Der Blutjäger
»Ricky, verdammt, halte mich fest!« Alex Faust brüllte es seinem Partner zu und merkte gleichzeitig, dass unter seinem rechten Fuß das Gestein nachgab. Mit dem linken hing er schon über dem Abgrund, gehalten wurde er von einem Seil, das Ricky Schneider, hoch über ihm stehend, hielt.
Alex'Schrei war zu einem hundertfachen Echo geworden, das von den Wänden der domartigen Höhle widerhallte.
In diesen Laut hallte Rickys Frage. »Kannst du noch?«
»Kaum.«
»Versuche alles.«
»Ja, verflucht!« Alex biss die Zähne zusammen. Er suchte mit dem linken Fuß Halt, er hing im Seil, über sich hatte er die Haken in den Fels geschlagen. Durch die Ösen wurde das Seil geführt, aber auch dort hörte er es knirschen .
Alles gab allmählich nach.
Und wieder trat er ins Leere. Dann brach plötzlich der Fels unter dem rechten Fuß. Alex Faust sackte in die Tiefe, genauer gesagt, ins Seil, das ihn hielt. So pendelte er vor der senkrecht nach unten führenden Felswand und sah den Lichtkreis über das Gestein tanzen. Die Lampe befand sich in seinem gelben Schutzhelm.
»Willst du oder kannst du weitermachen, Alex?«, wollte sein Freund wissen.
»Es geht nicht. Der Fels ist nicht hart genug. - Wir müssen es an einer anderen Stelle versuchen.« Er hatte bei der Antwort den Kopf in den Nacken gelegt, um in die Höhe zu schauen. Seinen Freund Ricky sah er nicht. Nur den hellen Punkt der Helmlampe.
»Dann ziehe ich dich hoch.«
»Ja, aber vorsichtig.«
»Wird gemacht!«, rief Ricky Schneider.
Die beiden jungen Männer waren nicht zum ersten Mal unterwegs im Höhlenlabyrinth der Schwäbischen Alb. Sie waren Hobby-Forscher, interessierten sich für die Urzeit und für Dinge, die dort entstanden waren. Man konnte als Fachmann aus dem Gestein einiges herauslesen, und auf ihre Funde waren die beiden besonders stolz.
An dieser Stelle allerdings konnten sie nicht weiterklettern. Sie wussten auch nicht genau, wie tief die Höhle war, nur eines stand fest. Auf ihrem Grund befand sich Wasser.
»Du kannst jetzt ziehen!«, schrie Alex.
»Und die Sicherungen?«
»Werden hoffentlich halten!«
»Ja, ich drücke dir die Daumen. Versuche nur, dich irgendwann abzustützen.«
»Klar.«
Alex Faust wusste, dass er sich auf seinen Freund Ricky verlassen konnte. Bei diesem Hobby musste man das einfach. Sie waren beide keine Anfänger und hatten schon zahlreiche Höhlen im In- und Ausland durchforscht. Aber die deutschen Höhlen waren für sie immer noch am interessantesten.
Alex spürte, wie sich das Seil straffte, als sein Partner daran zog. Er selbst bewegte sich nicht. Nur seinen eigenen keuchenden Atem vernahm er und das leise Knirschen.
Rutschte ein Haken aus dem Fels?
Er hatte sich die Frage kaum gestellt, als es geschah. Das Knirschen nahm an Lautstärke zu, etwas rieselte auf seinen Kopf. Staub und kleinere Steine, dann plötzlich sackte er durch.
Alex konnte nicht anders, er musste einfach schreien. Die Wucht trieb ihn nicht nur in die Tiefe, ein Drall schleuderte ihn gleichzeitig nach vorn, gegen den Fels, und er hatte keine Chance, sich abzustützen.
Alex spürte den Schmerz. Sein Gesicht stand in Flammen. Das scharfe Gestein hatte die Haut an seiner rechten Wange aufgeschlitzt. Blut strömte hervor, und das nicht allein aus dieser Wunde. Ein scharfer Gesteinssplitter hatte seine linke Hand aufgeschnitten, weil der Handschuh verrutscht gewesen war.
»Was ist denn, Alex?« Ricky war besorgt. Er hatte das Durchsacken natürlich auch bemerkt.
Alex gab keine Antwort. Er schwebte zwischen Wachsein und Ohnmacht. Aus der Wunde quoll das Blut, rann an seinem Gesicht entlang und sammelte sich seitlich des Kinns, von wo es in dicken Tropfen in die Tiefe fiel. Die beiden Männer hörten es nicht aufklatschen, das Blut schien irgendwo aufgefangen zu werden.
Niemand wusste, was dort unten in der Tiefe lauerte, aber es war etwas, das nur darauf wartete, menschliches Blut zu bekommen. Die Tropfen klatschten in einen gewaltigen, versteinerten Rachen .
*
Die beiden Männer schafften es. Alex Faust konnte seine ersten Schmerzen überwinden und erwachte aus seiner Lethargie auf dem Weg in die rettende Höhe.
Der Pfad war nur schmal. Er reichte aus, um den beiden Männern Platz zu bieten. Ricky Schneider zog seinen Freund und Partner in die Höhe und half ihm auch, über die Kante auf den schmalen Pfad zu klettern, wo sich beide auf den Boden legten und sich zunächst einmal ausruhten. Sie atmeten heftig und keuchend.
»Alles klar?«, fragte Ricky.
»Nein, mein Kopf.«
»Den kriegen wir wieder hin. Ich lege dir einen Notverband an, dann verschwinden wir.«
»Ist gut.«
Ricky Schneider arbeitete schnell und geschickt. Keiner dachte mehr an die Tiefe, die sie hatten erkunden wollen, aber dort unten tat sich etwas.
Es war Leben entstanden .
Unheimliches, furchtbares Leben. Etwas, das lange tot gewesen war, hatte Blut zu trinken bekommen. Ein immenser Schatten, ein Unheil, das sich bewegen konnte.
Davon ahnten die beiden Freunde nichts. Ricky Schneider hatte Alex inzwischen verarztet. Sie konnten aufbrechen. Bis zum Ausgang war es nicht weit, das würden sie immer schaffen.
Trotzdem musste Alex gestützt werden, die Schwäche hatte sich in seinem gesamten Körper ausgebreitet. Mit zitternden Beinen bewegte er sich neben seinem Freund her. Es wurde noch einmal schwierig, als sie den Schacht hochkletterten, um ins Freie zu gelangen. Aber auch das brachten sie hinter sich.
Die Sonne ging bereits unter. Sie stand als blutroter Ball am Himmel. Alex schaute hinein. Dabei lachte er. »Dass ich sie noch einmal wiedersehen würde, daran hätte ich nicht gedacht.«
Schneider schlug ihm auf die Schulter. »So schnell stirbt man nicht, mein Junge.«
»Na, ich weiß nicht.«
»Komm, wir fahren in den Ort und nehmen einen zur Brust, wenn dich der Arzt untersucht hat. Das haben wir verdient - oder?«
»Und wie.«
Diesen Vorsatz setzten die beiden Höhlenforscher auch in die Tat um. Dabei ahnten sie nicht, dass sie durch ihr Verhalten etwas in Gang gesetzt hatten, das wie eine Lawine anrollen sollte.
Blut auf Stein. Leben zu toter Materie.
So hatte es ausgesehen. Doch manchmal irrten sich die Experten. Da konnte aus dem Tod Leben entstehen. Ein Leben, das nur in der Nacht existierte, aber doppelt so schrecklich war.
Und als die Dunkelheit sich über das Land gelegt hatte, drang es aus den Tiefen der Höhle an die Oberfläche, wo es wie ein monströser Schatten in den tintigblauen Himmel stieg, schrille, hohe Schreie ausstieß und davonflog.
Der Blutjäger war erwacht .
*
Eva Leitner stoppte ihren Polo auf der Anhöhe und stieg aus. Es war windig wie immer, still wie immer, der Himmel sah aus wie immer, eigentlich war alles so wie immer.
Nur bei Eva nicht. Denn seit vier Jahren kam sie zum ersten Mal wieder zurück in ihren Heimatort. Sie presste den Staubmantel enger gegen ihren Körper, weil der Wind böig geworden war und das braunrote Haar in die Höhe wirbelt. Auf ihr Gesicht legte sich eine Gänsehaut. Eva fror plötzlich, dennoch wollte sie nicht kneifen und das tun, was sie sich vorgenommen hatte.
Die alte Bank stand dort auch noch am Wegrand. Eva ließ sich auf der grüngestrichenen Sitzfläche nieder und schaute auf den kleinen, in einer Talmulde liegenden Ort.
In den letzten vier Jahren hatte sich dort einiges getan. Eine neue, breitere Straße war entstanden. Am Südhang sah sie eine Reihe von Einfamilienhäusern. Westlich davon befand sich eine große Baugrube. Dort würden weitere Häuser entstehen. Da hatten die Bauern sicherlich einiges an Land verkaufen können.
Der Kirchturm reckte sich in der Dorfmitte gen Himmel. Er lief spitz zu. Auf ihm hockte ein Wetterhahn, der bisher allen Stürmen auf der Alb getrotzt hatte. Die Äcker sahen braun aus, saftgrün leuchteten die Wiesen. Auf einigen von ihnen blühten kleine Blumen und gaben ein buntes Muster.
Auch der Wald zeigte ein frisches Grün. Besonders die Blätter der Birken schickten einen Maigruß zu der einsam sitzenden, fünfundzwanzigjährigen Frau hinüber.
Eva zündete sich eine Zigarette an, rauchte und dachte nach. So schön es aussah, so geregelt das Leben hier ablief, das war nicht mehr ihre Welt. Sie hatte den Ort vor vier Jahren verlassen und war ins Ausland gegangen. London hatte gelockt. Was sie dort tat und wie sie ihr Geld verdiente, wusste keiner der Verwandten. Sie glaubten, dass Eva Leitner einen Posten im Ministerium innehatte.
Die Wahrheit würde sie niemandem sagen.
Ihr Blick verschleierte sich, als sie den Friedhof sah, der mit seiner Ostseite an das Gelände der Kirche grenzte.
Dort war ihr Ziel.
Sie schaute auf die Uhr. Die Beerdigung ihrer Schwester sollte erst am frühen...