekannte Stimme gewesen war, die ihn da angesprochen hatte.
»Mr. Richberger, Sie .«
»Was ist, mein Kind?« Er sprang die restlichen Stufen hoch.
»Sie bluten.«
»Ach, wirklich?« Richberger trug wie immer einen dunkelbraunen Mantel, seinen Hut und ein weißes Hemd. Man sah ihn nur selten im Anzug nach draußen gehen.
»Ja.«
Der Blinde begann zu lachen. Erst leise, dann immer lauter, und Alicia bekam eine Gänsehaut. »Sie können doch sehen, Mädchen, nicht wahr?«, fragte er, als das Lachen abbrach. »Sie sind nicht so blind wie ich.«
»Ja, das schon.«
»Dann müssten Sie erkennen, dass nicht ich es bin, der hier blutet. Wirklich nicht.«
»Wer ist es dann?«
»Er!«
Nach diesem Wort drehte sich Richberger um. Sogar ziemlich schnell für einen Blinden. Sein Mantel war nicht zugeknöpft. Er klappte ihn sogar mit der freien Hand an einer Seite auf.
Alicia konnte erkennen, was er darunter verborgen hatte.
Es war ein kleiner Mensch, ein Liliputaner, und der war tot. Das Blut sickerte aus seiner Brustwunde .
*
Alicia wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie stand da, hatte die Augen weit aufgerissen, spürte die Kälte von den Zehenspitzen bis in den Kopf hochschießen und merkte, dass sie von einer Hitzewelle abgelöst wurde, die genau umgekehrt lief.
»Blute ich?«, vernahm sie die Stimme des Blinden.
Sie sagte nichts. Kalkweiß war Alicia geworden. Sie schwankte, drückte sich zur Seite und bekam den Handlauf des Geländers zu fassen, sodass sie sich an ihm abstützen konnte. Gleichzeitig erfasste sie der große Schwindel. Die Treppe, der Blinde, auch der Tote, das alles drehte sich vor ihren Augen, wobei ihr zusätzlich noch übel wurde und sie die Übelkeit durch tiefes Einatmen kaum unterdrücken konnte.
Erst als der Blinde sie zum zweiten Mal angesprochen hatte, wurde ihr bewusst, dass sie gemeint war. »Also, Alicia, Sie machen sich unnötige Sorgen. Ich blute wirklich nicht.«
»Ja, das habe ich . das habe ich jetzt gesehen.«
»Wie schön.«
»Aber .«
»Was ist denn mit aber?«
»Der Tote, den Sie halten.« Ihr Arm schwenkte hoch. Den Zeigefinger hatte sie ausgestreckt, um auf die Leiche zu deuten. »Er ist doch tot - oder nicht?«
»Natürlich ist er tot.«
»Und Sie haben ihn .?«
Caspar Richberger lachte. »Ja, ich habe ihn, wenn du das meinst. Aber ich habe ihn nicht allein, verstehst du?«
»Das hat er wirklich nicht!«
Alicia schrak zusammen, als sie hinter sich die Frauenstimme vernahm. Auch ohne sich umzudrehen, wusste sie sofort, wer sich in ihrem Rücken angeschlichen hatte.
Diana Richberger, die Frau des Blinden. Woher sie gekommen war, hatte Alicia nicht sehen können, jedenfalls stand sie hinter ihr, und das Mädchen roch sie. Die Kleidung der Frau stank immer nach Mottenpulver. Dieser Geruch wollte einfach nicht weichen.
Alicia war hin- und hergerissen. Sie wusste nicht, wie sie sich jetzt verhalten sollte. Umdrehen und Alicia anstarren oder sie einfach ignorieren?
Hier war etwas Schreckliches in Szene gesetzt worden. Es hatte einen Mord gegeben, die Polizei musste alarmiert werden und den Fall aufklären, aber das ging wohl so rasch nicht.
Die Gedanken schlugen in ihrem Kopf Purzelbäume. Alicia war überfordert. Flüsternd wurde sie von Diana Richberger angesprochen.
»Möchtest du dich nicht umdrehen, mein Kind?«
»Wieso - ich werde jetzt telefonieren und .«
»Tatsächlich?«
Allein der Klang dieser Stimme peitschte ein Furchtgefühl in Alicia hoch. Diana Richberger wusste genau, was sie da sagte, und das Mädchen konnte einfach nicht anders, als dem Befehl der alten Frau nachzukommen.
Auch Diana sah aus wie immer. Sie trug ein violettes Kleid mit einem breiten schärpenartigen Kragen. Die Frisur saß perfekt. Der Friseur hatte die grauen Haare etwas heller gefärbt und sie gelockt. Grau wie das Haar waren auch die Augen in dem etwas hageren Gesicht mit den beiden Nasenfalten, die bis zum Kinn reichten und den schmalen Mund wie zwei Striche einrahmten.
Ja, sie sah aus wie immer.
Nur etwas störte.
In der rechten Hand hielt Diana Richberger ein machetenartiges und schon waffenscheinpflichtiges Messer. Sie bewegte die Klinge leicht hin und her, sodass sie vom Licht gestreift wurde und sonderbare Reflexe warf.
Alicia sah nur...