Freitag - Mordtag
Das Rollo hing so vor der Fensterscheibe, dass noch Tageslicht durch die offenen Lücken sickern und sich auf dem Boden des Zimmers ausbreiten konnte. In seinen Ausläufern erreichte das Licht einen Gegenstand, den man nie in diesem Raum vermutet hätte.
Es war ein Sarg!
Pechschwarz, glänzend lackiert, so stand er einen Spalt offen in der Mitte des Zimmers, das ansonsten keinerlei Einrichtungsgegenstände aufwies.
Beim ersten Hinhören war nichts zu vernehmen. Wer jedoch genauer lauschte, hätte sicherlich nach einer Weile die Atemzüge vernommen, die aus der Totenkiste drangen.
In ihr lag jemand.
Und der schlief!
Es war ein tiefer Schlaf, davon zeugten auch die ruhigen Atemzüge der Person. Derjenige, der sich dieses seltsame Lager ausgesucht hatte, schien vollauf mit ihm zufrieden zu sein.
Es verging Zeit. Die Sonne wanderte höher, ihre Bahn veränderte sich und damit auch die Form der in das Zimmer fallenden hellen Streifen. Sie wurden schräger und länger und wanderten die Wand hoch.
Dort hing etwas.
Es war ein Kalender mit ziemlich großem Blatt. Er befand sich neben der Tür und zeigte die 13. Es war Freitag.
Eine magische Zahl, ein Zeichen des Aberglaubens, eine Ziffer der Angst!
Als das Sonnenlicht auf das Blatt fiel, schien die Zahl aufzuleuchten, obwohl die schwarzen Zeichen auf weißem Untergrund standen.
Nur der obere Teil des Kalenderblatts lag im Schatten, der andere empfing den Hauch des Sonnenlichts. Als wäre dies eine Initialzündung gewesen, so tat sich etwas in dem Zimmer.
Die Person im Sarg bewegte sich.
Zunächst war nur mehr ein Schaben zu hören, dann ein tiefer, beinahe stöhnender Atemzug, dem ein Schnarchgeräusch folgte und danach ein lautes Gähnen.
Nur recken oder strecken konnte sich der eben Erwachte nicht, dazu war sein »Bett« viel zu eng.
Dennoch stand er auf.
Er drückte seine Handflächen von innen her gegen den Deckel und schob ihn langsam auf das Fußende zu. Die beiden Teile schabten übereinander, und als der Deckel zur Hälfte das Unterteil freigegeben hatte, richtete sich der Schläfer auf.
Es war ein Mann. Sein Alter konnte zwischen 40 und 50 liegen. Die Haare zeigten bereits einen grauen Hauch und lagen wirr auf seinem Kopf.
Für einen Moment blieb der Mann im Sarg sitzen. Er blinzelte, schüttelte den Kopf und schaute dorthin, wo das Licht in Streifen durch das Fenster fiel.
Tief atmete er durch. Dann winkelte er seinen linken Arm an und schaute auf die Uhr.
Es war bereits hoher Morgen. Die meisten Menschen waren um diese Zeit schon aufgestanden. Nur wenigen erging es so wie ihm. Der Mann legte seine Hände auf die Sargränder und stemmte sich in die Höhe. Dabei gähnte er noch einmal ausgiebig und stieg aus seinem »Bett«. Sofort fiel sein Blick nach rechts, denn dort lag sein dunkelroter Morgenmantel, den er immer überstreifte, wenn er ins Bad ging. Er bückte sich, hob den Mantel hoch, legte ihn über die Schulter und ging zum Fenster, um das Rollo noch höher zu ziehen.
Auf der Hälfte hielt er es an. Jetzt strömte das helle Licht in den Raum und leuchtete ihn aus.
Auch der Sarg wurde erfasst. Der Mann schaute noch einmal hinein und damit auf sein dunkelrotes Kopfkissen, das wie ein zu Eis erstarrter, quadratischer Blutfleck wirkte.
Eine Decke nahm er nie. Er wollte es nur unter dem Kopf ein wenig bequemer haben, deshalb das Kissen.
Er zog die dünnen Latschen an, ging zur Tür, öffnete sie und verließ den Schlafraum. Er betrat eine rechteckige kleine Diele und wandte sich dort der linken Tür zu, hinter der das Bad lag. Ein Fenster besaß es nicht, deshalb musste der Mann Licht machen, um überhaupt etwas sehen zu können.
Die Wände waren mit einfacher Ölfarbe bestrichen worden. Zudem roch es muffig und feucht. Der Spiegel zeigte noch den Beschlag vom Abend, auch der Kran hätte mal geputzt werden müssen. Das waren Kleinigkeiten, die den Mieter nicht kümmerten.
Dicht vor dem Waschbecken blieb er stehen und beugte sich nach vorn. Ein müdes Gesicht sah er innerhalb des Spiegels. Zahlreiche Falten hatten ein Muster in die Haut gegraben. Unter den Augen lagen Ränder, die allmählich zu Tränensäcken wurden.
»Frank Boysen«, murmelte der Mann. »Verdammt noch mal, du siehst nicht mehr gut aus.« Da ihm ein anderer nach dieser Feststellung keine Antwort geben konnte, nickte er sich selbst zu, um seine Meinung zu bestätigen. Nein, er hatte schon einmal besser ausgesehen. Das lag lange zurück. Vielleicht war das Leben am Theater auch nichts mehr für ihn. Das Durchwachen fast ganzer Nächte, die langen Proben, die kaum weniger langen Vorstellungen, das Aufräumen der Requisiten, das alles war für einen Mann kein Leben mehr.
»Scheiß Job«, murmelte er und drehte den Wasserkran auf. Viel Druck saß nicht mehr dahinter, aber das Wasser war kalt, als Boysen sich das Gesicht wusch. Er schüttelte sich, und auch beim Putzen der Zähne zog er ein Gesicht, als wäre ihm alles zuwider.
Nach dem Waschen drehte er sich um, schaute einen Hocker an, auf dem die Kleidung vom gestrigen Abend ihren Platz gefunden hatte. Er hatte sie auch schon zwei Tage zuvor getragen. Wäre er verheiratet gewesen, hätte es die Frau nicht zugelassen, dass er das Hemd zum dritten Mal überstreifte. Ihm machte so etwas nichts aus. Die Chancen, die er bei den Frauen hatte, konnte er nicht einmal an einer Hand abzählen. Auf der hohen Heizkörper-Rippe lag sein Kamm. Ein paarmal strich er durch die Haare und feuchtete sie dabei mit Wasser an, damit sie besser lagen. Hemd und Hose hatte er angezogen, und er schlüpfte auch in die schwarzen Slipper, die schon ziemlich ausgetreten waren. Ohne es eigentlich zu wollen, streifte Boysen seinen Bademantel wieder über und verließ das Bad mit den gleichen schlurfenden Schritten, mit denen er auch gekommen war.
Dann ging er wieder ins Schlafzimmer. Oder Sargzimmer, wie er stets behauptete.
Im ersten Moment blendete ihn die Lichtfülle. So blinzelte er ein paar Mal, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Er wollte schon weitergehen, als sein Blick nach links fiel und er das Kalenderblatt sah.
Schlagartig wich alle Farbe aus seinem Gesicht.
Freitag, der 13!
Freitag - Mordtag!
Frank Boysen stand wie eine Eins. Er schien in diesem Moment eine Zinnfigur zu sein, aber kein Mensch mehr. Sein Blick war starr auf das Kalenderblatt gerichtet, und er erinnerte sich daran, dass er das Blatt vom vorigen Tag nicht abgerissen hatte.
Dennoch zeigte der Kalender ein anderes Datum.
Frank Boysen schaute zu Boden. Dort, direkt an der Fußleiste, entdeckte er das Blatt vom vorherigen Tag. Es war vom Kalender abgerissen worden und nach unten geflattert.
Von allein?
Daran wollte er nicht glauben, aber er wusste, dass er diesen Tag als Mensch nicht mehr überleben würde. Wartete der Killer vielleicht schon im Haus?
Als Boysen sich bückte, fiel es ihm schwer, sich unter Kontrolle zu halten, denn er merkte genau, wie sehr er zitterte. Mit den Fingerspitzen hob er das herabgefallene Blatt auf, knüllte es zusammen und spürte plötzlich ein seltsames Knistern zwischen seinen Fingern.
Sofort öffnete er die Faust!
Das Blatt sah er nicht mehr. Dafür etwas anderes.
Schwarzer, ölig glänzender Russ. Das Papier war in seiner Hand verbrannt, als er es zusammendrückte. Jetzt hielt er nur mehr die Reste fest.
Tief atmete er durch. Frank Boysen hatte das Zeichen genau verstanden. Schon seit Jahren wusste er, dass er an einem Freitag, dem 13., sterben sollte. Zahlreiche Freitage waren mit dieser Zahl ins Land gegangen, nichts hatte sich getan. Jedesmal war über Frank Boysen das große Zittern gekommen, und jetzt konnte er nicht mehr zurück. Es war soweit. Das Schicksal hatte ihn eingeholt. Daran gab es nichts mehr zu rütteln.
Vielleicht wäre ein anderer in Panik ausgebrochen und hätte fluchtartig Wohnung und Haus verlassen. Nicht so Frank Boysen. Er blieb ruhig stehen und atmete zunächst tief durch, während er sich mit dem gekrümmten Zeigefinger seiner rechten Hand den Schweiß von der Stirn wischte. Auch fühlte er im Magen ein drückendes Gefühl. Es war keine gute Sache, zu wissen, dass man den Abend nicht erlebte. Dabei stellte er sich die Frage, wie man ihn wohl killen wollte.
Mit diesen Gedanken im Kopf näherte sich Boysen dem Fenster und warf einen Blick nach draußen.
Zwar schien die Sonne, doch auch sie schaffte es kaum, die »Hinterhof-Idylle« zu verschönern. Die grauen, schmutzigen Rückseiten der Häuser nahmen allen Gewächsen das Leben. Der Boden unten war staubig, und Pflastersteine gab es überhaupt nicht mehr. Die hatten den Jugendbanden aus der Gegend als Wurfgeschosse gedient.
Die Wäsche, die unten auf einer Leine hing, bewegte sich kaum, weil so gut wie kein Wind in das enge Geviert hineinwehte. Einige Kinder hielten sich auch im Hof auf, und gegenüber hockte auf einer vor der Hauswand stehenden alten Bank ein Mann. Boysen wusste, dass der Knabe arbeitslos...